Mittwoch, 20. September 2006

Wollen wir einen kastrierten Papst?

Die Rede, die Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 in Regenburg hielt, hat bei vielen Menschen große Aufregung verursacht, und es lohnt, sich diese Aufregung und auch die Rede, die zu ihr geführt hat, genauer anzusehen.
Erst einmal zu der Aufregung, die diese Rede verursacht hat: In der islamischen Welt wurden ihm Beleidigung und böswillige Unterstellung, in der westlichen Provokation und mangelnde Sensibilität vorgeworfen.

Bevor ich näher auf die Rede eingehe, muß erwähnt werden, welches die Umstände waren, innerhalb derer diese Rede gehalten wurde: Er hielt sie bei einem Treffen mit Wissenschaftlern aus der Universität, auf der er früher selbst einmal lehrte. Es war also eine Rede eines Wissenschaftlers an Wissenschaftler. (Einschätzung des Islamwissenschaftlers Adel Theodor Khoury im Deutschland Radio) Es war gewiß keine Rede, die er bei einem Gottesdienst vor tausenden von Gläubigen gehalten hätte. In seiner Rede stellt er die Frage, ob es vernünftig ist, mit Vernunft nach Gott zu fragen. Er stellt diese Frage, um einen Aspekt des Unterschiedes zwischen Islam und Christentum herauszustellen, nämlich den unterschiedlichen Stellenwert der Vernunft in der Beziehung des Christen und des Mohammedaners zu Gott. Er läßt den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos sagen: „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“ [Quelle: Karl Förstel (Hg.): Manuel II. Palaiologos, Dialoge mit einem Muslim (griechischer Text mit Übersetzung und Kommentar).] Dies nennt er den Griechischen Standpunkt. Und stellt die mohammedanische Sichtweise gegenüber: „Gott [ist] absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit.“ Dafür zitiert er Khoury (Interview mit Adel Theodor Khoury in der Welt), der Arnaldez zitiert, der seinerseits Ibn Hazm zitiert: „… Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben.“ (Ich kann mit beiden Standpunkten nicht wirklich was anfangen, weder glaube ich, daß sich Gottes Wirken mit menschlichen Kategorien beurteilen läßt, noch glaube ich, daß er völlig absurd handelt – wenn er handelt. Vielleicht wäre es ganz interessant, darüber zu diskutieren, wie groß sein Handlungsspielraum ist, wenn er uns in absoluter Freiheit haben will. Aber da haben sich schon viele schlaue Leute Gedanken drüber gemacht, das ist hier auch nicht Thema.)

Benedikt könnte es an dieser Stelle bei dem Gegensatz belassen, aber er macht das Tor ganz weit auf: „Hier ist der Redlichkeit halber anzumerken, daß sich im Spätmittelalter Tendenzen der Theologie entwickelt haben, die diese Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen.“ Der vermeintliche Gegensatz zwischen der christlichen und der islamischen Stellung zur Vernunft im Verhältnis zu Gott existiert also auch innerhalb der christlichen Kirche. Was Benedikt damit ausdrücken will ist: „Wir Christen haben uns darüber schon den Kopf zerbrochen, die Haltung der Christen untereinander ist unterschiedlich, wir laden Euch ein, Euch an dieser Diskussion zu beteiligen.“

Es folgt jetzt der Abschnitt, der den Aufruhr in der mohammedanischen Welt hervorgerufen hat. Benedikt zitiert Kaiser Manuel: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ Bevor er Manuel zitiert, bereitet er das Zitat vor. Er schreibt: „[Manuel] wendet […] sich in erstaunlich schroffer,“ und verpackt das Zitat noch mal „… uns überraschend schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner.“ Zum Verständnis muß man folgendes nachvollziehen: 1. Nicht Benedikt sagt das, sondern er zitiert Manuel. Und er zitiert ihn recht vorsichtig. 2. Manuel sagte diesen Satz nicht, um seinen Gesprächspartner zu beleidigen, sondern um seinen Gesprächspartner folgendermaßen herauszufordern: „Was gilt denn jetzt bei Euch: Sure 2, 256 wo steht: Kein Zwang in Glaubenssachen oder das Gebot des Djihād, des heiligen Krieges?“ Es ist in gewisser Weise eine Provokation, aber keine maligne. Manuel legte es nicht darauf an, seinen Gesprächspartner zu verletzen oder zu beleidigen. Er forderte ihn im wahrsten und besten Sinne des Wortes „heraus“. Benedikt sagt über den dem Zitat zugrundeliegenden Dialog: „… den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte.“ Bei dem weit gespannten Themenkreis kann der Dialog also nicht fünf oder zehn Minuten gedauert haben. Es müssen viele Stunden gewesen sein. (Ein wenig Genaueres findet sich auf der Seite des Kitab-Verlages, wo von 26 Dialogen die Rede ist. Und wer es ganz genau wissen will, bei Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter von Gudrun Vuillemin-Diem von Gruyter) Wenn, und davon gehe ich mal aus, der Gesprächspartner nicht irgendwo angekettet war, muß sich Manuel also so verhalten haben, daß sein Gegenüber nicht wütend die Räumlichkeiten verließ. Die Tatsache eines stundenlangen Gesprächs legt zudem nahe, daß Manuel ein Interesse hatte, zu verstehen und nicht niederzumachen. Das heißt, wir können auf die Atmosphäre schließen, innerhalb der das Gespräch geführt wurde. Und sowohl das Interesse an der Sache wie auch der Respekt dem Gesprächspartner gegenüber bewirkte eine doch beachtliche geistige Anstrengung. (Dank und Kompliment an den, der bis hierher mitgelesen hat. Irgendwie scheint es ja die Anstrengung wert gewesen zu sein.) Wir können also von einer gemeinsamen geistigen Anstrengung in einer Atmosphäre gegenseitigen Respekts und Interesses an der Sache ausgehen.

Was Benedikt verschlüsselt den Mohammedanern sagt, ist: „Wir haben ein konkretes Problem miteinander, nämlich das der Gewalt, und dieses Problem hat anscheinend damit zu tun, wie in Eurer Religion mit Gewalt umgegangen wird. Irgendwie können wir doch zusammen überlegen, ob die Religion, die angeblich das Problem schafft oder zumindest aufrechterhält (bzw. dazu benutzt wird), nicht auch eine Lösung für das Problem bietet. Und vielleicht ist es ja hilfreich, wenn wir das Ganze vernünftig angehen. Aus meiner Tradition heraus bin ich gehalten, das Problem vernünftig anzugehen. Und wenn es in meiner Religion Leute gibt, die der Vernunft um Umgang mit der Welt weniger Gewicht beimessen, vielleicht gibt es ja bei Euch Leute, die der Vernunft größeres Gewicht beimessen.“ Ja, es ist eine Provokation (aus dem Lateinischen provocare: herausfordern)! Aber ein benigne, und im Kontext seiner Rede erweitert er die Herausforderung Manuels seinem persischen Gesprächspartner gegenüber auf eine Herausforderung des Christentums dem Islam gegenüber. Das nenne ich intellektuelle Schönheit, aber auch Mut!


Um die Rede von Papst Benedikt XVI. in der Aula der Universität Regensburg am 12. September 2006 habe ich mich zuerst nicht gekümmert. Warum auch? Ich war nie Katholik und bin schon mit 16 aus der Kirche ausgetreten. Auch, so muß ich gestehen, lief mir immer ein leichtes Frösteln über den Rücken, wenn ich in den Nachrichten irgendwelche Äußerungen von Kardinal Ratzinger kolportiert bekam. Ich kann mich kaum noch an Konkretes erinnern, aber ich hielt ihn für einen erzkonservativen Knochen und war froh – so glaubte ich damals – solch einen großen Abstand zwischen mich und die christliche Kirche gelegt zu haben. Von Diskussionen über Sünde, Masturbation, Abtreibung, Priestertum oder die Unfehlbarkeit des Papstes hatte ich angesichts der Hexenverfolgung, der Rolle von Kirche und Papst im Dritten Reich und nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen an primitiven Völkern, denen man gewaltsam den christlichen Glauben hat aufoktroyieren wollen, die Nase voll.


Aber irgendwann habe ich dann verstanden, daß Religion von Menschen gelebt und umgesetzt wird. Genauso wie es ohne Fernseher keinen Doctor House, gibt es ohne Menschen keine Religion. Religion ist etwas, was verstanden, interpretiert, mitgeteilt, diskutiert und gelebt wird – nicht von Bäumen, Tieren oder Wolken. Es braucht Menschen. Ich kann ja auch die ARD nicht dafür verantwortlich machen, wenn mein Fernseher eine Bildstörung hat. (Es sei denn, die Störung liegt beim Sender.) Soweit zu meiner Distanziertheit dem christlichen Glauben gegenüber und wie ich immer weniger in der Lage dazu bin, sie in dem ursprünglich gewünschten Maße aufrechtzuerhalten.


Auf der anderen Seite nerven mich die arabischen Mohammedaner seit geraumer Zeit immer mehr. Gewiß, die Israelis führen sich seit fast sechzig Jahren im Nahen Osten auf wie die Axt im Walde und einen Überblick über die nicht umgesetzten UNO-Resolutionen hatte ich nie. Und jetzt dieser Libanon-Feldzug … Andererseits denke ich mir: so völlig bekloppt können die Israelis eigentlich nicht sein. Die Verbohrtheit von Menschen, die dem Staat Israel das Existenzrecht absprechen, ist für mich nicht nachvollziehbar.


Und während wir hier im von unseren starken Verbündeten so titulierten Alten Westen Hausputz halten (Susan Sontag auf der Frankfurter Buchmesse 2003), Verschwörungsszenarien über den elften September untersuchen, uns auf Internetseiten über George Bush lustig machen, Michael Moore Filmpreise verleihen, öffentlich über Guantanamo und darüber diskutieren, wie die westliche Führungsmacht ihre Verbündeten verarscht hat und noch immer verarscht und zur Zeit darüber reden, wie der Geheimdienstbericht an den amerikanischen Kongreß mal wieder fälschlicherweise einen Dämon an die Wand malt (Wiener Zeitung zur IAEO-Kritik am US-Geheimdienstbericht) höre ich aus der islamischen Welt ewig den gleichen Opfer-Singsang. Immer sind die anderen die Bösen, immer pinkelt man den armen Mohammedanern ans Bein. Gibt es in der islamischen Welt auch Selbstkritik, die über die eigenen vier Wände hinausgeht?


Vor einiger Zeit brachten Mohammed-Karikaturen aus einer dänischen Zeitung die islamische Welt auf die Palme. Dann hörte ich, daß Karikaturen über das Christentum in der islamischen Welt an der Tagesordnung sind. Das brachte mich auf die Idee: Sind die vielleicht genauso in ihre Opfer-Mentalität verliebt wie die Israelis? Haben wir es hier mit kollektivem Narzißmus (Wikipedia: Psychopathologie; Wikipedia: Gruppennarzißmus) zu tun oder werden hier vermeintlich antiislamistische Angriffe aus dem Westen als Macht- und Propagandainstrument benutzt, um Menschen in Bewegung zu versetzen? Vor wenigen Tagen sah ich eine Sendung, die über die Hilflosigkeit der deutschen Institutionen arabischen Satellitensendern gegenüber berichtete, die speziell an Kinder und Jugendliche gerichtete antijüdische Propagandafilme übelster und primitivster Machart ausstrahlen. Niemand kann anscheinend verhindern, daß hier in Deutschland solche Bilder in die Gehirne von Kindern gelangen. (Artikel in Wikipedia, der Welt und auf Gudrun Eussners Homepage) Jetzt stelle sich einer einmal vor, wir im Westen würden ähnlichen Schund herstellen: Was würde dann in den islamischen Köpfen passieren? Was sagen arabische Intellektuelle oder Geistliche zu solchen Videos?


Wo ist die islamische Selbstkritik? Wo ist die islamische Zeitung, die z.B. über den Genozid an den Armeniern berichtet? (Artikel in Lettre 68 und der Zeit) Wo wird in der islamischen Welt über die Repressalien gegenüber Menschen berichtet, die offen über diese Dinge zu reden versuchen? (Artikel in der FAZ, der Zeit, dem Kölner Stadtanzeiger und der Stuttgarter Zeitung)


Unsere westliche Welt hat von der arabischen die moderne Medizin gelernt. Wo sind die Mohammedaner, die genauso, wie wir sagen: Wir sind Teil des Problems! ebenfalls sagen: Wir sind Teil des Problems? Wie ist ein Dialog mit jemandem möglich, der sich selbst als frei von Verantwortung sieht, der nur den Anteil des Anderen am Zustandekommen der Leiden schaffenden Situation zu sehen gewillt ist? Was ist aus dieser bewunderungswürdigen arabischen Hochkultur geworden, daß sogar hochrangige Politiker auf Benedikt draufhauen, ohne den Text seiner Rede vorher sorgfältig studiert zu haben? (6. Absatz im Artikel der Österreichischen Katholischen Presseagentur und Iran Now Network, Abschnitt Türkei über Ali Bardakoglu, Chef des staatlichen Religionsamtes in Ankara. Wenigstens hat er’s ja zugegeben.) Die um die Verletzlichkeit der mohammedanischen Seele wissen und eine vermeintliche Verletzung propagieren, ohne sich dieselbe vorher genau angesehen zu haben. Oder die eine stattgefundene Verletzung propagieren, obwohl sie wissen oder wissen müßten, daß es keine ist. (Spiegel Online über Ayatollah Ali Chamenei)


Mit der Aufregung über Verwendung des Zitats durch Papst Benedikt in seiner Rede haben sich die Mohammedaner selbst ins Bein geschossen (und auch viele politisch Überkorrekte hier). Ich empfehle den Text der Rede genau zu lesen, denn jetzt wird es spannend: Das, worüber ich oben schrieb, macht in dem Text höchstens ein Viertel aus. Nach der Aufforderung zum Dialog der Religionen baut Benedikt einen historisch-philosophischen Spannungsbogen auf, der auf folgende Frage hinführt („Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, auf die ich mit alledem hinaus will…“): Sind wir selbst überhaupt dazu in der Lage, einen solchen Dialog zu führen? Unter dem Strich ist die intellektuelle „Provokation“ dem Islam gegenüber eingebunden nämlich in eine Kritik der westlichen Kultur. Benedikt fragt: Sind wir in unserer Kultur und aus unserer Kultur heraus überhaupt dazu in der Lage, einen solchen von mir vorgeschlagenen Dialog zu führen?


Wenn man also diese Rede im Ganzen sieht und versteht, ist die Aufgeregtheit – gleich auf welcher Seite – nichts anders als hochnotpeinlich, und jeder sollte sich angesichts der Geschehnisse, die auf die Veröffentlichung dieser Rede folgten, zuallererst einmal an die eigene Nase fassen und sich überlegen, wie er selbst zu dieser kollektiven Aufgeregtheit beigetragen hat. (Damit sind auch die Journalisten gemeint, die permanent in der Versuchung stehen, Qualität und Aufgeregtheit miteinander zu verwechseln.) Vom Papst eine Selbstbeschränkung zu fordern, um unwillige oder ungebildete Menschen nicht aufzuregen, ist nicht nur der falsche Weg sondern auch feige. Wollen wir einen Papst, der Tacheles redet oder lauwarmes Gewäsch von sich gibt, damit sich keiner auf die Füße getreten fühlt? Es ist im ureigenen Interesse des Islam, sich solchen Herausforderungen zu stellen. Und es ist eine mutige und sich in das Weltgeschehen einmischende Herausforderung des Stellvertreters Christi auf Erden. Was wollen wir denn mehr? Wir haben in unserer Kultur, die gewiß genug Leid über die Menschheit gebracht hat und noch bringt, eine Aufklärung durchgemacht. Nun wird es Zeit für eine Aufklärung im Islam.


Benedikt, alter Junge, Hut ab!



Kommentar zur Papstrede in der ZEIT vom 21.9.2006
Vortrag von Kardinal Lehmann am 19.9.2006 (beachte auch »Exkurs« unten)