Mittwoch, 10. Mai 2017

Vergesst Trump, lest Spitzer!

Wenn von „Ansteckung" die Rede ist, dann denken wir an Bakterien, Viren und andere Erreger, die Krankheiten übertragen. Man spricht dann auch von einer Infektion durch bestimmte Erreger. Diese ist nicht nur vom Typ des Erregers, sondern auch vom Immunsystem der angesteckten Person abhängig, denn nicht jede Übertragung von Erregern führt zu einer Infektion. Zudem können auch völlig harmlose Erreger übertragen werden, beispielsweise Keime, die wir alle in der Haut, im Mund oder Darm mit uns herumtragen. Umgekehrt kann Leiden auch ohne Krankheitserreger an andere Menschen weiter gegeben werden. Meint man diese Übertragung ganz unabhängig vom Mechanismus, so spricht man von Kontagiosität. Sie ist eine Größenangabe der Wahrscheinlichkeit, dass es durch Kontakt zu einer Übertragung der Krankheit (wie auch immer) auf eine andere Person kommt. 

Mit dem Phänomen der sozialen Ansteckung hat sich die Wissenschaft - Soziologie, Psychologie, Medizin, Ökonomie und zuletzt die Informatik - seit geraumer Zeit beschäftigt. Im Extremfall spricht man von Massenhysterie, bei der bestimmte Krankheitssymptome auftreten, die durch soziale Ansteckung bedingt sind. Eine Reihe solcher hysterischer Epidemien sind bekannt und in der medizinischen Fachliteratur beschrieben (20, 32). 

Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, dass Einsamkeit ansteckend sein soll. Wie kann man von jemandem angesteckt werden, der allein ist? Versteht man unter Einsamkeit jedoch das Erleben von sozialer Isolation ( und nicht die soziale Isolation selbst, die gar nicht gegeben sein muss), so wird durchaus widerspruchsfrei denkbar, dass sich dieses Erleben durch soziale Interaktion auf andere übertragen kann. 

Auch Verhaltensweisen wie Juckreiz und das sich Kratzen oder Gähnen können ansteckend sein (19). Man spricht hier von Verhaltensansteckung (engl.: behavioral contagion), bei Gefühlserlebnissen wie beispielsweise ansteckender Heiterkeit oder ansteckendem Unmut hingegen von emotionaler Ansteckung (emotional contagion). In der Finanzwelt spricht man von financial contagion, und meint damit, dass Finanzkrisen deshalb so tückisch sind, weil alle das Gleiche fühlen und tun und genau dadurch die Krise überhaupt erst entsteht: 


Wenn alle Geld abheben, weil alle Angst haben, das Geld würde knapp, kommt es aufgrund von emotionaler (die Angst der anderen wird zu meiner Angst) und verhaltensmäßiger (die anderen gehen zur Bank, also gehe ich auch zur Bank) Ansteckung zum Desaster. Denn erst die Ansteckung bewirkt, dass die Angst und das Verhalten tatsächlich berechtigt sind: Wenn alle Angst um ihr Geld haben und es vom Konto abheben, wird es tatsächlich knapp! 

Im Extremfall spricht man von Massenhysterie, bei der bestimmte Krankheitssymptome durch soziale Ansteckung bedingt sind.
Abb. 1 Nongqawuse (rechts) im Alter von 15 
oder 16 Jahren (gemeinfrei). Das Bild zeigt ein 
weiteres Mädchen, die 11-jährige Nonkosi, das 
die Nachricht von der bevorstehenden Auferstehung 
ebenfalls verbreitet und damit zur menschlichen 
Tragödie beigetragen hat. Beide tragen nicht 
ihre normale Kleidung, sondern wurden von der 
Frau des sie beide verhörenden Offiziers für das 
Foto eingekleidet.


Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Weltbevölkerung glaubt an die Auferstehung der Toten. Einem aufgeklärten Christen erscheint dies harmlos, aber nicht immer war das so. Betrachten wir ein Beispiel, das sich im Frühling 1856 in Südafrika ereignet hat. Ein Mädchen namens Nongqawuse holte Wasser aus einem Teich. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie ihrem Onkel, dass sie am Teich drei Geister gesehen habe, die ihr aufgetragen hatten, den Menschen in ihrem Dorf zu erzählen, dass die Toten auferstehen würden, wenn der gesamte Stamm (das waren über 100.000 Menschen) das gesamte Vieh (mehr als 400.000 Tiere) töten würde. Zunächst glaubte ihr niemand, aber schon einen Tag später hatte ihr Onkel eine ähnliche Erscheinung und erzählte sie den Häuptlingen und vielen Mitgliedern des Stammes. Daraufhin wurden etwa 400.000 Tiere tatsächlich geschlachtet, was eine Hungerkatastrophe und den Tod von mehr als 80.000 Menschen (über drei Viertel des gesamten Stammes!) nach sich zog.
mehr:
- Soziale Ansteckung (Manfred Spitzer, Editorial in der Zeitschrift Nervenheilkunde, Nr. 5/2017)

Verzeichnis der Editorials von Manfred Spitzer in der Zeitschrift Nervenheilkunde (Post, 04.12.2009)

Preisfrage:
Wieso kommt Manfred Spitzer darauf, einen solchen Artikel zu verfassen?