Dienstag, 6. Mai 2014

Opium für das Volk

Marx hat in der Einleitung (1844 in der zusammen mit Arnold Ruge herausgegebenen Zeitschrift Deutsch-Französische Jahrbücher veröffentlicht) zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44) einmal von der Religion als Opium des Volkes gesprochen.
Marx führte die Religion auf die politischen Zustände der Gesellschaft zurück[3] […] und führte aus: 
„Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur (Ehrgefühl), ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“

Karl Marx: Einleitung zur Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Deutsch-Französische Jahrbücher 1844, S. 71f, zitiert nach MEW, Bd. 1, S. 378-379
 
In seiner Denkschrift für Ludwig Börne (1830, siehe Zeno.org) schreibt Heinrich Heine
"Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goss, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!"

Diese Formulierung knüpft an eine Aussage von Novalis über die Religion der „Philister“ (Aphorismus 83 aus seiner Fragmentsammlung Blütenstaub von 1798) an:

Ihre sogenannte Religion wirkt bloß wie ein Opiat: reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend.


Der Philosoph der Aufklärung Paul Henri Thiry d’Holbach ist für seine religionskritischen Werke bekannt. Nach ihm entstammt die Religion der Furcht und der Unwissenheit. (Zeno.org)

„Die Phantasie ist das gefährlichste Vermögen des Menschen, wofern sie nicht recht geleitet wird. Fanatismus, relgiöse Glaubenswuth und alle Schrecken und Verbrechen eines bethörten Enthsiasmus sind Folgen einer verirrten Phantasie. Wird sie aber wohl geregelt, so nährt die Phantasie einen wohlthätigen Enthusiasmus für alles Gute. Begeisteriung für jegliche Tugend, Vaterlandsliebe, Freundschaft, kurz alle edleren Gefühle wurzeln in ihr und empfangen von ihr Lrben und Kraft. Wer aller Phantasie ermangelt, in dem ist gemeiniglich auch jenes edle Feuer erstickt, das uns zu Thaten treibt und unsrem geistigen Leben Aufschwung verleiht. Ohne Begeisterung wird nichts Großes erreicht: große Tugenden verlangen Begeisterung so gut, wie große Verbrechen. Begeisterung ist ein der Trunkenheit vergleichbarer Zustansd, isofern und beide zu rascher That treiben. Wir preisen die Begeisterung, wenn sie uns zum Guten führt: wir nennen sie Thorheit, Wahnsinn, Verbrechen, Raserei, wenn sie uns zu schädlicher, zerstörender Thätigkeit bestimmt.


Nach Holbach ist »Die Religion ist die Kunst, die Menschen mit Enthusiasmus zu berauschen.« [nach: H. Gollwitzer: Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, gefunden bei der Zentrale für Unterrichtsmedien] und zerstört ein Atheist die „dem Menschengeschlecht schädlichen Hirngespinste“
[gefunden bei der Widipedia]



Wladimir Iljitsch Lenin interpretierte den Ausspruch als den Kern marxistischer Religionskritik und formuliert:

„Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.“

Lenin: Sozialismus und Religion, 1905[7]


Die jüdische Philosophin Simone Weil soll gesagt haben »Nicht die Religion, die Revolution ist Opium für das Volk..« [vielfach im Internet zu finden, aber keine konkrete Quellenangabe]

Was sonst noch Opium-Wirkung hat,läßt sich bei Klüngelbeutel nachlesen:
- Atheismus (Walter Rominger)
- Marxismus (Thomas Schirrmacher, da gab’s noch andere vor ihm, die suche ich jetzt aber nicht)
- Sozialamt (Stefan Sauer vom Kölner Stadtanzeiger)
- Teamsupervison (Jochen Schweitzer)
- Nacktmodels (die Briten)
- Lachen (Sabine Nuss)
- Religion: Eine Umfrage von Würzburger Studenten ergab, dass diejenigen, die relativ religiös waren, glücklicher sind, als solche, die nichts mit der Religion am Hut haben.
http://shortnews.stern.de

Auch die Toten Hosen haben eine Platte gemacht mit dem Titel


Warum sollte eigentlich für das Volk Opium so wichtig sein?
Wer sollte ein Interesse daran haben, dem Volk Opium (in welcher Form auch immer) zu verabreichen?

Gegen Schmerzen einer heute noch umstrittenen Erkrankung nahm Heinrich Heine Opium:

Gegen die Schmerzen nahm Heine über Jahre hohe Dosen Morphium, verabreicht über eine künstlich offen gehaltene Wunde im Nacken, in die das Pulver eingerieben wurde. Seinem Bruder Gustav schrieb er im November 1850: "Du hast keinen Begriff davon, wie viel ich gelitten und noch leide; beständige Krämpfe und Zusammenziehungen, besonders der Beine und des Rückgrats, zusammengekrümmt liege ich auf einer Seite im Bette, ohne mich bewegen zu können [...] um die Schmerzen zu betäuben, nehme ich beständig Zuflucht zum Opium, auch mein Kopf ist daher sehr dumpfig." Gleichwohl schrieb Heine in diesen Jahren herausragende Werke: "Romanzero", "Der Doctor Faustus" und "Vermischte Schriften I-III".

WDR, unter dem Abschnitt »Morphium« findet sich auch die Abbildung eines Opium-Rezeptes für den Dichter.

 Friedrich Nietzsche meint: »Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.« [aus den Nachgelassenen Fragmenten, 1887-89]
»Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.« [Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872]


Sowohl bei Heine wie auch bei Nietzsche scheint es ums Aushalten zu gehen: bei Heine um das Aushalten von Schmerzen, bei Nietzsche um das der Wirklichkeit. Was ist denn da, was an der Wirklichkeit – nach deren Erkennen wir ja angeblich streben bzw. streben sollten –, so schwer aushaltbar ist?

Ein bekannter spiritueller Meister, Gurdjieff, soll des öfteren große Mengen an Alkohol zu sich genommen haben. Sigmund Freud nahm – zumindest eine Zeit lang – des öfteren Kokain. Karlfried Graf Dürckheim fordert dazu auf, das Unaushaltbare auszuhalten. Möglicherweise hat Kalu Rinpoche, ein hochangesehener Lehrer aus dem tibetischen Buddhismus, seine nicht ausgelebte Sexualität nicht ausgehalten.

Was ist an der Wirklichkeit so schwer aushaltbar? 
Schmerzen, Gefühle, Bewußtseinszustände, die Häßlichkeit der Welt (Nietzsche)? 

Ich habe Patienten, die haben Schwierigkeiten, ihren Partner bzw. dessen Verhalten auszuhalten, Schwierigkeiten, die Eltern oder Schwiegereltern auszuhalten, Schwierigkeiten, ihre depressive Sicht der Welt auszuhalten. Ich hatte eine Patientin, die das Nicht-Leben ihrer masochistischen sexuellen Phantasien und Wünsche nicht mehr auszuhalten gewillt war und ihren Mann verließ. Ich hatte einen Patienten, der es nicht aushielt, die Angst vor dem Verlust der Liebe seines Vaters zu verlieren, wenn er sein – gegen den Willen seines Vaters begonnenes – Studium weiterführen würde. Ich habe Patienten gehabt, die es nicht aushielten, in eine Gruppe fremder Menschen zu kommen oder es nicht aushielten, sich mit dem Partner zu streiten.

Was macht das Unaushaltbare nicht aushaltbar? Was macht mensch, wenn er das Unaushaltbare nicht aushalten kann? Alle Patienten, die mit Alkoholproblemen zu mir kamen oder mir während der Therapie gestanden, daß sie Hasch rauchten, tranken Alkohol oder rauchten Hasch, um etwas auszuhalten. Und es dauerte lange – und manchmal gelang es nicht –, das Unaushaltbare beim Namen zu nennen. Eine Patientin hatte Sex mit drei Unbekannten, weil sie einen Streit mit ihrem Freund nicht aushalten konnte. Zwei Bulimikerinnen fraßen, wenn Sie sich in einer Konfliktsituation nicht abgrenzen konnten. Eine Patientin ging fremd, weil sie den unbefriedigenden Sex – oder auch die Abwesenheit ihres Partners – nicht aushalten konnte. Viele Depressive ziehen sich zurück, weil sie die Gesellschaft von Nicht-Depressiven nicht aushalten können, weil sie befürchten, die Anderen können sie nicht aushalten. Viele psychosomatisch Erkrankte verschieben das emotional nicht Aushaltbare in den Körper. (Scherf: »Die bessere der beiden schlechten Möglichkeiten«)

Was tun Menschenmengen, wenn sie etwas nicht mehr aushalten? 

Gerhart Hauptmann schrieb seine »Weber« über den Schlesischen Weberaufstand 1844.

Goethe setzte 1773 Götz von Berlichingen mit seinem gleichnamigen Schauspiel ein Denkmal.

Die Französische Revolution 1789 wurde ausgelöst, als der sogenannte Dritte Stand (Bauern und Bürger), der 95% der Bevölkerung ausmachte (und als einziger Stand die Last der direkten Steuern trug), für die aus Finanznot einberufenen Nationalversammlung (die letzte hatte 1614 stattgefunden) eine Aufwertung gegenüber den übrigen beiden Ständen (Adel und Klerus) forderte und König Ludwig XVI zu taktieren versuchte.

Dem Dritten Stand wurde zwar die Verdoppelung der Abgeordnetenzahl zugestanden, der Abstimmungsmodus in den Generalständen blieb aber offen. Das Eröffnungszeremoniell am 5. Mai 1789 in Versailles verhieß nichts Gutes: Die beiden ersten Stände kamen in großer Festgarderobe auf reservierten Plätzen zu sitzen; die Abgeordneten des Dritten Standes, denen einfacher schwarzer Anzug vorgeschrieben war, mussten selbst sehen, wie sie sich platzierten. In den Ansprachen gab es von Seiten des Hofes noch immer keinen Hinweis auf die Geschäftsordnung. Mehr als ein Monat verging danach mit ergebnislosen Debatten, da die privilegierten Stände mehrheitlich auf dem alten Tagungs- und Abstimmungsmodus beharrten: getrennte Beratung der Stände, je einheitliche Stimmabgabe pro Stand.
Doch vor allem beim volksnahen niederen Klerus, den Dorf- und Gemeindepfarrern, begann die Front massiv zu bröckeln, als sich seit dem 12. Juni einige dem Dritten Stand anschlossen und dessen Beratungen zu folgen begannen. Von da an überstürzten sich die Ereignisse. Auf Antrag des Abbé Sieyès, der die überragende Rolle des Dritten Standes schon vordem wirksam propagiert hatte, erklärten dessen Vertreter sich am 17. Juni zu Repräsentanten von mindestens 96 % der französischen Bevölkerung, gaben sich den Namen Nationalversammlung und forderten beide anderen Stände auf, sich ihnen anzuschließen. Diesem Aufruf folgte der Klerus am 19. Juni mit knapper Mehrheit, während der Adel bis auf 80 seiner Vertreter die Unterstützung des Königs zur Erhaltung der alten Ordnung suchte.

 Zu der Finanznot des verschwenderischen Staates …

Als der Generalkontrolleur der Finanzen Jacques Necker 1781 erstmals die Zahlen des französischen Staatsbudgets (Compte rendu) veröffentlichte, war dies als Befreiungsschlag zur Herstellung allgemeiner Reformbereitschaft in einer ansonsten ausweglosen Finanzkrise gemeint. Seine Amtsvorgänger hatten da bereits vergebliche Anläufe zur Stabilisierung der Staatsfinanzen unternommen. Neckers Zahlenwerk schockierte: Einnahmen von 503 Millionen Livres (Pfund) standen Ausgaben von 620 Millionen gegenüber, wovon allein die Hälfte auf Zins und Tilgung für die enorme Staatsverschuldung entfiel. Weitere 25 % verschlang das Militär, 19 % die Zivilverwaltung und ca. 6 % die königliche Hofhaltung. Dass für höfische Feste und Pensionszahlungen an Höflinge eine Summe von 36 Millionen Livres anfiel, wurde als besonders skandalös angesehen.[3]
 … kamen:
- die Reformblockaden der Privilegierten
- das sich ausbreitende aufklärerische Denken (Wirkung der Enzyklopädienauf bildungsbürgerliche Schichten)
- der sich entwickelnde Kapitalismus, verbunden mit der enormen Verteuerung der Grundnahrungsmittel


Le Bons Ansteckungstheorie

Eine frühe Theorie zum kollektiven Verhalten hat der französische Soziologe Gustave Le Bon mit seinem Hauptwerk "Psychologie der Massen" (1895), formuliert. Nach Le Bons Ansteckungstheorie (engl. Contagion theory) üben soziale Gruppen eine hypnotische Wirkung auf ihre Mitglieder aus. Geschützt in der Anonymität der Menge, geben Menschen ihre persönliche Verantwortung auf und ergeben sich den ansteckenden Gefühlen der Masse. Die Menschenmenge entwickelt so ein Eigenleben, wühlt die Gefühle auf und verleitet die Personen tendenziell zu irrationalem Handeln. Wie Clark McPhail ausführt, offenbaren systematische Untersuchungen allerdings, dass „die verrückte Masse“ kein Eigenleben getrennt von den Gedanken und Intentionen ihrer Mitglieder führt. Norris Johnson, der eine Panik während eines Who-Konzerts 1979 erforschte, kam zu dem Schluss, dass die Masse aus vielen Kleingruppen bestand, deren Mitglieder vorwiegend versuchten, einander zu helfen.
Le Bons Arbeiten bilden den Ausgangspunkt von Sigmund Freuds Studie Massenpsychologie und Ich-Analyse. Wilhelm Reich formuliert aus seiner eigenen Weiterentwicklung der Psychoanalyse 1933 sein Werk Die Massenpsychologie des Faschismus.
[…]
Die Finanzmarktpsychologie ist ein wichtiges Anwendungsgebiet, in welchem sich die massenpsychologische Forschung etablieren kann. Die Zusammenführung von Wissen über Anlegerverhalten mit den Erkenntnissen der Massenpsychologie offenbart neue Modelle und Herangehensweisen für realistischere Erklärungskonzepte der Finanzmarktdynamik. Denn der Zyklus von Boom und Krise ist ein „natürliches“ Element in der Finanzmarktgeschichte und traditionellen ökonomischen Theorien und Finanzmarktmodelle (z.B. Effizienzmarkthypothese) versagen aber bei der Erklärung und Vorhersage solcher Trends und den ihnen zugrundeliegenden Verhaltensweisen der Marktteilnehmer. Denn sie berücksichtigen nicht den gesamten Menschen, sondern nur eine akademische Abstraktion jener Aspekte des menschlichen Verhaltens, die sie für ökonomisch relevant halten. Und sie vergessen auch die Gesellschaft, mit der die Märkte untrennbar verbunden sind. Und genau an diesem Punkt setzt die Massenpsychologie, die unter anderem auf den Konzepten der gegenseitigen sozialen und psychologischen Ansteckung sowie der menschlichen Neigung zur Orientierung und Nachahmung anderer im sozialen Umfeld basiert, an. Die Erforschung kollektiver Dynamiken liefert noch einen weiteren Beitrag zum besseren Verständnis der Prozesse an den Finanzmärkten, indem sie auf den Zusammenhang zwischen kurzfristigen Entwicklungen und langfristigen Veränderungsprozessen hinweist. Basierend auf dem Prinzip langer und kurzer Zyklen wird in der Massenpsychologie zwischen bewusst erkannten, kurzlebigen Auswirkungen und den ihnen zugrunde liegenden langsamen, subtilen und oftmals nicht erkannten Entwicklungen unterschieden. Durch diese zentrale Erkenntnis, die im Wesentlichen schon auf Gustave LeBon zurückgeht, leistet die massenpsychologische Forschung einen Beitrag zur Beschreibung des Zusammenwirkens eines seit den 1960er Jahren angehäuften Schuldenbergs und der periodischen Entstehung von Boom-Krisen-Zyklen während der vergangenen Jahrzehnte (Fenzl 2009).

So diffus, vielgestaltig und teilweise unbestimmt die unterschiedlichen individuellen  Intentionen der auch selbstbetäubenden Kompensationsmechanismen sind, lassen sie sich auf den Wunsch, seelisch Unerträgliches erscheinendes aushaltbar zu machen, zurückführen.

Die Ausgangssituation der französischen Revolution und der oben beschriebenen Aufstände sind ähnlich: die materielle Not in der Bevölkerung mit dem sich zunehmend entwickelnden Gefühl der Ungerechtigkeit begegnet der Reformblockade der Privilegierten.

In einer solchen Situation dürften in der heutigen Zeit Massenmedien bei der Aufrechterhaltung des Status quo (»Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«) eine wichtige Rolle spielen.

Darf man von Gleichschaltung der Medien sprechen? Und davon, dass die Demokratie höchst gefährdet ist? (Nachdenkseiten, 15.05.2014)