Dienstag, 12. September 2006

Mama, darf ich weg?

Als die Analytiker begannen, sich von Papa Freud zu emanzipieren, sagten sie: "Im Mittelalter haben sie immer Aristoteles zitiert anstatt wissenschaftliche Beobachtungen zu machen. Wir machen das besser und hören auf, immer den Alten zu zitieren und gucken selbst mal nach, was bei den Kindern los ist." So begann die Säuglingsforschung und damit auch ein Teilgebiet derselben, die Bindungsforschung.
Bei der Bindungsforschung werden Säuglinge einige Zeit lang unter genau festgelegten Untersuchungsbedingungen allein gelassen. Dann schaut man, wie sie sich verhalten, wenn Mama wieder da ist. Aus dem Verhalten der Säuglinge läßt sich dann auf die Art der Beziehung zwischen Mutter und Kind (die Art der Bindung) schließen.
Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist nämlich mal zuerst eine, die durch die völlige Abhängigkeit des Säuglings gekennzeichnet ist. (Das wird jetzt auch nicht mehr so absolut gesehen, ich lasse es der Einfachheit halber mal so stehen.) Das, was der Säugling und später das Kleinkind tut, wir nämlich in hohem Maße davon geprägt, ob Mama und Papa das o.k. finden oder nicht. Denn nur, wenn die das o.k. finden, wird das Kind ja mit Zuneigung belohnt. (Dabei spielt keine Rolle, ob wir das gut finden oder nicht.) Jetzt stellen wir uns eine Mutter vor, die mit ihrem Mann Probleme hat, und zwar dergestalt, daß sie den Eindruck hat, daß sie von ihm nicht so viel Liebe und Zärtlichkeit bekommt, wie sie das gerne hätte. Jetzt könnte sie versuchen, das mit ihrem Mann zu klären, aber die Versuche, an der Situation etwas zu ändern, zeigen nicht den gewünschten Erfolg. Dann ist da ja noch das Kind. Gottseidank! Das kann man knuddeln, so oft man möchte, das reagiert – zumindest am Anfang – dankbar auf jegliche Zuwendung, und bei dem Kind hat frau ja auch nicht in dem Maße das Gefühl, Bettler zu sein und was zu wollen. Dem Kind kann frau (jawohl, hier geht es meist um Frauen) ja jede Menge Zuwendung und Zärtlichkeit geben (und bekommen) und sich dabei noch als wohlmeinende und fürsorgliche Mutter fühlen. Wir haben also eine Frau, die das Kind als sogenanntes Ersatzobjekt mißbraucht. (Aufgepaßt: Hier sind die Grenzen fließend, und wir tun das wohl alle mal!) Aber trotzdem, möglichst einfach weiter: Die Mutter möchte also ein immer verfügbares Liebesobjekt haben, und vom Mann kriegt sie nicht, was sie haben möchte. Was liegt dann also näher, als sich dem Kind zuzuwenden. Das fängt irgendwann aber mal an zu krabbeln, kommt in die Schule, will bei Freunden übernachten, kurz: es wird selbständiger. Da müssen wir ja was gegen unternehmen, sonst kommt uns unser frei verfügbares Kuscheltier abhanden. Also entwickeln wir Ängste, es könnte was passieren, z.B. daß das Kind von der Schaukel oder der Rutsche fällt oder das es von der Mauer runterplumpst oder sonstwas. (Das Ganze geschieht natürlich, wie sollte es auch anders sein, unbewußt.) Was passiert nun mit dem Kind? Es sieht, wenn es von der Schaukel oder der Rutsche oder der Freundin zurückkommt (und auch schon viel früher!), daß Mama ein besorgtes oder traurig-verletztes oder überängstliches Gesicht macht. Aha, hier war was nicht o.k. Wahrscheinlich ist die Welt gefährlicher als ich das mitkriege mit meinem kleinen Gehirn oder ich tu’ der Mama weh, dabei will ich doch ein liebes Kind sein.
Die Art also, wie unsere Eltern mit unserem Selbständiger-Werden umgehen, hat Auswirkungen darauf, wie wir später mit der Welt umgehen: freudig-gespannt und erwartungsvoll oder ängstlich und zögerlich, weil es ja da draußen sehr rauh zugeht und ich nur im Schutz meiner Eltern die Chance habe, in dieser feindlichen Umgebung zu überleben.

So, daß war der Versuch Bindung und Bindungsforschung zu erklären. Mit wissenschaftlich korrekter Sprache geht es in dem Artikel "Kindheit bestimmt das Leben" weiter.