Mittwoch, 12. März 2014

Sind wir zur Moral fähig?

Der Mensch ist ein Herdentier und hält sich für Gottes Geschöpf. Wir pflegen täglich unseren Körper, am Wochenende unser Auto, wir spülen unser Geschirr und wischen und staubsaugen die Böden unserer Wohnungen. Aber wie gehen wir mit unserer Seele um?

Wir begeistern uns, wenn ein kleines Kind aus einem Brunnen gerettet wird, sind aber auch dazu in der Lage, Menschen, die Anforderungen nicht zu erfüllen imstande sind, Schmerzen zuzufügen oder sogar zu töten (Milgram-Experiment). Das Privatfernsehen produziert Quotenrenner, in denen die voyeuristische Lust, andere in seelischen Nöten zu sehen, befriedigt wird. Immer wieder sehe ich Menschen, die anderen ihr Laub vor die Türe kehren, ihre Hunde nicht erziehen und in die Gegend kacken lassen oder die zwei Parkplätze in Anspruch nehmen, wo bei ein wenig Achtsamkeit auch einer genügen würde. Wir akzeptieren die Nutzung von Atomenergie, wollen das Entmüllager aber keinesfalls vor unserer Tür. Wir verschleudern natürliche Ressourcen aus Bequemlichkeit. Wir lassen unsere Kinder taufen, die Kirchen sind zu Weihnachten überfüllt, ein schönes »Ave Maria« treibt uns die Tränen in die Augen, und abends schauen wir zu, wie sich zwei bei »Big Brother« unter der Dusche befummeln. Hunderttausende von Männern besuchen täglich Prostituierte, aber die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, scheint, das Symptom zu verbieten. Wozu nach der Krankheit fragen? Sind die möglichen Antworten zu unbequem oder gar zu lang?



Wir klagen ständig über Politiker, die die Unwahrheit sagen. Politiker aber, die unbequeme Wahrheiten aussprechen, werden nicht gewählt. Täglich werden neue Nebenkriegsschauplätze eröffnet, um die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsende Aggressivität in Bahnen zu lenken. Menschen werden ausgebeutet, als Ware benutzt und weggeworfen, aber die Erregung einem anonymen System gegenüber, in welchem keiner mehr Verantwortung hat (oder: zu haben scheint), erhält eine Form, wenn wir »Deutschland sucht den Superstar« konsumieren und entlädt sich bei Boxkämpfen, Fußballspielen oder telegen aufbereiteten Verfolgungsjagden. Wir gieren danach, eine heile Welt vorgegaukelt zu bekommen und empören uns pflichtschuldigst, wenn die Kulissen des Theaterstücks, in welchem wir uns in unserer Trance suhlen, zusammenbrechen. Während die Supermarkt-Kassiererin gekündigt wird, die sich einen weggeworfenen Joghurt für 39 Cent aus dem Müll einverleibt, wird tagelang in den Nachrichten darüber diskutiert, ob Uli Hoeneß drei, 18,5 oder sogar 26 Millionen Euro an Steuern hinterzogen hat und ob er noch eine Bewährungsstrafe kriegt und ob er nach diesem Fauxpas noch Aufsichtsratschef bei den Bayern bleiben kann.

Wir verwenden eine große Anzahl unterschiedlicher Messlatten; und wir legen sie an die Realität, die uns begegnet, so an, daß unser Weltbild aufrechterhalten bleibt und wir nicht zu sehr gestört werden, in dem was wir tun und von uns und der Welt denken. Edward Snowden gibt seine Karriere auf, um den Menschen etwas über die Dinge mitzuteilen, die hinter dem Vorhang passieren, die Politiker und die Medien haben etwas in der Hand, womit sie ihre Existenzberechtigung zelebrieren können, eine riesiges Kartenhaus an Aufgeregtheiten bannt unsere Aufmerksamkeit… – und fällt in sich zusammen, wenn Putin auf die Krim marschiert und damit angeblich das Völkerrecht bricht. Wenn unsere westlihen Staaten mit unserer angeblich so fortschrittlichen Gesellschaft, das Völkerrecht bricht, naja, dann ist das so, wir sind ja die Guten. Die Tatsache, daß das Flugzeug von Boliviens Präsident Evo Morales mal kurz vom Himmel geholt und der Präsident zwölf Stunden auf dem Wiener Flughafen festgehalten wurde (geschehen am 2. Juli 2013), weil es das Gerücht gab, Edward Snowden befinde sich an Bord und dem Flugzeug daraufhin mal kurz die Überfluggenehmigungen für Frankreich, Spanien, Portugal und Italien entzogen wurden, war unseren westlichen Medien nur eine kurze Meldung wert. Wir messen ständig mit unterschiedlichen Maßstäben, wollen es aber nicht wissen. Wie funktioniert es, daß es ein wahrer Shitstorm über Bischof Tebartz-van Elst niedergeht, weil er 31 Millionen Euro verbaut und die Tatsache, daß ein halbes Dutzend Fußballspieler des AS Monaco mehr als 10 Millionen Euro pro Jahr (steuerfrei) verdienen, erst gar nicht in den Medien auftaucht?



Maßstäbe, Ansprüche, Hoffnungen, Erwartungen, Gewissheiten… All das sind hochkomplizierte und gleichzeitig sehr einfache Phänomene, die durch unseren Geist wandern und uns hierher oder dorthin lenken. Irgendwo drückt irgendjemand auf irgendein Knöpfchen, und wie die Marionetten marschieren wir los und empören uns, verzweifeln, trauern … oder schlagen auch mal zu. Und in dem Durchflutet-Werden durch diese getriggerten intensive Gefühle fühlen wir uns sehr lebendig und glauben, daß wir leben – während uns andere wie einen Tanzbären am Ring in der Nase durch die Manege ziehen. (Meldung in der Tagesschau: »60% der Deutschen sind für die Ukraine!« Na, Bravo!) 

Wir wollen die Welt verstehen, dabei verstehen wir noch nicht einmal uns selbst. Wir haben Überzeugungen, und denen sollen andere gefälligst gerecht werden, aber wir hinterfragen unsere Überzeugungen nicht. Wir haben Forderungen, denen sollen andere nachkommen, aber wir hinterfragen unsere Forderungen nicht. Wir trauern, wollen Unglücke verhindern, das sollen gefälligst andere machen, deren Aufgabe das ja ist, aber wir hinterfragen unser Leiden nicht. Wir wollen leben, wir wollen glücklich leben und machen die Qualität unseres Lebens davon abhängig, daß die Welt da draußen und die Menschen, mit denen wir zu tun haben, so funktioniert und so sind, wie wir das gern hätten. Wir fragen aber nicht danach, was wir uns unter Glück vorstellen, wir fragen uns nicht, warum wir uns Glück so vorstellen, wir wir das tun, wir hinterfragen uns selbst nicht. Wozu auch? Wir wollen ja funktionieren können, wir wollen Stabilität – und wir wollen vor allem recht haben! Und »Germany's Next Topmodel« ist kurzweiliger als das Aufräumen unserer Seele. Wir wollen Stars, zu denen wir aufblicken können und geilen uns daran auf, wenn sie fehltreten oder zusammenbrechen.

Als Kinder haben uns unsere Eltern dazu angehalten, regelmäßig die Zähne zu putzen. Wir kümmern uns um den Ölstand unseres Autos, und nächsten Samstag gehen wir neue Schuhe kaufen, weil, die alten, das geht ja gar nicht mehr. Was ist mit unserer Seele? Wir laufen in Schuhkartons herum, deren Wände wir für die Realität halten. Und wir finanzieren diejenigen, die uns diese Wände anmalen. Wir laufen mit Gewissheiten herum, die nicht die unsrigen sind. Wir lassen uns ständig neue Wahrheiten verkaufen, damit wir selbst nicht denken brauchen. Und wenn wir eine Wahrheit erzählt bekommen, die länger ist als drei Sätze, schalten wir ab. Alles nur eine Energiefrage?

Wir sind Roboter, die sich ständig etwas von freiem Willen vorgaukeln (lassen) und begierig darauf sind, in diesem Glauben bestätigt zu werden. Wir halten uns für die Krone der Schöpfung, nur seltsam, daß sich ständig irgendwelche Kronen dieser Schöpfung die Schädel einschlagen oder sonstwie malträtieren. Wir brauchen unser kurzes Gedächtnis, um nicht an uns (ver-)zweifeln zu müssen. Und wir müssen uns ständig in Bewegung und beschäftig halten, um nicht mit uns selbst konfrontiert zu werden. Jede Sau, die durch’s Dorf gejagt wird, lenkt uns von unserer Hilflosigkeit und unserer Pseudo-Existenz ab. Dem Machtwillen einiger Weniger reicht unser Bedürfnis nach Ablenkung und Verleugnung die Hand…


Tiere sind ein Zweck an sich

Von Leick, Romain und Schmitter, Elke
Haben wir das Recht, Tiere für unsere Bedürfnisse zu nutzen und zu töten? Die Autorin und Philosophin Hilal Sezgin hält ein radikales Plädoyer gegen eine Sonderstellung der menschlichen Spezies.

In diesem SPIEGEL-Interview wird unsere Haltung der Welt gegenüber infrage gestellt.