Montag, 13. August 2018

Die Hysterisierung der deutschen Öffentlichkeit

Gefährder – Marginalie zum öffentlichen Sprachverfall

Ich hab Angst, und Du hast Angst, große Angst und kleine Angst, meine Angst und Deine Angst…
Liedertext, aufgezeichnet auf einem Evangelischen Kirchentag


Nunmehr wird der Maschinengewehreinsatz gegen eine Menschenmenge gesetzlich verboten.
Aus dem Entwurf zum neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetz


Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt
Ludwig Wittgenstein


Begriffsrecherche in einem sehr guten, nicht-öffentlichen Pressearchiv: Zwischen 1980 und dem 31.12.2000 taucht der Begriff "Gefährder" überhaupt nur zwölf Mal auf, zum ersten Mal im Herbst 1990 und auch in den nächsten Jahren ausschließlich in Zitaten aus Polizeikreisen und Papieren des Staatsschutz.

Im Mai 2000 findet er sich dann in der "Süddeutschen Zeitung" in einem Artikel über Fußball-Hooligans. Genau gesagt kommt das Wort auch darin nicht vor, sondern es ist dort von "Gefährder-Ansprachen" die Rede, und auch das nur in einem Zitat des damaligen Sprechers des Landeskriminalamts von NRW, Fredrick Holtkamp, der Hardcore-Fußball-Fans nach dem Grad ihrer Gewaltbereitschaft kategorisiert.

Daraus folgt eine erste wesentliche Feststellung: "Gefährder" ist Polizei-Jargon. Die deutschen Medien, die einst zu Recht stolz darauf waren, Staatsferne - nicht "-feinschaft", aber skeptische Distanz zu den jeweils Mächtigen zu kultivieren, schreiben heute gern im Jargon eines Polizei-Handbuchs.

mehr:
- Die Hysterisierung der deutschen Öffentlichkeit (Rüdiger Suchsland, Telepolis, 12.08.2018)

siehe auch:
- Ein neues U-Boot und mangelnde Medien-Selbstreflexion (Post, 10.07.2016)

Vorsicht „sittliche Reife“ und „Haltung“! (sehr empfohlen!)

In seiner Rede vor der deutschen Presse anlässlich der Verkündung des Schriftleitergesetzes benutzte Joseph Goebbels am 4.10.1933 fünfmal den Kampfbegriff „sittlich“. Eine dieser Stellen:

„Nicht jeder hat das Recht zu schreiben! Das Recht zu schreiben muß durch sittliche und nationale Reife erworben werden. Dieses Erwerben des Rechts zu schreiben ist verbunden mit Verpflichtungen dem Staate gegenüber“ (Goebbels, dpmu.de)

Zuvor, kurz nachdem die NSDAP an die Macht gelangt war, hatte Goebbels gesagt:

Der Beruf des Pressemannes ist von einer hohen staatspolitischen Verantwortung umgeben; und nur Menschen, die dieser Verantwortung würdig sind, die die sittliche Reife mitbringen, um sie zu tragen, haben das Recht, an der Presse mitzuwirken und mitzuschaffen (Die Weißen Blätter, S. 26)

In seiner Sportpalastrede vom 18.2.1933 – und zu weiteren Gelegenheiten – war ihm ein weiterer, parelleler Begriff wichtig, nämlich die „Haltung“:

Überhaupt müssen alle, die im Dienste des Volkes tätig sind, dem Volke in der Arbeit sowohl wie in der äußeren und inneren Haltung stets ein leuchtendes Beispiel geben. (Goebbels 1000dokumente.de)

(Historische Anmerkung: In seiner Rede vom 4.10.1933 forderte er von den Journalisten, dass sie mit einer „aufrichtigen und charaktervollen Haltung“ schreiben, die zwar dem Staat und seinen Zielen dient, aber sich nicht in "öden Lobeshymnen“ verliert. Mit anderen Worten: Journalistische „Haltung“ nach Goebbels ist Propaganda, die nicht offensichtlich nach Propaganda klingt. „Haltung“ bedeutete, dass man den Zielen des Regimes diente und dennoch die „Nuancen“ des Volkes einzeln bediente. Mir laufen kalte Schauer über den Rücken ob solcher Perfidität.) Ich habe Probleme mit den linken Kampfbegriffen „Haltung“ und „sittliche Reife“, und, ja, dass Goebbels sie zentral führte, ist eines dieser Probleme.

mehr:
- Vorsicht „sittliche Reife“ und „Haltung“! (Dushan Wegner, Achgut.com, 16.07.2018)

siehe auch:
- Demokratie, Toleranz und Sündenböcke – "Wer demokratische Normen verletzt, darf nicht belohnt werden" (Post, 24.07.2018)
- Brutale Sprache auf dem Vormarsch… (Post, 19.06.2018)
- Die Nazibeschimpfung (Post, 17.06.2018)
- Künstliche Intelligenz und die Sprache: Worte, die unseren Verstand verhexen (Posts, 25.05.2018)
- Gabriele Krone-Schmalz: Die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und die Medien (Post, 30.04.2018)
- Sprache, über die sich nachzudenken lohnt (Post, 04.02.2018)