Freitag, 21. September 2007

Hungergeister

Angeregt durch konfusius’ lesenswerten Kommentar zum letzten Post »Geiz ist geil zum nächsten« und die Schwierigkeiten, die ein Freund mit seiner Freundin hat (und die auch mit ihm) einige Zitate aus Mark Epsteins Buch »Gedanken ohne den Denker«

Da es im Folgenden um Elemente aus dem Buddhistischen Lebensrad geht, ist es hilfreich (aber nicht notwendig), sich darüber zu informieren. Auf der Wikipedia-Seite gibt es ganz unten ein Link zur Seite des Dharmapala Thangka Zentrum in Bremen, die eine interaktive Seite zum Lebensrad anbieten.

Vorangestellt ein Zitat Zen-Meister Dogens


Den Buddhismus studieren, ist das Selbst studieren. Das Selbst studieren, ist das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen, ist mit anderen eins sein.


Eines der überzeugendsten Momente der buddhistischen Sicht des Leidens ist die im Bild des Lebensrads enthaltene Vorstellung, daß die Ursachen des Leidens zugleich die Mittel zur Erlösung sind; das bedeutet, die Perspektive des Leidenden bestimmt, ob ein gegebener Bereich Medium des Erwachens oder der Gefangenschaft ist. Von den Kräften der Gier, des Ärgers und der Torheit bestimmt, verursacht unsere fehlerhafte Wahrnehmung der Bereiche – nicht die Bereiche selbst – das Leiden. Jeder Bereich enthält eine kleine Buddha–Gestalt (eigentlich handelt es sich um den Bodhisattva des Mitgefühls, dessen Streben darauf gerichtet ist, das Leiden anderer zu beseitigen), die uns auf symbolische Weise lehrt, wie wir die falschen Wahrnehmungen korrigieren können, die jede Dimension verzerren und damit das Leiden perpetuieren. Wir erfahren keinen Bereich in aller Klarheit, lehren die Buddhisten; statt dessen durchleben wir sie alle angsterfüllt; abgeschnitten von der Fülle der Erfahrung, unfähig, sie zu akzeptieren, fürchten wir uns vor dem, was wir zu sehen bekommen. So wie wir den »geschwätzigen Affen« in uns nicht zum Schweigen bringen können, so gleiten wir von einem Bereich in den nächsten, ohne wirklich zu wissen, wo wir uns befinden. Wir sind in unserem Geist befangen, kennen ihn aber nicht wirklich. Von dessen Wellenbewegung angetrieben, treiben wir dahin und mühen uns ab, weil wir nicht gelernt haben, loszulassen und frei zu schweben.
Dies ist die andere Möglichkeit, das Lebensrad zu verstehen, weniger wörtlich als psychologisch. Schließlich ist die Hauptfrage der buddhistischen Praxis die psychologische Frage: »Wer hin ich?« Ihre Beantwortung erfordert die Erkundung aller Daseinsbereiche. Diese verwandeln sich somit in Metaphern für verschiedene psychologische Zustände, wodurch das ganze Rad zur Darstellung des neurotischen Leidens wird.
Dem Buddhismus zufolge ist es unsere Furcht davor, uns unmittelbar selbst zu erfahren, die Leiden schafft. Dies schien mir immer sehr gut zu Freuds Ansichten zu passen. So behauptete Freud, der Patient

muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen der Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt.

Der Glaube, daß Versöhnung zur Erlösung führen kann, ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Bereichen. Wir können nicht zur Erleuchtung gelangen, solange wir unserem neurotischen Geist entfremdet bleiben. Wie Freud so weitblickend bemerkte: »Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Ausdruck die dauernde Genesung von der Neurose ist, ... denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.« In jedem Bereich unserer Erfahrung, lehren die Buddhisten, müssen wir klar sehen lernen. Nur dann läßt sich das Leiden umwandeln, das der Buddha als universell erkannte. Die Erlösung vom Lebensrad, von den Sechs Daseinsbereichen wird traditionell als Nirvana beschrieben und mit dem Pfad symbolisiert, der aus dem Bereich der Menschen hinausführt. Es ist jedoch mittlerweile ein grundlegendes Axiom des buddhistischen Denkens, daß Nirvana Samsara ist – daß es keinen getrennten Bereich des Buddha neben der weltlichen Existenz gibt, daß die Erlösung vom Leiden durch eine veränderte Wahrnehmung gewonnen wird, nicht durch das Überwechseln in ein himmlisches Reich.
Die westliche Psychologie hat viel zur Erhellung der Sechs Bereiche beigetragen. Freud und seine Anhänger deckten die animalische Natur der Leidenschaften auf, die höllische Natur von paranoiden, aggressiven und Angstzuständen sowie die unstillbare Sehnsucht, das orale Verlangen (im Lebensrad sind es die Hungergeister). Spätere Entwicklungen in der Psychotherapie rückten sogar die höheren Bereiche in den Mittelpunkt. Die humanistische Psychotherapie legte den Schwerpunkt auf die »Gipfelerlebnisse« (Maslow) im Bereich der Götter; die Ich–Psychologie, der Behaviorismus und die kognitive Therapie forderten das wettbewerbsfähige und effiziente Ich, das im Buddhismus im Bereich der Neidischen Götter angesiedelt ist; und die Psychologie des Narzißmus behandelte ausdrücklich die für den Bereich der Menschen so wichtigen Fragen der Identität. Jede dieser Richtungen befaßte sich mit der Rückgabe eines fehlenden Stücks menschlicher Erfahrung, eines Moments des neurotischen Geistes, von dem wir uns entfremdet haben.
Das Interesse an der Integration aller Aspekte des Selbst ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Daseinsbereichen. Wir sind nicht nur von diesen Aspekten unseres Charakters entfremdet, behauptet die buddhistische Lehre, sondern auch von unserer eigenen Buddha–Natur, von unserem eigenen erleuchteten Geist. In der Meditation kann man lernen, das ganze Material der Sechs Bereiche zu erschließen und damit alle Punkte, an denen unser Geist haftet.


Der Bereich der Hungrigen Geister


Die Hungergeister sind wahrscheinlich die eindrucksvollsten Gestalten im ganzen Lebensrad. Mit ihren verkrüppelten Gliedmaßen, dick aufgedunsenen Bäuchen und langen, dünnen Hälsen stellen diese phantomartigen Kreaturen auf vielerlei Weise die Verschmelzung von Zorn und Begierde dar. Von unerfüllten Sehnsüchten gepeinigt, verlangen die Hungrigen Geister unablässig nach unmöglichen Befriedigungen, und suchen so, alte, unerfüllte Bedürfnisse zu stillen. Es sind Wesen, die in sich eine schreckliche Leere entdeckt haben, die nicht einsehen, daß es unmöglich ist, im nachhinein etwas zu ändern. Ihr gespenstischer Zustand symbolisiert ihre Bindung an die Vergangenheit.
Außerdem können die Hungergeister, obwohl sie unheimlich hungrig und durstig sind, weder trinken noch essen, ohne daß es ihnen furchtbare Schmerzen bereitet. Ihre langen, dünnen Hälse sind so schmal und wund, daß sie beim Schlucken unerträglich gereizt werden und brennen. Ihre aufgeblasenen Bäuche können keine Nahrung verdauen; alle Versuche, den Hunger zu stillen, verstärken nur noch die Hungergefühle und das Verlangen. Die Hungrigen Geister sind unfähig, sich eine angemessene, wenn auch kurzlebige Befriedigung zu verschaffen. Sie bleiben ständig in der Wahnvorstellung befangen, sie könnten von vergangenem Schmerz vollkommen erlöst werden, und wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß ihr Wunsch unerfüllbar ist. Diese Menschen sind vom Wissen um die Unstillbarkeit ihres Verlangens entfremdet, sie müssen sich ihre Phantasievorstellung erst als eine solche klarmachen. Die Hungergeister müssen mit der gespenstischen Natur ihrer eigenen Sehnsüchte in Berührung kommen.
Dies ist jedoch, selbst mit der Hilfe eines Psychotherapeuten, keine leichte Aufgabe für einen Hungrigen Geist. Problemfälle aus dem Bereich der Hungergeister kommen zunehmend in die Praxis des Psychotherapeuten. Erst kürzlich war Tara, eine Professorin für französische Literaturgeschichte, meine Patientin; ihr Leben war das personifizierte Schicksal der Hungrigen Geister. Sie schilderte eine lange Reihe von Beziehungen mit anderen erfolgreichen Akademikern. Tara fing immer wieder eine leidenschaftliche Liaison zu einem Mann an, während sie noch eine Beziehung zu einem anderen hatte. Dabei hielt sie den Mann, mit dem sie gerade zusammenlebte, immer auf Distanz. Plötzlich entdeckte sie all seine Fehler und Schwächen, sie begann, das sexuelle Interesse an ihm zu verlieren und vor allem ihn daran zu hindern, sie körperlich und emotional zu berühren. Zur gleichen Zeit träumte sie schon von dem anderen, der in ihr Leben treten würde. Sexuell war sie zwar sehr erfahren, doch hatte sie nur selten einen Orgasmus und gestand ein gewisses vages Unbehagen bei Intimitäten. Sie erinnerte sich an eine unglückliche und sehr kritische Mutter, die sie als Kind selten berührt hatte und einmal sogar, als sie wegen Taras Sturheit beleidigt war, deren Teddybär zerrissen hatte. Tara kam in die Therapie, nachdem sie es zuerst mit der Zen-Meditation (Zazen) versucht hatte, vor der sie aus unerfindlichen Gründen große Angst hatte, und zwar so sehr, daß sie aus der Meditations–Halle (Zendo) flüchtete, statt still sitzen zu bleiben.
Tara bemühte sich unentwegt um die Art von Nahrung, die sie früher einmal gebraucht hatte, die jetzt für sie als erwachsene Frau aber unangemessen war. (Selbst wenn sie jemanden gefunden hätte, der sie so »gehalten« hätte, wie ihre Mutter es nie getan hat, wäre es doch unwahrscheinlich, daß sie dies sehr lange befriedigt hätte. Statt dessen hätte sie solche Verhaltensweisen als erdrückend empfunden, da sie für ihre tatsächlichen Bedürfnisse als Erwachsene irrelevant waren.) Sie fürchtete sich vor dem, was sie sich am meisten wünschte, und war unfähig, die kurzzeitigen Befriedigungen zu genießen, die ihr geboten wurden. Die Möglichkeit einer Beziehung zu einem Mann regte Tara nur dazu an, die Phantasie von einer befreienden Beziehung zu einem anderen Mann wieder aufleben zu lassen. Sie begriff nicht, daß sie ein unerreichbares Ideal konstruierte, und widersetzte sich sogar jeder Diskussion über diese Phantasien. Sie war von ihnen getrieben, zugleich aber unfähig, sich ihre Realität, geschweige denn ihre Irrealität einzugestehen. Erst als sie allmählich lernte, ihre Sehnsüchte zu artikulieren, war sie in der Lage, die schmerzlichen Kindheitserlebnisse wiederzubeleben. Von diesem Moment an schwand ihre Angst vor dem Zazen, und ihr wurde ihr zwanghaftes Bedürfnis bewußt, aus dem heraus sie diejenigen schlechtmachte, die mit ihr intim werden wollten.
In der traditionellen Darstellung des Lebensrads erscheint der Bodhisattva des Mitgefühls im Bereich der Hungergeister mit dem Gefäß der himmlischen Speise, einer Schale mit den Symbolen für spirituelle Nahrung. Die Botschaft ist klar: Essen und Trinken vermögen die ungestillten Bedürfnisse dieses Bereichs nicht zu stillen. Nur das nicht urteilende Gewahrsein, das der Buddha vervollkommnet hat, bietet Erlösung.
Diese verzweifelte Sehnsucht nach unerschöpflicher Fülle ist im Abendland weit verbreitet und firmiert in der Psychologie als »geringes Selbstwertgefühl«. Diesen Geisteszustand zu verstehen erwies sich für viele Lehrer des Buddhismus aus dem Osten als besondere Schwierigkeit im Umgang mit ihren westlichen Schülern. Das Ausmaß, in dem die westliche Psyche unter innerer Leere und Minderwertigkeitsgefühlen leidet, erschien den im Osten aufgewachsenen Lehrern überwältigend; auch werden die zwanghaften Kompensationsphantasien, die die Schüler häufig mit eben jenen Lehrern verbinden, nur selten gründlich psychoanalytisch behandelt. Genauso wie man die Leere der Hungrigen Geister erlebt haben muß, um die Stillung alter Bedürfnisse nicht mehr von ungeeigneten Quellen zu erwarten, so muß der von solchen Gefühlen geplagte westliche Schüler die Leere zum Gegenstand seiner Meditation machen. Erst dann läßt sich die Abscheu vor sich selbst in Gelassenheit überführen, eine Aufgabe, bei der Psychotherapie und Meditation einander gut ergänzen.

aus dem 1. Kapitel »Das Lebensrad – ein buddhistisches Modell des neurotischen Geistes«


Dazu zwei Absätze aus der Einleitung zum Kapitel »Die seelische Entwicklung des Kleinkindes aus psychoanalytischer Sicht« von Jochen Stork:

Der Leser wird besser verstehen, welche besondere Bedeutung die frühe Kindheit für die Psychoanalyse hat, wenn wir auf den Grundpfeiler der psychoanalytischen Lehre, auf das Unbewußte und seine spezifische Dynamik verweisen; denn ein Hauptcharakter des Unbewußten ist die Beziehung zum Infantilen – das Unbewußte ist das Infantile (Freud, VII, 401) [Hervorhebung von mir]. Mit der Entdeckung des Unbewußten hat Freud die Vorstellung, die sich die Philosophie und klassische Psychologie vom psychischen Geschehen machten, grundlegend revolutioniert. Die große Bedeutung dieser Entdeckung – die nicht ein Postulat, sondern das Ergebnis von systematischen Beobachtungen darstellt – wird erst verständlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß bis zu seiner Zeit »bewußt« und »psychisch« identisch waren (Freud, XIV, 57), man das Bewußtsein für das wesentliche Regulationssystem hielt, welches, in der Kindheit nur unvollständig ausgebildet, im Laufe der Jugendjahre seine Reife erlangt und die Grundlage für alles seelische Erleben darstellt. Neben dieser formalen Organisation existiert ein Gefühlsleben, welches seine eigenen Gesetze hat und von den Prinzipien der Bedürfnisse und Leidenschaften beherrscht ist.
Mit der Freudschen Erkenntnis kam es zu einer Umkehrung der herkömmlichen Denkkategorien und dadurch zu einer tief gehenden Verunsicherung des Menschen. Freud konnte zeigen, daß das Unbewußte die Basis allen seelischen Erlebens ist. Das grundsätzliche Infragestellen der Macht des Verstandes und des Bewußtseins und die Existenz des Unbewußten bedeutet für den Menschen eine schwer erträgliche Verunsicherung, nämlich nicht Herr im eigenen Hause zu sein, seine Gefühle und Phantasien letztlich nicht mit der Kraft des Verstandes beherrschen zu können.

aus Dieter Eicke (Hrsg.), Tiefenpsychologie, Bd. 2, aus Kindlers »Psychologie des 20. Jahrhunderts«