"Die „Krisenkinder“ von heute erben eine Welt, in der es scheinbar nur noch bergab geht. Aber wo Schatten ist, gibt es auch Licht. Und so könnte sich die Bezeichnung „Krisenkinder“ vielleicht als hoffnungsvolle Metapher erweisen. Denn Krise erzeugt Chaos, und Chaos stimuliert Kreativität. Je stärker der Druck auf die Jungen, desto größer die Chance, dass sie aus ihrer Schreckstarre aufwachen und entdecken, dass Opportunismus und Mutlosigkeit praktisch zum Selbstmord führen."
Satyananda
Die junge Generation am Scheideweg
von Satyananda
Aufruhr in den Straßen von Teheran. Ich schaue gebannt auf den Bildschirm meines Fernsehers und beobachte fasziniert, wie furchtlos die Demonstranten sind, vor allem junge Frauen. Als die finsteren, vermummten Schläger der staatlichen Miliz auf Motorrädern heranpreschen und mit langen Knüppeln auf die Demonstranten losgehen – richten junge Mädchen ihre Handykameras auf die brutalen Schläger, drücken kaltblütig ab und schicken ihre Videosequenzen über YouTube in die ganze Welt. Immer wieder filmen sie auch sich selbst. Empört, nicht vermummt, sondern klar identifizierbar schreien sie ihren Protest in die Kameras.
Angst vorm Rausschmiss
Ich hatte diese Bilder aus Teheran im Kopf, als ich im „Spiegel“ eine Untersuchung über die jungen Deutschen im Alter von 20-35 Jahren las. Der „Spiegel“ nennt sie „Krisenkinder“. Und der Artikel beginnt so: „Der junge Mann, der am Anfang dieser Geschichte steht, will seinen Namen nicht preisgeben, und damit ist schon einiges erzählt über die Generation, um die es hier geht.“
Der Spiegelreporter nennt den jungen Mann Oliver. Und der erzählt ihm, wie er - ein junger Architekt – als mies bezahlter Praktikant mit 60 anderen Praktikanten im Großraumbüro eines berühmten Architekten jede Woche 70 Stunden und oft mehr geschuftet hat. Er hoffte auf Festanstellung. Stattdessen fand er sich plötzlich auf der Straße wieder – rausgeschmissen! Die globale Finanzkrise habe die Aufträge einbrechen lassen, erklärte der Chef. Nun fürchtet Oliver, dass er seine künftigen Berufschancen gefährdet, wenn er im „Spiegel“ seinen Frust rauslässt.
In Teheran kämpfen die jungen Menschen um Freiheit und riskieren dabei, dass sie von den Schergen des Geheimdienstes verhaftet, gefoltert, auf unbestimmte Zeit eingesperrt oder sogar klammheimlich umgebracht werden. Die jungen Deutschen riskieren lieber nichts. Ihnen ist die Freiheit sozusagen als Geschenk in die Wiege gelegt worden. Sie meinen, dass sie nicht dafür kämpfen müssen. Dabei muss Freiheit doch ständig beschützt und notfalls kämpferisch verteidigt werden, wenn sie Bestand haben soll. Wer Angst davor hat, seine Meinung zu sagen, hat die Freiheit bereits abgeschrieben.
Schreckstarre
Aus der „Spiegel“-Untersuchung geht hervor, dass den jungen Deutschen das überhaupt nicht bewusst ist. Fast alle jungen Leute, mit denen die „Spiegel“-Reporter gesprochen haben, wollten anonym bleiben. Dabei waren ihre Aussagen doch von einer geradezu rührenden Harmlosigkeit. Keine staatsgefährdenden Drohungen, keine aufrührerischen Visionen, keine revolutionären Statements. Stattdessen Ratlosigkeit. Die jungen Deutschen wollen sich vor allem anpassen. Letztlich wollen sie so leben, wie sie aufgewachsen sind – in Sicherheit und Wohlstand.
Aber Nine Eleven, der Terror-Anschlag auf das World Trade Center in New York, entlarvte die Sicherheit als Illusion. Das Unfassbare wurde plötzlich greifbar: Die Terroristen leben unter uns! Manche sind sogar nette, hilfsbereite Nachbarn. Aber während du freundliche Grüße mit ihnen austauschst, träumen sie davon, einen Atomsprengsatz im U-Bahntunnel zu zünden und deine gemütliche Welt in Fetzen zu reißen. Jeder Tag kann dein letzter sein.
Inzwischen hat blinde Gier den Turbo-Kapitalismus an die Wand gefahren und nun sind auch die Jobs und das Geld nicht mehr sicher. Chaos auf den globalen Finanzmärkten, weltweite Rezession. Wie reagieren die jungen Deutschen? Stürmen sie die Banken? Schieben sie endlich die längst überfällige Kapitalismuskritik an? Setzen sie sich mit den Ursachen des internationalen Terrorismus auseinander?
Nichts da! Die jungen Deutschen – so geht aus der „Spiegel“-Untersuchung hervor – sind in eine Art Schreckstarre verfallen. Sie protestieren nicht, sie klagen darüber, dass ihre berufliche Zukunft nun ungewiss geworden ist. 70% sehnen sich nach Sicherheit. 58% befürchten politische Instabilität.
Überfluss macht schlapp
Man kann das merkwürdig finden, aber abfällig urteilen sollte man darüber nicht. Denn diese junge Generation ist nicht schlechter als alle anderen jungen Generationen vor ihr. Das größte Problem besteht darin, dass sie in Wohlstand und Überfluss aufgewachsen ist, in einer Welt, in der sich alles nur noch ums Geld dreht.
Überfluss macht schlapp und krank. Immer wenn das Geld wichtiger wird als Gott, breitet sich Angst aus und zehrt an der Lebensenergie. Viele sensible Menschen spüren, dass das Schiff sinkt. Weil sie das nicht verhindern können, verdrängen sie das drohende Unheil lieber und ermuntern die Bordkapelle, immer lauter und schriller zum Tanz aufzuspielen.
Aber die Party des Überflusses ist vorbei – ein für alle Mal.
Schon seit einiger Zeit fällt mir auf, wie viele Freunde und Bekannte von Problemen mit ihren Kindern erzählen. Hubert zum Beispiel hat im Zimmer seines 15-jährigen Sohnes die Utensilien eines Marihuana-Versandhandels entdeckt. Dabei kriegt der Schüler einer feinen Privatschule jeden Monat 200 € Taschengeld. Freund Andreas erzählte mir neulich, dass Lola, seine 18-jährige Tochter, mit seinem Jaguar bei stark überhöhter Geschwindigkeit in die Leitplanke einer Autobahn-Baustelle gebraust sei. Totalschaden. Sie blieb unverletzt, aber von Reue keine Spur.
Marc beschwerte sich über seinen 17-jährigen Sohn Thomas. Der habe sich während des Urlaubs in Thailand ab und zu das Handy vom Vater ausgeliehen. Marc: „Gestern habe ich die Rechnung bekommen. Und weißt Du was? Der hat am Strand für 485 € mit seiner Freundin telefoniert! Mit dem Geld muss ein Hartz IV-Empfänger einen ganzen Monat auskommen!“
Mit Johannes, dem Sohn eines anderen Freundes, unterhielt ich mich über seine beruflichen Pläne. „Was würdest Du denn an meiner Stelle machen?“, fragte er mich. Und ich sagte: „Ich würde vielleicht Medizin studieren und zu den ,Ärzten ohne Grenzen‘ gehen.“ Johannes schaute mich ungläubig an: „Ich wollte eigentlich lieber Kohle machen“, sagte er und heuerte schon bald bei einer kleinen, feinen Firma an, die seit Generationen Etiketten für Weinflaschen produziert.
Wir waren härter
Wie war das eigentlich mit meiner Generation? Als ich 14 war, herrschte Krieg und ich wurde mit meinen Klassenkameraden in die Barackenunterkunft einer Flugabwehr-Batterie verpflanzt. Als sogenannte Flack-Helfer sollten wir in der Nähe von Stettin ein Petrochemie-Werk gegen amerikanische und englische Luftangriffe schützen.
Wenn die Amis und die Tommies nachts angriffen, war die Hölle los und wir ballerten ängstlich und lustvoll zugleich aus den Rohren unserer 8,8 cm Flugabwehrkanonen (Flak). Manchmal trafen wir und dann feierten wir uns als Helden (und mufften, wenn unser Lateinlehrer am nächsten Morgen in die Flak-Stellung kam, um mit uns Cicero zu lesen). Vier Jahre später wurde mein Jahrgang an der Ostfront verheizt. Mehr als die Hälfte meiner Klassenkameraden fiel bei Rückzugsgefechten mit den Russen.
Solche Erfahrungen wirken sich natürlich anders aus als der Umgang mit Laptops, iPods, Handys, YouTube, Myspace und Designerklamotten. Wir waren härter als die Jungen von heute. Aber Härte ist eine zweifelhafte Tugend. Denn ein harter Mensch ist auch oft gefühlskalt, aggressiv, eigensinnig, unflexibel, unkreativ. Das sind Eigenschaften, die zur Lösung unserer gegenwärtigen Probleme überhaupt nicht hilfreich sind.
Ein Ja zur Unberechenbarkeit
Als der Krieg zu Ende war, ging es uns ganz ähnlich wie den Jungen heutzutage: Wir waren total des-illusioniert und von Sicherheit konnte keine Rede sein. So wie die heutige junge Generation reagierten wir damals mit Pragmatismus. Keine Visionen. Konzentration auf das eigene Fortkommen. Allerdings gibt es einen fundamentalen Unterschied: Wir lebten in der Gewissheit, dass es nur noch bergauf gehen konnte. Die „Krisenkinder“ von heute erben eine Welt, in der es scheinbar nur noch bergab geht.
Aber wo Schatten ist, gibt es auch Licht. Und so könnte sich die Bezeichnung „Krisenkinder“ vielleicht als hoffnungsvolle Metapher erweisen. Denn Krise erzeugt Chaos, und Chaos stimuliert Kreativität. Je stärker der Druck auf die Jungen, desto größer die Chance, dass sie aus ihrer Schreckstarre aufwachen und entdecken, dass Opportunismus und Mutlosigkeit praktisch zum Selbstmord führen.
Wenn die Krisenkinder überleben wollen, müssen sie sich mit der Kraft von Herz, Bauch und Verstand von der Magie des Geldes befreien und das Leben in all seiner wunderbaren Unberechenbarkeit bejahen. Mut zum Risiko statt geschmeidige Anpassung, Bescheidenheit statt Karrieregeilheit, Mitgefühl statt Egozentrik, Kreativität statt Melancholie, Vertrauen statt Angst. Das ist Meditation in Aktion.
aus der Osho-Times vom August 2009