Dienstag, 1. September 2015

Der blinde Fleck des Journalismus

Medien kritisieren alles und alle. Doch Kritik am Journalismus geißeln sie als »Medienschelte«. Thomas Meyer erklärt, warum das so nicht gut ist
Im Sinne einer Politik des full disclosure zeigt die Autorin dieses Textes hier dreierlei an. Erstens: Ich bin mit Thomas Meyer nicht befreundet, kenne ihn aber persönlich und schätze ihn. Zweitens: In meinen nunmehr fast 20 Berufsjahren als politische Journalistin habe ich mich öfter über die bornierte Schiedsrichter-Mentalität geärgert, die man sich in unserem Berufsstand offenbar ungestraft leisten kann. Drittens: Bei einem unerwartet kurzen Ausflug in die politische Sphäre war ich selbst der Gegenstand von Berichterstattung, die weitgehend gleichgerichtet ausfiel, zum Teil sach­liche Fehler enthielt und zum Teil ­Urteile fällte, die zumindest mir als Betroffene maßlos vorkamen (die Frau ist total überfordert / unfähig / beratungsresistent / von Hybris besessen / verrückt / kriminell). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen setze ich mich hier mit Meyers Thesen zur Unbelangbarkeit von Journalisten auseinander.

Das journalistische Übermenschentum
Der Politikwissenschaftler stellt seiner auf ruhige Weise gnadenlosen Analyse des politischen Journalismus in Deutschland eine Formulierung des verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher voran: Der hatte im März 2014, wenige Wochen vor seinem Tod, vor einem um sich greifenden „journalistischen Übermenschentum“ gewarnt. Er illustrierte seine Warnung mit dem Beispiel des ZDF-Moderators Claus Kleber, der im heute journal den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser eher angeprangert als interviewt hatte: Es ging um die Frage, wie Kaesers Russland-Reise im Frühjahr 2014 während der Ukraine-Krise moralisch zu bewerten sei. Meyer fügt diesem Beispiel für die Übergriffigkeit und Rollenanmaßung mancher „Alphajournalisten“ weitere hinzu, etwa das überlange Kreuzverhör, in dem Marietta Slomka den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu der Frage vernahm, ob eine Mitgliederentscheidung der Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag der Großen Koalition verfassungskonform sei. (Slomka war nicht dieser Ansicht, was sie den streng Befragten auch fast acht Minuten lang spüren ließ.) Oder die einzigartige Herablassung, mit der der Spiegel den SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück als „Narziss“, „Schauspieler“ und „Clown“ abqualifizierte. Man könnte zahlreiche weitere Belege für solche Überhebungen nennen – wobei ihre Urheber in bemerkenswert geringem Maße zu reflektieren scheinen, wie Derartiges bei den Betroffenen, vor allem aber beim Publikum ankommt. Auflagenschwund und Medienverdrossenheit könnten ja immerhin den Verdacht nahe legen, dass Leser und Zuschauer sich vielleicht doch weniger mit den Haltungsnotenvergebern identifizieren als mit den Benoteten.

In einem Porträt des scheidenden Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, hieß es in der Welt: „Wir erleben in Reinform: Positionsverweigerung zwecks Unangreifbarkeit, hundertprozentiges Emotionsmanagement statt Intuition, Neutralisierung des Menschen durch das Amt, die Maschinalisierung des Klaus Wowereit. ... Zwar sieht dieser Mensch auf dem Sofa aus wie jener – man mag es kaum noch aussprechen – ‚Wowi‘, doch der, den wir kannten, oder zu kennen meinten, hat schon lange diesen Körper verlassen. Vor uns sitzt eine Hülle und redet in Hülsen.“

mehr:
- Der blinde Fleck des Journalismus (Susanne Gaschke, Berliner Republik, 3/15)

Ukraine: Noch nicht demokratiefähig

Die rechten Maidan-Aktivisten protestieren mit brutaler Gewalt gegen das Minsker Abkommen
Vor dem ukrainischen Parlament spielten sich gestern Szenen ab, die an die Zeit der Maidan-Unruhen erinnerten. Extrem gewalttätig gingen hunderte Demonstranten gegen die Polizisten vor. Es wehten die Fahnen des Rechten Sektors und der rechtsextremen Swoboda-Partei, beide aktiv bei der Maidanbewegung. Mehr als 120 Polizisten wurden verletzt. Einer der Militanten hatte eine Handgranate geworfen, ein Polizist starb, so der Innenminister, durch ein Schrapnell in sein Herz. 30 Personen wurden festgenommen, darunter auch der Werfer der Handgranate. Es seien weitere Handgranaten gefunden worden, was deutlich macht, wie gefährlich die Situation ist, wenn die Kriegsheimkehrer in Kiew genauso auftreten wie an der Front.

Für den Rechten Sektor ist jeder Abgeordneter, der für das Gesetz stimmt, ein Verbrecher. Nach ihm kamen viele Soldaten, Veteranen und Aktivisten, um vor dem Parlament die "Ehre des Vaterlands" zu verteidigen. Schuld an den gewalttätigen Auseinandersetzungen wird Poroschenko gegeben, der sich wie Janukowitsch verhalte und zu "despotischen Mitteln" greife. Aus Protest gegen die "Legalisierung des Separatismus" sei das erste Blut geflossen. Die Stimmung soll offensichtlich weiter aufgeheizt werden, Poroschenko wird als Vertreter Putins und der EU betrachtet.

Im Parlament wurde mit einer Mehrheit von 265 Stimmen, wenn auch knapp und mit großer Opposition sowie Tumulten, in erster Lesung die Verfassungsreform angenommen. Sie sieht eine Dezentralisierung des Staats zugunsten der Regionen und Kommunen vor, was auch die beiden "Volksrepubliken" betrifft. Einen Sonderstatus wird es aber für sie nicht geben, wie Poroschenko immer wieder die Rechtsnationalisten beruhigend sagte, was diese aber nicht hören wollen.

Symptomatisch für die Zerrissenheit des Landes wurde das Gesetz von den Parteien von Poroschenko und Jazenjuk sowie vom Oppositionsblock, dem ehemalige Mitglieder der Partei der Regionen angehören, angenommen. Die drei anderen Parteien der Regierungskoalition, die Radikale Partei, die Vaterlandspartei und die Samopovich-Partei, stimmten dagegen. Der Widerstand im Parlament und außerhalb wird vor allem damit begründet, dass die Dezentralisierung eine Unterwerfung unter Russland bedeute. Man wehrt sich auch gegen die EU, die der Ukraine ein solches Nachgeben aufoktroyieren würde.


mehr:
- Ukraine: Militante Nationalisten proben den Aufstand (Florian Rötzer, Telepolis, 01.09.2015)

mein Kommentar:
unerwachsen, zur Zeit noch nicht demokratiefähig
Willkommen in der EU!