Kurz nach dem Urknall muss es ebenso viele Antimaterie wie Materieteilchen gegeben haben. Nach den bekannten Gesetzen der Physik hätten diese beiden Materieformen sich gegenseitig völlig vernichten müssen. Doch dann gäbe es heute keinerlei feste Stoffe, weder Sterne noch Planeten. Warum überlebte in diesem Vernichtungskampf die Materie?
Die Theorie der Antimaterie entwickelte der englische Physiker Paul Dirac 1928. Die Skepsis seiner Theorie gegenüber legte sich erst sieben Jahre später, als Carl David Anderson das erste Antiteilchen entdeckte: das Anti-Elektron oder Positron. Seitdem waren in großen Beschleunigern zu allen bekannten Teilchen deren Antiteilchen zu erzeugen. Diese verhalten sich wie Spiegelbilder zu ihren Materiepartnern: Alle Eigenschaften sind gleich, bis auf die elektrische Ladung.
Treffen zwei Vertreter der bei den Familien aufeinander, so zerstören sie sich und gehen in einem Strahlungsblitz auf. Das erklärt, warum es im Universum keine Antimaterie gibt. Doch dieses Phänomen birgt eines der tiefgreifendsten Rätsel.
Nach heutiger Kosmologie war das Universum im ersten Augenblick nach dem Urknall erfüllt mit einem unvorstellbar heißen Gas, in dem sich Strahlung, Teilchen und Antiteilchen ständig ineinander umwandelten. Durch die Expansion des Universums kühlte sich dieses brodelnde Inferno ab. Eine hundertmilliardstel Sekunde nach dem Big Bang war das Universum etwa auf die Größe unseres heutigen Sonnensystems angewachsen, die Temperatur auf eine Million Milliarden Grad gesunken. Jetzt entstanden die Elementarteilchen, wie wir sie heute kennen. Eigentlich hätte die Natur damals genauso viele Materie wie Antimaterieteilchen produzieren müssen. Wäre es so gewesen, hätten sich alle Teilchen gegenseitig vernichtet; übrig geblieben wäre nur Strahlung.
Physiker wissen heute, dass damals auf jeweils etwa zehn Milliarden Teilchen-Antiteilchen-Paare genau ein überschüssiges Teilchen kam, das den Vernichtungskampf überlebte. Dieser winzige Überschuss bildete die gesamte Materie im Universum. Woher kam diese für unsere Existenz entscheidende Vorliebe der Natur? Den entscheidenden Anstoß für eine mögliche Antwort gab 1967 der russische Physiker Andrej Sacharow. Er sagte eine Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie voraus, die in einem rasch expandierenden Universum zu dem heute beobachteten Überschuss führte.
Tatsächlich fanden Physiker mit Beschleunigern die erwarteten Unterschiede im Zerfall instabiler Teilchen. Aber es zeigte sich schnell, dass die Abweichungen von der vollständigen Symmetrie zu klein waren, um die heutige Materiemenge erklären zu können.
In neuen Theorien spielen Neutrinos und das Higgs-Teilchen entscheidende Rollen. Letzteres soll dafür sorgen, dass es überhaupt Teilchen mit Masse gibt. Die Existenz von nicht nur einem, sondern zwei unterschiedlichen Higgs-Teilchen könnte das Rätsel des Materieüberschusses erklären. Mit Spannung erwarten die Forscher deshalb das Anlaufen des neuen Beschleunigers LHC in Genf 2008. Mit ihm wollen sie das theoretisch vorhergesagte Higgs-Teilchen entdecken. Vielleicht werden sie noch mehr unbekannte Teilchen finden, mit denen sich die Existenz von Materie klären lässt.
aus dem Rheinischen Merkur Nr. 29 vom 19. Juli 2007 (Autor: Thomas Bührke)