Mittwoch, 27. August 2008

Was ist Radosophie?

Cornelis de Jager

Was sind die Methoden wissenschaftlicher Forschung? Beginnen wir mit einem Beispiel: mit der Astrophysik. Sie ist zum Teil aus der Astrologie hervorgegangen. Unsere Vorfahren glaubten, auf einer flachen Scheibe zu leben, und so konnte das Firmament mit seinen Fixsternen für sie nur eine Kuppel sein, die sich über dem damals bekannten Teil der Erde wölbte, einem Gebiet mit einem Radius von ein paar tausend Kilometern. Überraschenderweise entdeckten sie unter diesen Fixsternen noch andere Himmelskörper – die Wandelsterne oder Planeten –, die oft heller leuchteten und sich auf scheinbar willkürlichen Bahnen am Firmament bewegten. Es ist nur logisch, daß unsere Vorfahren, ihrer Philosophie gemäß, diese Bewegungen als Botschaften der Götter an die sterblichen Erdenbewohner deuteten. Sie mußten unbedingt entziffert werden. Eine genaue Beobachtung der Planeten war von größter Wichtigkeit (außerdem mag ein gewisses Interesse an der Sache selbst das übrige getan haben).

Ihre Beobachtungen förderten bestimmte Regelmäßigkeiten zutage, und nach und nach bildete sich sogar ein analytischer Ansatz heraus. So wurde aus der Astrologie schließlich die Astronomie. Sternenkundige entwickelten Modelle der planetarischen Bewegungen – das ptolemäische Modell ist wohl das bekannteste. Die astrologischen Ursprünge dieser Modelle waren allerdings nicht zu verleugnen, im ganzen Altertum blieben sie eng mit der Astronomie verflochten. Lange Zeit machte man nicht einmal einen Unterschied in der Bezeichnung. Außerdem basierten fast alle Konzepte des Universums auf der platonischen Vorstellung einer Ideenwelt, deren vereinfachtes und unvollkommenes Spiegelbild die erfahrene Wirklichkeit sei.

In der wissenschaftlichen Literatur wurde verschiedentlich die Frage aufgeworfen, ob Ptolemäus wohl ein Betrüger gewesen sei. Es ist bekannt, daß er, um seine Theorie darzustellen, gelegentlich auf diejenigen empirischen Daten zurückgriff, die am besten zu den Voraussagen seines Modells paßten, und es sieht so aus, als habe er in anderen Fällen nicht gezögert, die Daten zu verfälschen, um eine bessere Übereinstimmung zu erzielen. Heutzutage wäre dies ein klarer Fall von Wissenschaftsbetrug, doch im Rahmen der platonischen Ideenlehre hatte ein solches Vorgehen im griechischen Altertum durchaus seine Berechtigung.

Die Forderung, am Anfang habe die Beobachtung zu stehen, die dann erst interpretiert und in Regeln und »Gesetzen« zusammengefaßt werden müsse (der Grundgedanke also, daß Forschung empirisch sein sollte), wurde erst gegen Ende des Mittelalters deutlich formuliert, auch wenn einzelne aufgeklärte Geister sie bereits früher erhoben hatten. Umgekehrt wurden aber auch weiterhin und bis in die Gegenwart neoplatonische Ideen vertreten.

Wie sehr man in der Renaissance und der Zeit danach um ein klares Konzept wissenschaftlichen Vorgehens bemüht war, läßt sich an vielen Beispielen zeigen: Kopernikus etwa – einerseits Verfechter einer revolutionären Theorie, vertrat andererseits weiterhin die neoplatonische Lehrmeinung, wonach die Planeten sich auf kreisförmigen Bahnen bewegen. Der Kreis galt nämlich als die vollkommenste Form, und man glaubte doch: »Göttlichkeit handelt immer geometrisch« (Pythagoras). Verglichen mit dem kopernikanischen System erscheint das des dänischen Astronomen Tycho Brahe als Rückschritt (denn es ist geozentrisch), es paßte nun jedoch besser zu den vorliegenden Beobachtungen.

Daß Roger Bacon (im 13. Jahrhundert), aber auch Tycho Brahe (im 16. Jahrhundert) und sogar Isaac Newton Alchemie betrieben, mag uns seltsam erscheinen, doch das Studium der Alchemie hatte – im Gegensatz zur Astrologie – den Vorzug einer empirisch orientierten Vorgehensweise.

Es stellt sich sowieso die Frage, ob es eine wirklich standardisierbare »wissenschaftliche Methode« überhaupt gibt. Meines Erachtens gibt es sie nicht. Wissenschaftliche Forschung beruht auf Logik, gesundem Menschenverstand und Erfahrung bei der Interpretation von Beobachtungen allgemeiner Art. Im Laufe der Jahrhunderte hat der Mensch Techniken entwickelt und verfeinert, die es ihm erlauben, aus Beobachtungen »Gesetze« abzuleiten – oder zu überprüfen, inwieweit eine wissenschaftliche Schlußfolgerung (respektive ein neues Gesetz) korrekter ist als eine frühere Version. Die Methoden sind allerdings vielfältig und sehr verschieden.

Einige Kriterien lauten:
• Die Beweisführung sollte logisch und rational sein.
• Die Beweisführung sollte vollständig und schlüssig sein; sie sollte keine Lücken enthalten.
• Die Hypothese sollte widerlegbar, der experimentelle Beweis wiederholbar sein.
• Die einfachste Annahme ist oft die beste (»Ockhams Rasiermesser«).
• Die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Übereinstimmung von Daten sollte verschwindend gering sein.
• Sehr unwahrscheinlichen oder außergewöhnlichen Behauptungen sollte man mit extremer Vorsicht und allzeit bereitem Mißtrauen begegnen; sie müssen durch schlagende Beweise abgesichert werden.

Man darf jedoch einen dialektischen Aspekt nicht vergessen: Oft sind es gerade die erfolgreichsten und produktivsten Wissenschaftler, die kühn eine neue Hypothese vorstellen, ohne sich dabei auf überzeugende und überwältigende Beweise zu berufen; statt dessen folgen sie eben erst entdeckten Daten, spärlichen oder ungenauen Informationen und häufig auch bloß ihrer Intuition.

Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft ist, daß in letzterer einige oder alle der oben genannten Kriterien nicht berücksichtigt werden.

Die Pseudowissenschaft
• akzeptiert Resultate, die von qualitativ nicht ausreichenden Beweisen gestützt werden;
• verfälscht oder übergeht empirische Daten, die sich mit der favorisierten Annahme oder Theorie nicht in Einklang bringen lassen, sie beschränkt sich auf die Daten, die am besten passen;
• zieht Koinzidenz und Korrelation zur Beweisführung heran und verwechselt Korrelation mit Kausalität;
• legt oft übermäßig großes Gewicht auf die Theorie, in der Erwartung, diese werde alles, was noch unbegreiflich bleibt, erklären können.

Ich will meine Bemerkungen über die Pseudowissenschaft verdeutlichen, und zwar mit der Radosophie. Während die große Zeit der Astrologie als Wissenschaft vorbei und sie als Forschungsfeld so gut wie verschwunden ist, sind andere pseudowissenschaftliche Anschauungen mit einer Verbindung zur Astronomie noch immer verbreitet.
Eine davon ist die »Religion« der Großen Pyramide. Sie kam im ersten Viertel unseres Jahrhunderts auf, als Forscher erstmals die ägyptischen Pyramiden untersuchten. Insbesondere die Cheopspyramide erregte Aufmerksamkeit, und sie hat tatsächlich einige astronomische Besonderheiten zu bieten. Sie ist mit großer Genauigkeit nach Norden ausgerichtet, und das Verhältnis von Höhe zu Basisseitenlänge beträgt 1 zu π/2. Die erste Tatsache beweist, daß die alten Ägypter die Himmelsrichtungen sehr genau bestimmen konnten, die zweite galt als Beweis dafür, daß die Ägypter die Zahl π bereits kannten. Mir scheint, bei letzterem könnte es sich um einen Zufall handeln. Spätere Forschungen haben ergeben, daß früher gebaute Pyramiden einstürzten, weil sie steiler waren. Nach mehreren Experimenten hatte man also mutmaßlich herausgefunden, woran es lag, und baute weniger steil.

Piazzi-Smith und andere stellten extreme Behauptungen auf. Nachdem man als Lä5igenmaß das »Pyramiden-Yard« (PY) zugrunde gelegt hatte – es beträgt 1/20.000.000 des Erddurchmessers (64 Zentimeter) –, stellte man fest, daß die Basisseitenlänge der Großen Pyramide 365,25 PY mißt – was wiederum genau der Anzahl der Tage im Jahr entspricht. Soll das heißen, die Erbauer der Pyramide kannten den Durchmesser der Erde? Oder die taggenaue Dauer eines Jahres? Beachten Sie, daß derart präzise Zahlenangaben eine Vermessung der Basisseitenlänge mit der erstaunlichen Genauigkeit von fünfzehn Zentimetern voraussetzen, was sich angesichts des Zustands der Pyramide als schwierig erweisen dürfte. Außerdem aber beträgt das Doppelte der Diagonalen genau 25.826 Pyramiden-Inches (1 PI entspricht 1/25 PY), und das ist der Präzessionszyklus der Erdachse in Jahren. Wohlgemerkt: diejenigen, die diese Zahl mit einer solchen Genauigkeit angeben, behaupten damit implizit, sie hätten die Diagonale mit einer Genauigkeit von weniger als I PI, also in der Größenordnung von Zentimetern vermessen.

Doch das war noch nicht alles, man tönte des weiteren, es ließe sich eine mathematische Formel finden, mit welcher die Basisseitenlänge der Pyramide (in PY) In Relation zur Entfernung zwischen Erde und Sonne (in Kilometern) gesetzt werden könne. Das würde bedeuten, die Erbauer der Pyramide kannten bereits mehrere tausend Jahre vor der Einführung des metrischen Systems die Länge eines Kilometers. Man stellte noch weitere solcher bemerkenswerten Zusammenhänge zwischen baulichen Daten der Großen Pyramide und Daten aus der Astrophysik oder der Geschichte der Menschheit fest, und diese erregten in weiten Kreisen großes Interesse und Verblüffung. Die Religion der Großen Pyramide blühte und gedieh.

Verschiedene Aspekte pseudowissenschaftlicher Beweisführung sind hier ganz deutlich auszumachen. Am offensichtlichsten ist eine übersteigerte Ehrfurcht vor zufälligen Übereinstimmungen von Zahlen, und einhergehend damit wird die mögliche Anzahl mathematischer Relationen zwischen einfachen Zahlen unterschätzt.

Um das zu verdeutlichen, möchte ich nun eine neue Religion vorstellen. Sie gründet sich auf mein Hollandrad. Warum? Weil ein Fahrrad in meiner Heimat praktisch denselben Status besitzt wie die Pyramiden im alten Ägypten. In meinem Land gibt es 15 Millionen Holländer, aber 16 Millionen Fahrräder.

Ich vermaß die Durchmesser
• des Pedalwegs, der die vorwärtsschreitende Dynamik symbolisiert;
• des Vorderrads, das meinen Weg in eine unbekannte Zukunft lenkt;
• der Lampe, die mir meine Pfade erleuchtet;
• der Klingel, die nur zur der Kommunikation mit Entgegenkommenden dient.
So legte ich den elementaren Grundstein hit eine neue h(ilistische, vierdimensionale Religion, die des anbrechenden Wassermannzeitalters würdig ist: die Radosophie.

Die Meßergebnisse wurden in Heilige-Fahrrad-Inches umgerechnet. I HFI entspricht 17 Millimetern, denn 1 ist die erste und 17 die siebte Primzahl, und die Sieben ist außerdem die heilige Zahl.

Wenn ich die vier gemessenen Werte mit P, W, L und B benenne, zeigt sich, daß



und siehe da, dies entspricht dem Quotienten der Massen von Proton und Elektron. Ich finde es bemerkenswert, daß eine solch simple Relation zwischen drei Parametern meines Fahrrads eine so fundamentale Konstante ergibt; der Schöpfer meines Rades muß sehr begabt gewesen sein. Möglicherweise besaß er übernatürliche Kräfte, denn vielleicht waren ihm die Werte der Massen von Proton und Elektron gar nicht bekannt.

Aber das ist ja noch nicht alles. Die »Feinstrukturkonstante«, eine für die Grundlagenphysik sehr bedeutsame Zahl, lautet 137,0. Und – man staune:



Die Gravitationskonstante lautet



und siehe da:



Ebenso besteht eine Beziehung zwischen meinem Fahrrad und grundlegenden astronomischen Daten. Zum Beispiel beträgt die Entfernung zwischen Erde und Sonne, in Einheiten von hundert Millionen Kilometern ausgedrückt, 1,496. Was stelle ich fest? Daß




Die Lichtgeschwindigkeit beträgt

Kilometer pro Sekunde.

Aus meinen Fahrradparametern errechne ich



Aufgrund der Differenz zwischen den letzten Ziffern möchte ich den Physikern eine Neuberechnung der Lichtgeschwindigkeit nahelegen, denn angesichts der zitierten exakten Übereinstimmungen scheint es sehr unwahrscheinlich, daß der Fehler bei meinem Fahrrad liegt.

Ich könnte die Liste der Kombinationen noch erheblich verlängern. Ich könnte mein Fahrrad zu jeder willkürlich gewählten Zahl in Relation setzen – vom Alter des Weihnachtsmannes bis zur Anzahl der Blumen in meinem Garten. Alle Rechnungen würden aufgehen.

Doch weder an der Großen Pyramide noch an meinem Fahrrad ist irgend etwas Besonderes.

Wählen Sie vier Zahlen A, B, C und D und bringen Sie sie in folgende Rechnung ein:




wobei Sie für a, b, c und d ganze Zahlen zwischen 5 und -5 sowie die positiven und negativen Werte π, 1/2 und 1/3 einsetzen können. Es gibt 83.521 mögliche Kombinationen, und die Wahrscheinlichkeit, daß eine davon einer zuvor bestimmten festen Größe (mit einer Abweichung von 0,01 Prozent) entspricht, ist etwa eins. (Beachten Sie, daß ich im vorigen Teil vorsichtig genug war, alle festen Größen mit lediglich drei oder vier Stellen anzugeben!) Ein einfaches Computerprogramm kann all die Kombinationen ausdrucken, der festen Größe mit einer Abweichung von, sagen wir, 0,1 Prozent entsprechen. In den meisten Fällen waren es etwa zehn mögliche Kombinationen, aus denen ich dann die besten ausgesucht habe. Ein größerer Rechner als meiner, der auf mehr Variablen und Formeln zurückgreifen kann, würde noch weit bessere Ergebnisse ausspucken.

In numerischen Experimenten wie auch im täglichen Leben gibt es immer wieder Fälle von Koinzidenz. Wer nicht begreift, daß solche zufälligen Übereinstimmungen nicht »selten« sind, verwendet sie entsprechend unangemessen und inkorrekt, um die Existenz paranormaler Vorgänge zu beweisen. Die meisten Menschen unterschätzen die gewaltige Menge möglicher Kombinationen von Zahlen. Und das hat es vielen pseudowissenschaftlichen Auffassungen leicht gemacht, sich auszubreiten und allgemeine Anerkennung zu finden.

Cornelis de Jager ist Astrophysiker am Labor für Weltraumforschung in Utrecht, Niederlande.

(Deutsch von Dirk van Gunsteren)

aus Gero von Randow (Hg.), Mein paranormales Fahrrad