Dienstag, 14. Dezember 2010

Die Angst vor dem Islam

Das Generalthema, mit dem sich die gesellschaftskritische Psychoanalyse seit je Ärger zuzieht, ist die kollektive Projektion von verdrängtem Selbsthass auf äußere Hassobjekte. Wem dieser Mechanismus Erleichterung bringt, der wehrt sich gegen dessen Aufdeckung und neigt dazu, den Psychoanalytiker den Gegnern bezugesellen. Zur Zeit des atomaren Wettrüstens untergrub ich, wie es hieß, die Wehrbereitschaft des christlichen Abendlandes. Dann verwandelte ich mich in einen vermeintlichen Pro-Islamisten und Sympathisanten des Terrorismus. Solche Verdächtigungen ernte ich automatisch, wenn ich nicht nur für Toleranz werbe, sondern die verdeckte Hassprojektion der Intoleranz beim Namen nenne.

Seit das ›Böse‹ Moskaus in die islamischen ›Schurkenländer‹ umgezogen ist, kann ich mich allerdings eines hochangesehenen Türken als Bundesgenossen erfreuen, der sowohl mit dem Literaturnobelpreis als auch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden ist. Die Rede ist von dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk. Er hat folgenden Text geschrieben: »Der Westen hat leider keine Vorstellung von dem Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten einzulassen.« Pamuk fährt fort: »Heute ist das Problem des Westens weniger, herauszufinden, welcher Terrorist in welchem Zelt, welcher Gasse, welcher fernen Stadt seine neue Bombe vorbereitet, um dann auf ihn Bomben regnen zu lassen. Das Problem des Westens ist mehr, die seelische Verfassung der Armen, Erniedrigten und stets im ›Unrecht‹ stehenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt.«

Sir Peter Ustinov schreibt in seinem letzten Buch Achtung! Vorurteile ähnlich: »Der Terrorismus, der in dem furchtbaren 11. September kulminierte, ist ein Krieg der Armen gegen die Reichen. Der Krieg ist ein Terrorismus der Reichen gegen die Armen.« Fundamentalistische Islamophobie verällt zusammen mit dem militanten Islamismus in einen Austausch wechselseitiger Hassprojektion. In der Süddeutschen Heitung (14.01.2010) warnte Thomas Steinfeld eindringlich vor hiesigen ›Hass-Predigern‹ wie Henryk M. Broder, die selbst zu Fundamentalisten würden. »Wenn man aber mit den westlichen Werten ebenso kämfperisch umgeht, wie es der radikale Islam mit seinen Schriften tut, dann verhält man sich wie der, den man sich zum Feind erkoren hat.«

Der Vergleich ist treffend, aber er lenkt von dem fruchtbaren Bemühen ab, den Streit zu versöhnen. Seit 15 Jahren erinnere ich immer wieder an drei große Philosophen, die während der blutigen mittelalterlichen Kreuzzüge auf die gemeinsame Wurzel der drei monotheistischen Religionen hinwiesen. Den Anstoß gab der arabische Philosoph Ibn Rushd oder Averroes. Vereinfachend gesagt lautete seine Botschaft so: Jede der drei Religionen hat einen eigenen spezifischen Teil. Das ist die Offenbarung. Daneben aber existiert eine gemeinsame Vernunftreligion, eine Art Gattungsvernunft. Ein intellectus agens, eine aktive Intelligenz, die eine gemeinsame Wertewelt aller drei Religionen enthält, wie wir es heute vielleicht nennen würden. Diesen Gedanken nahmen der jüdische Philosoph Maimonides und der deutsche Dominikaner Albertus Magnus auf.

Die drei stoppten damit nicht die Kreuzzüge. Aber sie setzten ein lange nachwirkendes Zeichen. In Paris und Oberitalien leben die Ideen des Arabers Averroës lange weiter. Noch im 18. Jahrhundert preist ihn Voltaire als wichtigen Aufklärer des westlichen Kulturprozesses. Unlängst war es der ägyptische Präsident Anwar at Sadat, der mit der gemeinsamen Verwurzelung der monotheistischen Religionen seine Versöhnungspolitik mit Israel begründete. Er besuchte Israel und schloss mit Ministerpräsident Begin einen Friedensvertrag, was beiden die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis einbrachte. Später starb Sadat bei dem Anschlag eines heimischen Fanatikers.

Eine seiner ersten Reden als Präsident der USA hielt Barack Obama in Kairo, in der er den islamischen Staaten die Hand reichte. Wunderbare Reden, Staatsbesuche, Treffen der Religionen und akademische Tagungen können die tiefe Kluft der Entfremdung dennoch nicht verleugnen, die sich über die Jahrhunderte aufgetan hat. Umso wichtiger ist jede Anstrengung, sich an die gemeinsame Wurzel der Religionen zu erinnern und darüber nachzudenken, wenn Feindschaft erkennbar dem Bedürfnis folgt, eigenen Frust durch Projektion abzureagieren.

Das Christentum war in schlechter Verfassung, als Papst Urban II. 1095 in Clermont zum I. Kreuzzug aufrief: »Hier sind die Freunde Gottes, dort sind seine Feinde.« Ähnlich klang es bei Bush nach dem 11. September: »Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen!« Dann führte er Krieg gegen Saddam Hussein. Bush hätte die Amerikaner und die halbe Welt nicht in den Irak-Krieg verwickeln und mit dem Krieg keine zweite Wahlperiode überstehen können, wäre ihm nicht das tief verankerte Bedürfnis nach Hassprojektion in der Bevölkerung zu Hilfe gekommen. Viele waren deshalb bereit zu übersehen, dass der Krieg den islamistischen Terrorismus im Irak erst entflammt hat.

Nun ist das militärische Abenteuer im Irak gescheitert, und die Amerikaner haben mit Obama einen Präsidenten gewählt, der ihnen die Aussicht eröffnet, die nationale Selbstachtung durch eine moralische Neuorientierung wiederherzustellen. Amerika als Versöhnungsmacht. Ein Präsident, der den Mut hat, Hiroshima als Schuld einzugestehen, der den Atomwaffensperrvertrag wieder anerkennt und auf das Endziel einer atomwaffenfreien Welt hinarbeitet. Doch hat ihm Bush ein Afghanistan hinterlassen, in dem eine Vielzahl von zivilen Bombenopfern das erhoffte Vertrauen der Bevölkerung weitgehend zerstört hat. Einen tragfähigen Frieden wird es aber nur im Konsens mit maßgeblichen Kräften im Lande geben.

Viele sehen Obama auf dem Prüfstand. Wird er die in ihn gesetzten Hoffnungen erfülLen? Aber das ist die falsch gestellte Frage. Die richtige lautet: Werden die Amerikaner den Weg durchhalten, für den sie sich durch Obamas Wahl entschieden haben? Werden sie selbst ihr »We can, yes, we can!« wahr machen, das sie ihm zugerufen haben? Und wird der Westen einen Weg mitgehen, der den Menschen den Mut zu mehr sozialer Verantwortung und zu mehr Friedfertigkeit abfordert? Es geht in der Tat um eine radikale Umbesinnung. Psychoanalytisch kann man auch wieder von der Arbeit an einer Verdrängung sprechen. Die Psychoanalyse kann immer nur auf das Verdrängte aufmerksam machen und auf einen Gesundungswillen hoffen, der das Verdrängte befreit. Welches aber ist das Verdrängte in dieser Zeit?


Dieser Aufsatz ist dem folgenden aktuellen Titel entnommen:

Horst-Eberhard Richter: Moral in Zeiten der Krise.
Suhrkamp Verlag Berlin 2010-12-09 ISBN 978-3-518-46231-7
(entnommen einem Flugblatt der IPPNW)

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In dem Artikel werden zwei in Spanien lebende Philosophen erwähnt, deren Todestage gerade verstrichen sind:

Averroës, geb. 1126 in Córdoba, gest. 10.12.1198 in Marrakesh, auch Ibn Ruschd genannt, war ein spanisch-arabischer Philosoph und Hofarzt der berberischen Dynastie der Almohaden von Marokko.

 


Er ist der wichtigste arabische Philosoph, auch im Hinblick auf die christlich/ europäische Philosophie. Sein Werk besteht zum großen Teil aus Erläuterungen der aristotelischen Philosophie und Kommentaren dazu. Allerdings geht er vielfach über Aristoteles hinaus. Seine Auffassungen stimmen weitgehend mit denen seines philosophischen „Vorgängers“ in der islamischen Welt Avicenna überein.
Materie und Formen: Nach Averroës werden die Formen nicht von außen an die Materie herangetragen, sondern sie seien in der ewig existierenden Materie bereits enthalten und entfalten sich im Verlaufe des Entwicklungsprozesses. [Man könnte fast schon von „materiellen Gesetzmäßigkeiten“ sprechen. Oder vielleicht auch davon, daß Form und Stoff (Materie) nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Dann wäre man bei Spinoza.]
Sterblichkeit der Seele: Averroës leugnete die Unsterblichkeit der Seele. Er kannte nur einen unsterblichen Geist, der überpersönlich sei. (Pantheismus) So sagte er, Sokrates und Platon seien sterblich, aber unsterblich sei die Philosophie.
Ethik: Es sei eine höhere Stufe der Sittlichkeit, wenn man das Gute um seiner selbst willen e, und nicht weil man Belohnung erwarte, bzw. Strafe vermeiden wolle. [! Wie Sokrates und eventuell Kant. Bei Kant geht es zwar mehr um das Sittengesetz und die Pflicht, als um das Gute. Aber es ist zumindestens ähnlich.]
Philosophie und Religion: Die Philosophie ist gegenüber der Religion die höhere und reinere Wahrheit. In der Religion erscheine diese Wahrheiten in bildlicher Einkleidung, die dem schwachen Verständnis der Menge angepaßt sei.
Es ist wohl nicht verwunderlich, daß die islamische Geistlichkeit die Philosophie des Averroës auf das Schärfste verdammte und seine Schriften verbrennen ließ. Averroës starb in der Verbannung.

Averroës im Internet:


Moses Maimonides, geb. zwischen 1135 und 1138 in Córdoba, gest. 13.12.1204 in Kairo, war ein jüdischer Philosoph, Arzt und Rechtsgelehrter.

 


Er ist der bedeutendste jüdische Aristoteliker des Mittelalters. Außer den Propheten sei niemand der Wahrheit so nahe gekommen wie Aristoteles. (Ähnliches sagte der Jude Philon in der Antike.)
Jüdische Philosophie: Im moslemisch beherrschten Spanien fanden auch viele Juden eine Stätte verhältnismäßig freier Entfaltung. Das Wirken jüdischer Philosophen zu dieser Zeit ist gekennzeichnet durch das Bestreben, die Dogmen der eigenen Religion mit Gedanken der griechischen Philosophie zu verschmelzen.
Vernunft und Glaube: Die Ergebnisse von Vernunft und Glauben stimmten grundsätzlich überein, wo aber ein Gegensatz zwischen Vernunfterkenntnis und Glauben auftratt, gab Maimonides der Vernunft den Vorrang. Die Schrift wurde dann allegorisch ausgelegt.


Siehe auch zwei ältere Posts:
- Wollen wir einen kastrierten Papst? (September 2006)

Planck’sches Wirkungsquantum – Die moderne Atomphysik begann heute vor 110 Jahren

Am 19. Oktober 1900 gab der deutsche Physiker Max Planck in der Physikalischen Gesellschaft in Berlin sein berühmtes Strahlungsgesetz bekannt, welches die Strahlung Schwarzer Körper (der Begriff wurde 1860 durch Gustav Kirchhoff geprägt) korrekt beschrieb, was auch sofort durch neue genaueste Messungen bestätigt wurde. Diese Formel hatte jedoch einen kleinen Schönheitsfehler. Sie enthielt eine Konstante, mit der niemand etwas Rechtes anzufangen wusste. Aber schon am 14. Dezember 1900, heute vor 110 Jahren, wieder in der Physikalischen Gesellschaft, konnte er eine theoretische Begründung vortragen, die der Konstanten den Rang einer universellen Naturkonstanten zuwies. Sie heißt heute das Planck’sche Wirkungsquantum und bedeutet, dass die Atome Energie nur in bestimmten kleinen Portionen (Quanten) aufnehmen oder abgeben können. Das war die Geburtsstunde der modernen Atomphysik und die Grundsteinlegung für die sich entwickelnde Quantenphysik. (Die Verwendung des Ausdrucks „Quantenphysik“ ist erstmals 1929 in Max Plancks Vortrag Das Weltbild der neuen Physik dokumentiert.) Max Planck erhielt 1918 für die Entdeckung des Planck’schen Wirkungsquantums den Nobelpreis für Physik.

Ab 1927 wurde versucht, die Quantenmechanik nicht nur auf Partikel, sondern auch auf Felder anzuwenden, woraus die Quantenfeldtheorien entstanden. Diese bilden die Grundlage aller Versuche, eine vereinheitlichte Theorie aller Grundkräfte (ToE) zu formulieren. Insbesondere bauen Supersymmetrie, Stringtheorie, Schleifenquantengravitation und Twistor-Theorie maßgeblich auf den Methoden und Konzepten der Quantenfeldtheorie auf.

Die Vereinheitlichung der drei Grundkräfte elektromagnetische, schwache (vereinheitlicht in elektroschwacher SU(2) × U(1) Eichtheorie) und starke Wechselwirkung (Quantenchromodynamik, QCD) ohne die Gravitation wird als große vereinheitlichte Theorie bezeichnet (GUT = Grand Unified Theory). Durch die Verwendung der Stringtheorie hofft man, die Gravitation miteinbeziehen zu können.


eine ausgezeichnete Zusammenfassung Plancks wissenschaftlichen Werdegangs bei prohlis-online