Dienstag, 28. Juni 2011

Korrespondenz aus Moskau



 Rußlands neuer Adel

Den Aufstieg des KGB-Offiziers Wladimir Putin an die Spitze der Staatsmacht in Rußland begleitete eine große Entourage an ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern. Diese haben die Routinen ihrer früheren Tätigkeit mit in die Politik eingebracht: Mißtrauen gegenüber öffentlichen Einrichtungen; strenge Kontrolle der Medien; ein Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Elite mit Zugang zu Informationen, wie sie für einfache Sterbliche nicht verfügbar sind; reflexartiges Erklären politischer Veränderungen durch die Machenschaften konkurrierender (vor allem amerikanischer) Geheimdienste.

Im Jahr 2000 empfahl der damalige Chef des russischen Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, der russischen Gesellschaft seine Untergebenen in schmeichelhaftesten Tönen: „…unsere besten Mitarbeiter, der Stolz des FSB, arbeiten nicht um des Geldes willen. … Sie sind auf den ersten Blick verschieden, aber es gibt eine Eigenschaft, die sie gemein haben: Sie sind Staatsdiener, der ‚neue Adel’ der heutigen Zeit.


Konspirationsmanie

Die wichtigste Ressource dieser neuen Staatsmacht der nuller Jahre war die durch die Privatisierungswelle der neunziger Jahre traumatisierte Bevölkerung, die im Zuge der Reformen einen Großteil ihrer Ersparnisse aus Sowjetzeiten und ihre Zuversicht verloren hatte. Die Begriffe „Sicherheit“ und „Stabilität“, die der neue Mann an der Spitze und seine Entourage gebetsmühlenartig wiederholten, waren Balsam auf ihre frischen Wunden. Aus westeuropäischer Sicht waren die wichtigsten Errungenschaften der Jelzin-Zeit weitgehende Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit; bis Ende der neunziger Jahre gab es keine politischen Gefangenen; der Präsident durfte kritisiert, selbst der erste Tschetschenienkrieg konnte 1996 beendet werden. Aber Massenverelendung ist kein guter Nährboden für Freiheit. Was nützt es, die Wahrheit zu erfahren, wenn man nichts ändern kann – so dachten damals viele einfache Russen. Was bringen uns all die Freiheiten, wenn die Gegenwart trostlos ist (mit Müh und Not verdient man genug, um sich über Wasser zu halten) und unsere Zukunft voll Ungewißheit? (Man kann von heute auf morgen entlassen werden.)

Die Kaste des „neuen Adels“, die unter dem Vorzeichen des zweiten Tschetschenienkrieges (seit 1999) an die Macht gekommen war, unterstellte die Medien einer rigiden Kontrolle, beseitigte die im Entstehen begriffene Gewaltenteilung, schaffte die Gouverneurswahlen ab und unterdrückte oder kriminalisierte die Opposition. Alles geschah, insbesondere nach dem 11. September 2001, unter dem Vorwand der Gewährleistung von Sicherheit angesichts einer von militantem Islamismus ausgehenden terroristischen Bedrohung.

„Wir werden die Terroristen überallhin verfolgen“, hat Wiadimir Putin vor zwölf Jahren versprochen: „Und wenn sie auf dem Flughafen sind, dann eben auf dem Flughafen. Wir werden sie – ich bitte, den Ausdruck zu entschuldigen auf der Toilette kriegen, sie schließlich auf dem Lokus kaltmachen. Damit ist Schluß, die Frage ist endgültig geklärt.“ Nach dem jüngsten Bombenanschlag auf dem Flughafen Domodedowo haben die Worte des heutigen Ministerpräsidenten von Flughäfen als Orten der Verfolgung von Terroristen einen bitter-ironischen Beigeschmack bekommen: Terroranschläge sind düsterer Alltag geworden; im Nordkaukasus geschehen sie fast täglich, und auch in Moskau fühlen sich die Menschen immer weniger sicher. Trotz des um ein Vielfaches erhöhten Budgets, das vor allem dem Föderalen Sicherheitsdienst FSB zur Verfügung steht, gelingt es nicht, den Terrorismus mit Waffengewalt zu unterdrücken.

Der „neue Adel“ hält sein Vorgehen streng geheim. Informationen, die an die Öffentlichkeit herausgegeben werden, können in der Regel nicht verifiziert werden. So waren in der Presse Berichte über die Liquidierung des tschetschenischen Feldkommandeurs Doka Umarow zu lesen, die detaillierte Beschreibungen seiner Leiche enthielten. Doch es erwies sich, daß Umarow nicht nur am Leben ist, sondern sogar für die jüngsten Anschläge die Verantwortung übernommen hat. Behauptungen, der Anschlag in Domodedowo sei gegen Ausländer gerichtet gewesen, wurden mit keinerlei Belegen untermauert.

Die Konspirationsmanie nimmt zuweilen groteske Formen an. Obwohl es in Wladimir Putins Residenz Nowo-Ogarjowo nahe Moskau ein gesondertes Gebäude für offizielle Empfänge, ein Gästehaus, eine Sporthalle und ein Schwimmbad gibt, traf die vor drei Monaten durchgeführte Volkszählung Putin und seine Gattin aus unerklärlichen Gründen in einer ähnlich eingerichteten Wohnung an, ausgestattet mit einem veralteten Fernseher und einem Kassettenrekorder, für den es längst keine passenden Kassetten mehr zu kaufen gibt. Alles darin erinnerte laut Beschreibung des Fachblattes Real Estate an „ein Hotel für Handelsvertreter oder eine konspirative Wohnung sowjetischer Geheimdienstler“.[1] Offenbar entspricht das den Vorstellungen, welche die Imageberater des russischen Ministerpräsidenten von der Wohnung eines durchschnittlichen Russen haben – ein weiterer Beweis dafür, wie lebensfremd sie geworden sind.


Kuschtschowkajasyndrom

Als der FSB-Chef behauptete, daß die Staatsbediensteten nicht des Geldes halber arbeiteten, unterschätzte er das Streben seiner Untergebenen nach persönlicher Bereicherung. Seit sie die Macht in Rußland übernommen haben, wuchs die Korruption um ein Vielfaches. Die sogenannten silowiki (die Angehörigen der Sicherheitsstrukturen) betrachten Unternehmer, insbesondere kleine und mittelständische, als „wandelnde Steaks“. (Dieser Ausdruck stammt vom Vorsitzenden Richter des russischen Verfassungsgerichtes, Waleri Sorkin.) Wenn nach Angaben der Obersten Ermittlungsbehörde die durchschnittliche Höhe von Bestechungen in Rußland 2010 etwa eintausend US-Dollar betrug, so lag sie in Moskau beim zwanzigfachen dieser Summe, und in manchen Fällen erreichten Schmiergeldzahlungen die 300.000-US-Dollar-Marke. Dabei beträgt die Höchststrafe für Bestechung nach dem geltenden Strafgesetzbuch 6.500 US-Dollar, die Höchstdauer der Haftstrafe für diesen Straftatbestand drei Jahre.

In einem Artikel mit dem Titel „Grabjat wse“ [„Es stehlen doch alle“] stellte ein seit 34 Jahren tätiger Unternehmer kürzlich mit Verbitterung fest: „Illegal unternehmerisch tätig zu sein, mit allen dazugehörenden Risiken und Gefahren, war in der Sowjetunion einfacher, als es im heutigen Rußland legal zu tun!“[2] Nach Meinung der Vereinigung russischer Kaufleute und Unternehmer entspricht das Verhältnis zwischen Staatsmacht und Unternehmertum im heutigen Rußland dem Stand von der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Reformen des Zaren Alexander II. und die Abschaffung der Leibeigenschaft noch bevorstanden: Die Unternehmer sind voll und ganz dem Willen der Staatsbeamten ausgeliefert und stehen deshalb der Gesellschaft gleichgültig gegenüber. Das führt dazu, daß selbst bei einem Ölpreis von einhundert US-Dollar pro Barrel das Kapital aus Rußland abfließt und der Staatshaushalt ein Defizit aufweist.

In meiner letzten Korrespondenz (Verrohung und Verführung, Lettre International 91) berichtete ich über einen Massenmord in der nordkaukasischen Ortschaft Kuschtschowskaja. Mittlerweile haben die Ermittlungen ergeben, daß hinter diesem Massenmord ein Mann stand, der Parlamentsabgeordneter, Unternehmer und Bandenchef in einer Person ist. Seine Schutzpatrone hatte er auf allen Ebenen – bis hinauf zum Leiter der Abteilung für Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Im russischen Journalismus gibt es seitdem einen neuen Terminus: das „Kuschtschowskajasyndrom“. Er bezeichnet das Verschmelzen von kriminellen Strukturen, Geschäftswelt und allen drei Staatsgewalten. Eine ähnliche Beschreibung enthält der von WikiLeaks veröffentlichte Briefwechsel zwischen der Amerikanischen Botschaft in Rußland und dem Außenministerium der USA; Rußland wird darin als „korrupte, autoritäre Kleptokratie“ bezeichnet, die sich um die Führungsgestalt Wladimir Putin geschart habe und in der Staatsbeamte, Oligarchen und die organisierte Kriminalität miteinander verflochten seien und einen wahrhaften Mafiastaat bildeten.


Die nächste Zukunft

Wie sieht die Zukunft der russischen „Machtvertikale“ aus? Wird Rußland dem Beispiel Tunesiens und Ägyptens folgen, deren Bevölkerungen es geschafft haben, ihre Staatsführer zu vertreiben? Wird es sich durch Reformen, wie Präsident Medwedew sie vorschlägt (der allerdings bisher noch nichts zu ihrer Umsetzung getan hat), von der „autoritären Kleptokratie“ befreien können, oder wird der Vielvölkerstaat in Teilfürstentümer zerfallen? Auf die alles durchdringende Korruption und die Terroranschläge antworten verzweifelte Russen bisher stets mit dem Ruf nach einer stärkeren Rolle des Staates.

Im Vergleich mit Ägypten und Tunesien verfügt Rußland über sehr viel bedeutendere natürliche Ressourcen, und der Anteil der Jugend, die in den arabischen Ländern den Motor der Protestbewegung bildet, ist in der russischen Bevölkerung viel geringer. Demographisch steht Rußland noch schlechter da als Westeuropa. Außerdem hat der Nahe Osten weder den militanten Atheismus der Sowjetmacht noch den Großen Terror erlebt und blickt nicht wie Rußland auf die Erfahrung von zwei Weltkriegen zurück, die Millionen und Abermillionen von Leben forderten und die sozialen Instinkte der heutigen Russen entscheidend geprägt haben.

Die russischen Eliten stellen dabei keine Ausnahme dar. Das Verhalten der russischen Führungselite entbehrt augenscheinlich jeder Logik. Es kursieren Gerüchte über ihren märchenhaften Reichtum, doch ungewöhnlich ist dabei nicht, daß die Führungselite diesen Reichtum verbirgt, sondern der Umstand, daß sie einen offenen Konflikt mit Westeuropa ausgetragen und gleichzeitig ihre Familien dorthin umgesiedelt hat. Indem der „neue Adel“ seinen Haß auf den Westen theatralisch in Szene setzt, erschwert er sich selbst den Zugang zu seinen Familien und seinem Geld. In der OSZE wird die Frage diskutiert, ob Staatsbeamten, die sich an der gerichtlichen Abstrafung von Michail Chodorkowski beteiligt haben, das Einreiserecht in die EU entzogen werden soll; die russische Opposition besteht auf einem solchen Schritt. Lettland verweigerte dem ehemaligen Bürgermeister von Moskau Juri Luschkow bereits die Aufenthaltserlaubnis aufgrund von ihm geäußerter Beleidigungen.

Angesichts der strengsten Konspiration, in der sich der „neue Adel“ aus alter Gewohnheit übt, drängt sich das Sprichwort auf: „Bildung schützt vor Torheit nicht.“ Auch eine erfahrene Spinne verfängt sich bisweilen im eigenen Netz.
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Aus dem Russischen von Elena und Dirk Uffellmann

[1] „Putin pokasal wsem, kak on schiwjot“. In: Real Estate, 19. Oktober 2010
[2] Ilja Chandrikow, „Grabjat wse. Kak maly i sredni bisnes pereschil 2010 god“. Auf: www.kasparov.ru, 11. Januar 2011

aus Lettre 92, Frühjahr 2011