Montag, 3. September 2007

Medizin und Mitgefühl

Sprechstunde: Die Droge Arzt

Bereits in den 1950er-Jahren lud der ungarische Arzt Michael Balint Allgemeinmediziner in London zu Seminaren ein, um sich mit ihnen über die Wirkung und Bedeutung der »Droge Arzt« auszutauschen. Der Pionier der psychosomatischen Medizin ging davon aus, dass etwa ein Drittel der Arbeit eines praktischen Arztes Psychotherapie sei, ob er diese gelernt habe oder nicht. Inzwischen haben zahlreiche wissenschaftliche Studien bewiesen: Je besser die Beziehung zwischen Arzt und Patient, desto wirksamer ist die Behandlung – unabhängig von den Symptomen, mit denen ein Patient in die Praxis kommt.

Die Einsicht, dass es nötig ist, sich einem Patienten zuzuwenden, um ihm helfen zu können, ist vielen Medizinern dennoch fremd geblieben. Und spielt in der technisch ausgerichteten und an Symptomen orientierten Ausbildung nach wie vor keine Rolle, zumindest in Deutschland. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das 2004 eigens eingerichtet wurde, um herauszufinden, welche Therapien nachweislich wirken, beschränkt sich darauf, bei neuen Medikamenten die Spreu vom Weizen zu trennen.

»Mit der Frage nach dem Stellenwert der Empathie für den Behandlungserfolg haben wir uns noch nicht beschäftigt«, sagt Sprecherin Anna-Sabine Ernst – als sei der Zusammenhang zwischen dem, was verordnet wird, und dem, der es verordnet, ohne jede Bedeutung.

Axel Meeßen, Leiter der Abteilung Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung beim Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK), ist davon überzeugt, »dass der häufigste Grund für das Absetzen von Medikamenten und den Abbruch einer Behandlung Probleme in der Beziehung zwischen Arzt und Patient« seien. Mitgefühl müsse daher »immer Bestandteil der ärztlichen Leistung sein« und keine extra abzurechnende »Sonderleistung«.

»Ohne Vertrauen läuft gar nichts«, bestätigt der niedergelassene Allgemeinmediziner Hans-Michael Mühlenfeld. »Um meine Patienten langfristig begleiten zu können, muss ich dafür sorgen, dass sie sich bei mir gut aufgehoben fühlen.« Der Landesvorsitzende des Bremer Hausärzteverbandes begrüßt daher die erst kürzlich zwischen Krankenkassen und Ärztevertretern vereinbarte Aufwertung der sprechenden Medizin bei der Vergütung als »ersten Schritt« für mehr Kommunikation und Mitgefühl in der Diagnostik. Darüber hinaus müsse die Fähigkeit, eine gute Arzt-Patienten-Beziehung herzustellen, ähnlich wie in Großbritannien, Teil der Ausbildung werden und auch später in der Fortbildung immer wieder trainiert werden.

Eine Bewertung von Ärzten und Krankenhäusern etwa durch Patientenverbände, Verbraucherzentralen oder Krankenkassen kann ebenfalls dafür sorgen, der vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient mehr Geltung zu verschaffen: Indem öffentlich gemacht wird, welche Ärzte auch zuhören können und welche nicht.
• Birgit-Sara Fabianek



Jon Kabat Zinn wuchs zur Zeit des Vietnamkriegs in den Straßen von New York auf. »Wir waren eine entschlossene, manchmal etwas wirrköpfige Generation auf der Suche nach Authentizität und Verheißung, die uns die amerikanische Gesellschaft im kalten Krieg nicht geben konnte. Im Alter von 22 Jahren las ich ein Plakat mit der Aufschrift: »Die drei Säulen des Zen«. Ich hatte keine Ahnung, was das war, ging aber zu dem Vortrag und begann zu meditieren. Und das tue ich jetzt täglich, seit über 40 Jahren«, antwortet der Mediziner auf die Frage, was ihn inspirierte, das Thema Achtsamkeit aus der buddhistischen Lehre herauszulösen und in die medizinische Versorgung zu integrieren. In Deutschland erschien zuletzt 2006 sein Buch »Zur Besinnung kommen«.


»Wir wollen auch die kranke Medizin verändern«

Über Verantwortung und Mitgefühl in der Medizin. Fragen an Jon Kabat-Zinn, Gründer der Achtsamkeitsmedizin in den USA
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Von Eva Baumann-Lerch

Publik-Forum: Professor Kahat-Zinn, was verstehen Sie unter Achtsamkeit?
Kabat-Zinn: Achtsamkeit (englisch mindfulness) bedeutet: Ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt zu sein. Sich seiner Gefühle, Gedanken und Handlungen voll bewusst zu werden. Dieses Gewahrsein ist ohne Wertung und kann zu einer Geisteshaltung werden, die das ganze Leben prägt.

Publik-Forum: Wie haben Sie das im Krankenhausalltag umgesetzt?
Kabat-Zinn: Wir haben es einfach probiert und geschaut, was passiert. Zuerst haben wir uns im Keller des medizinischen Instituts mit Patienten verabredet, die unzufrieden mit ihrer Behandlung waren und deren Heilung nicht voranging. Dazu haben wir Übungen aus der Atemmeditation des Zen, aus der Vipassana-Meditation und auch ein wenig Yoga zusammengestellt und mit den Patienten geübt. Danach passierte Folgendes: Menschen mit schweren chronischen Krankheiten stellten Veränderungen fest, Fortschritte, die sie vorher trotz jahrelanger Behandlung nicht machen konnten. Wir haben das dokumentiert und ausgebaut, bis ich Ende der 1970er-Jahre die Stress Reduction Clinic gründen konnte.

Publik-Forum: Bei welchen Krankheiten sind diese Übungen sinnvoll?
Kabat-Zinn: MBSR kann bei fast allen Krankheiten und in jedem Stadium angewendet werden, wenn die Patienten dafür offen sind. Wir sagen ihnen gleich zu Beginn, dass sie viel Disziplin brauchen, acht Wochen lang, etwa 45 Minuten täglich. Wir versprechen ihnen keine Heilung, nur eine größere Ruhe und Gelassenheit, mit ihrer Situation umzugehen. Aber oft erleben wir. dass die Krankheitssymptome tatsächlich zurückgehen.

Publik-Forum: Ist das nachgewiesen?
Kabat-Zinn: Wir haben eine große Anzahl an Studien, die das belegen und auch im Internet verfügbar sind. Ein Beispiel: Psoriasispatienten, also Menschen, die an Schuppenflechte leiden, wurden angehalten, während der Bestrahlung zu meditieren. Während sie also in dem Lichtkasten saßen und ihre kranke Haut bestrahlt wurde, übten sie sich in Achtsamkeit und machten sich empfänglich für das heilende Licht. Die Haut dieser Patienten heilte viermal schneller als die von Patienten einer Vergleichsgruppe, die nicht meditiert hatten.

Publik-Forum: Die Medizin ist eine hochentwickelte Wissenschaft mit beeindruckenden und präzisen technischen Geräten. Reicht das nicht?
Kabat-Zinn: Die Medizin ist von der Technik entmachtet worden. Sie achtet nicht mehr auf die Gefühle, die Geschichten, die Deutungen der Patienten, sondern bedient vor allem Geräte. Dabei gehen wichtige Hinweise und Therapiemöglichkeiten verloren. Die Selbstheilungskräfte, die in den Menschen liegen, werden dadurch nicht mehr angesprochen.

Publik-Forum: Warum bieten Sie diese Übungen in der Klinik an, statt Patienten an Meditationszentren zu verweisen?
Kabat-Zinn: Die meisten Patienten würden niemals ein Meditationszentrum betreten. Sie haben ja mit Buddhismus oder anderen Strömungen nichts zu tun, warum sollten sie auch? Sie lassen sich auf unsere Methode ein, weil sie leiden und weil sie der Autorität der Ärzte vertrauen. Außerdem soll MBSR nicht nur eine nette kleine Therapie für einzelne Patienten sein, denen sonst nichts hilft. Wir wollen auch die Medizin selbst verändern. Denn auch die Medizin leidet an einer Krankheit: Sie ignoriert die tiefe innere Wirklichkeit der menschlichen Existenz. Es war meine Vision, die gesamte Denkstruktur der Medizin und all die falschen Vorstellungen über die Arzt-Patienten-Beziehung umzukrempeln.

Publik-Forum: Sie meinen, die Krankenhäuser sind selbst krank?
Kabat-Zinn: Krankenhäuser sind Orte, die das Leiden der ganzen Gesellschaft an sich ziehen. Buddhistisch formuliert sind sie Dukkha-Magneten. Ihre Kraftfelder ziehen diejenigen an, die zu einer bestimmten Zeit am meisten leiden. Die Menschen kommen in die Klinik, wenn sie nirgendwo anders mehr hinkönnen, wenn sie keine Optionen und Ressourcen mehr haben. Kann es einen besseren Ort geben, um Wege der Achtsamkeit zu üben, zur Überwindung von Kummer und Leid?

Publik-Forum: Sie hoben diese Übungen aus der buddhistischen Meditationspraxis abgeleitet. Können sich auch gläubige Katholiken, praktizierende Muslime oder Atheisten dorauf einlassen?
Kabat-Zinn: Um MBSR zu üben, muss man weder an Karma noch an Wiedergeburt glauben. Es geht bei dieser Praxis ausschließlich darum, achtsam in sich selbst hineinzufühlen, den inneren Zustand ohne alle Wertung anzunehmen. Das hat eine heilsame Wirkung, ganz unabhängig von religiöser Überzeugung. Wege der Achtsamkeit gibt es ja nicht nur im Buddhismus, sondern auch in anderen Religionen. Denken Sie an Qi Gong, Hatha-Yoga oder christliche Kontemplation.

Publik-Forum: Sie propagieren das nicht nur für Patienten, sondern auch für Ärzte, Psychologen und Pflegende. Worum sollten Mediziner meditieren?
Kabat-Zinn: Wer meditiert, wird innerlich klar und kann sich besser in sein Gegenüber einfühlen. Ein Arzt, der achtsam und innerlich wach ist, wird zutreffendere und genauere Diagnosen stellen und passendere Therapien veranlassen.

Publik-Forum: Die Debatte dreht sich bei uns in Deutschland vor allem um den Kostendruck im Gesundheitswesen. Kann ein Arzt überhaupt mitfühlend sein, wenn er nur drei Minuten Zeit für jeden Patienten hat und im Wartezimmer zwanzig andere warten?
Kabat-Zinn: In drei Minuten geht gar nichts. Wirklich – in drei Minuten kann man unmöglich verantwortlich arbeiten. Wenn mir das als Arzt zugemutet wird, muss ich streiken oder den Job hinschmeißen. Aber wenn einem Arzt auch nur eine Viertelstunde zur Verfügung steht, kann er seine Achtsamkeit einsetzen, Kranke Menschen sind dafür sehr empfänglich. Sie sehen das am Blick, sie hören es in der Stimme, sie spüren es an der Art, wie sie angefasst und behandelt werden. Es macht einen Riesenunterschied für die Heilung, ob Ärzte gehetzt und abweisend oder präsent und mitfühlend sind.

Publik-Forum: Geht der Anspruch nicht über das hinaus, was menschlich und innerhalb des Gesundheitssystems möglich ist?
Kabat-Zinn: Wenn man Mitgefühl als Willensanstrengung betrachtet, ist es bald erschöpft. Durch die Schulung der Achtsamkeit kann sich aber ein grundsätzliches Mitgefühl entwickeln, das ohne Anstrengung einfach da ist. Dieses Mitgefühl wirkt von sich aus, es ist wie die Sonne, die nicht darauf achtet, wem sie ihre Strahlen zukommen lässt, sondern einfach wärmt und strahlt.

Publik-Forum: Was brauchen Patienten, um sich gut behandelt zu fühlen?
Kabat-Zinn: Wir wollen gesehen werden, vollständig und ohne Urteil, mit allem, was wir sind. Wir wollen Fürsorge erfahren, Mitgefühl und echte Begegnung.




Achtsamkeit trainieren

Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindful Based Stress Reduction, kurz: MBSR) ist eine in den USA entwickelte Methode, Stress, Unruhe und körperliche Schmerzen durch innere Achtsamkeit zu bewältigen. Dabei handelt es sich um ein Übungsprogramm, das im Wesentlichen aus Meditationspraktiken besteht. Neben der traditionellen Sitzmeditation gehören Yogahaltungen und der sogenannte Body Scan zum Programm. Beim Body Scan wird der Körper von innen mit annehmender Aufmerksamkeit systematisch »abgescannt«. MBSR wird den Teilnehmern in achtwöchigen Kursen vermittelt. Während dieser Zeit kommen die Patienten einmal wöchentlich zu einer zweistündigen Übungssitzung zusammen. Außerdem verpflichten sie sich, täglich 45 Minuten zu Hause zu üben.

Wissenschaftliche Studien scheinen die Wirksamkeit des Programms zu belegen. Insbesondere dokumentieren sie eine Linderung von körperlichen und psychischen Symptomen, wachsendes Selbstvertrauen und Kreativität sowie eine verbesserte Immunabwehr. In den Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahrzehnten rund 12 000 Menschen an diesen Kursen teilgenommen. Auch in Europa gibt es ein wachsendes Interesse an der Methode. Im deutschsprachigen Raum wird MBSR bereits in einigen Kliniken eingesetzt, beispielsweise am Knappschaftskrankenhaus in Essen und am psychosomatischen Zentrum Waldviertel in Eggenburg in Österreich.
• Eva Baumann-Lerch

Kontakt: MBSR-Verband unter Tel. 030/79 70 11 04 oder im Internet unter www.mbsr-verband.org

aus Publik-Forum Nr. 15/2007