Freitag, 30. November 2012

Geschichtsfrage

In welchem Jahr 
des christlichen Kalenders begann 
die islamische Zeitrechnung?

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Donnerstag, 29. November 2012

Heute vor 789 Jahren – 29. November 1223: Der Papst erkennt den Orden der Franziskaner an

Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam 


 In Armut leben, um frei zu sein für den Reichtum des göttlichen Reichs, darin fand Franz von Assisi (1181-1226) seine Bestimmung, nachdem er 1206 mit seinem wohlhabenden Vater gebrochen und ein neues Leben begonnen hatte. Er kleidete sich in ein einfaches Büßergewand, zog als Wanderprediger im mittelitalienischen Umbrien umher und hatte bald Gleichgesinnte an seiner Seite. 1210 erkannte Papst Innozenz III. die Gemeinschaft als Orden an, Honorius III. bestätigte am 29. November 1223 endgültig die Regeln der Franziskaner. 
Franz von Assisi wird von Papst Innozenz III. empfangen,
Fresko von Giotto di Bondone, um 1300
 Das Regelwerk legte den Brüdern des Ordens auf, »milde, friedfertig und bescheiden, sanftmütig und demütig« zu sein, kein Geld anzunehmen, kein Eigentum zu erwerben, sich vor Stolz und Neid zu hüten, sich »dem geschäftigen Treiben dieser Welt« fernzuhalten, »keine Verdacht erregenden Beziehungen oder Beratungen mit Frauen zu haben und die Klöster der Nonnen nicht zu betreten«. 1226 starb Franz von Assisi, schon zwei Jahre später sprach Papst Gregor IX. ihn heilig. 


 Bettelorden des Mittelalters 
Franziskaner (anerkannt 1210) 
 Dominikaner (1215) 
 Augustiner (1244) 
 Karmeliten (1247) 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012


Mittwoch, 28. November 2012

Heute vor 100 Jahren – 28. November 1912: Albanien ruft seine Unabhängigkeit aus.

Nationales Erwachen im Land der Skipetaren 


 Das kleine Albanien am südwestlichen Rand der Balkanhalbinsel brauchte lange, um in der Weltöffentlichkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts von den Osmanen erobert, herrschten 400 Jahre lang die Sultane im »Land der Skipetaren«, wie Karl May es in seinem Reiseroman von 1892 nannte. Der englische Historiker Edward Gibbon brachte die albanische Situation Ende des 18. jahrhunderts auf den Punkt: In Sichtweite Italiens gelegen, sei es doch unbekannter als das Innere Amerikas.








Italienische Truppen in Albanien während des Balkankriegs, 1912
 Das änderte sich erst mit dem Erwachen der nationalen Bewegungen auf dem Balkan und der Zurückdrängung des Osmanischen Reichs Ende des 19. Jahrhunderts. Um 1900 wurde erstmals die Forderung nach einem albanischen Nationalstaat erhoben, 1906 bildete sich in Monastir ein Komitee zur Befreiung Albaniens. Als im Herbst 1912 der Balkankrieg ausbrach und Serben, Griechen und Montenegriner albanisches Territorium besetzten, riefen die Albaner in Vlora heute vor 100 Jahren, am 28. November 1912, die Gründung des albanischen Staats aus. 1913 wurde der neue Staat von den Großmächten anerkannt. 

 Was am 28. November noch geschah: 
 1896: Als erste Stadt auf dem europäischen Kontinent nimmt Budapest eine Untergrundbahn in Betrieb. 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012

Dienstag, 27. November 2012

Tiziano Terzanis Offener Brief an Oriana Fallaci


Oriana Fallaci, bekannte Schriftstellerin und Journalistin, brach angesichts der Ereignisse vom 11. September ihr selbst auferlegtes zehnjähriges Schweigen und antwortete Tiziano Terzani auf seinen Artikel im Corriere della Sera. In ihrer Entgegnung spricht Fallaci all jenen die Menschenwürde ab, die mit Osama bin Laden »sympathisieren« bzw. ihn zu verstehen versuchen. Für diese »Zweifler«, so Fallaci, habe sie nur eines übrig: Spucke und Fußtritte.




Florenz, 4. Oktober 2001

Oriana,
aus dem Fenster eines Hauses, das gar nicht so weit entfernt liegt von deinem Geburtshaus, betrachte ich die majestätischen, eleganten Klingen der Zypressen, die sich gegen den Himmel abzeichnen, und stelle mir vor, wie du aus deinem Fenster in New York den Blick auf die Skyline der Stadt richtest, aus deren Silhouette nun die beiden Zwillingstürme herausgebrochen sind. Dabei kommt mir wieder ein Tag vor vielen, vielen Jahren ins Gedächtnis, an dem wir beide einen langen Spaziergang über die von Olivenbäumen versilberten Hügel unserer Heimat machten. Ich war noch Anfänger in jenem Handwerk, in dem du bereits zu den Großen zähltest. Damals hast du mir vorgeschlagen, wir sollten uns »Briefe aus zwei Welten« schreiben: ich aus dem China unmittelbar nach Mao, du aus Amerika. Es lag an mir, dass daraus nichts wurde. Eben wegen deines großzügigen Angebotes von damals erlaube ich mir heute, dir zu schreiben, wobei ich dich nicht in einen Briefwechsel verwickeln möchte, den wir beide lieber vermeiden würden. Denn zu keinem Zeitpunkt hatte ich so sehr das Gefühl wie in diesem Moment, in einer Welt zu leben, die von der deinen vollkommen verschieden ist, obwohl wir doch zusammen denselben Planeten bewohnen.
Ich schreibe dir auch – und dies öffentlich –, weil ich den Lesern beispringen möchte, die über deine verbalen Attacken genauso entsetzt waren wie über den Einsturz des World Trade Centers. Dort starben Tausende von Menschen und mit ihnen unser Gefühl von Sicherheit. Unter deinen Worten aber scheint mit die beste Seite des menschlichen Verstandes, nämlich die Vernunft, und auch die edelste Regung des menschlichen Herzens, nämlich Mitgefühl, verschüttet worden zu sein.
Dein Ausbruch hat mich tief getroffen. Er hat mich verletzt und mir Karl Kraus ins Gedächtnis gerufen: »Wer etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige«, schreibt er voller Verzweiflung, weil den Menschen selbst angesichts der unbeschreiblichen Gräuel des Ersten Weltkriegs die Worte nicht versagen. Ganz im Gegenteil: Sie verfallen in ein ebenso sinnloses wie konfuses Geplapper. Schweigen hieß für Kraus Atem schöpfen, die richtigen Worte suchen, erst nachdenken, dann sprechen. Er nutzte diese bewusste Stille, um Die letzten Tage der Menschheit zu schreiben, ein Werk, das auch heute noch von beunruhigender Aktualität ist.
Es ist dein Recht, zu denken, was du denkst, und dies schriftlich festzuhalten. Das Problem liegt nur darin, dass dank deiner Berühmtheit deine brillante Lektion in Intoleranz auch Eingang in die Schulen finden und die Jugend erreichen wird, und genau das ist der Punkt, der mich beunruhigt.
Die augenblickliche Situation ist von historischer Bedeutung. Die Spirale des Schreckens steht erst am Anfang, aber wir können sie noch anhalten, wenn wir diesen Moment nutzen, um unsere Sicht der Dinge einmal zu überdenken. Daher liegt in diesem Moment auch eine enorme Verantwortung, denn die Hetzparolen jener, deren Mund noch immer nicht still steht, zielen wie immer nur auf unsere niedrigsten Instinkte. Sie wecken die Bestie des Hasses, die in jedem von uns schläft, und rütteln jene dumpfen Emotionen wach, die jede Untat denkbar machen. Sie sind es, die ohne Unterschied uns wie unsere Feinde zum Töten anstacheln – zum Mord oder Selbstmord.
»Der Leidenschaften Herr zu werden scheint mir ungleich schwieriger, als die Welt mit Waffengewalt zu erobern. Vor mir liegt ein schwieriger Weg«, schrieb der große Mahatma Gandhi. Und fügte hinzu: »Solange der Mensch nicht freiwillig den letzten Platz unter den Kreaturen der Erde einnimmt, wird er kein Heil finden.«
Und du, Oriana? Glaubst du tatsächlich, dass du uns das Heil bringst, indem du dich an die Spitze dieses Kreuzzuges gegen all jene setzt, die nicht wie du sind oder die du einfach nicht magst? Unser Heil liegt nicht in deiner geifernden Wut und schon gar nicht in diesem kalkulierten Militärschlag, den man, um ihn für uns akzeptabler zu machen, mit dem schönfärberischen Namen »Operation Dauerhafter Friede« belegt hat. Oder denkst du wirklich, dass Gewalt am besten mit Gewalt begegnet werden sollte? Seit Anbeginn aller Zeit hat es noch keinen Krieg gegeben, der definitiv allen Kriegen ein Ende gesetzt hätte. Und bei diesem Krieg wird das nicht anders sein.
Doch gleichzeitig geschieht hier etwas völlig Neues. Die Welt um uns herum verändert sich. Und wir können unsere Art zu denken verändern, unsere Art, auf dieser Welt zu leben. Dies ist eine gute Gelegenheit, die wir nicht versäumen sollten: Stellen wir alles zur Diskussion! Erfinden wir uns eine Zukunft, die sich von unserer Vision vor dem 11. September unterscheidet. Vor allem lassen wir uns nicht entmutigen, weil der Lauf der Dinge angeblich unabänderlich ist. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Kriege handelt, die unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit oder schlicht nach Rache befriedigen sollen.
Jeder Krieg ist furchtbar. Die fortwährende Verfeinerung der Zerstörungs- und Tötungstechniken macht sie immer grausamer. Dabei sollten wir eines nicht außer Acht lassen:
Wenn wir diesen Krieg mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln führen – auch mit Atombomben, wie der amerikanische Verteidigungsminister dies vorschlägt –, dann müssen wir uns darauf einstellen, dass auch unsere Feinde, wer immer sie sein mögen, mit noch größerer Entschlossenheit auf dieselbe Weise zurückschlagen werden: ohne sich an Regeln zu halten, ohne irgendwelche ethischen Prinzipien zu beachten. Antworten wir auf deren Angriff auf das World Trade Center mit noch heftigerer Gewalt – zuerst in Afghanistan, dann im Irak, dann wer weiß, wo –, so werden sie unsere Reaktion mit noch entsetzlicheren Anschlägen beantworten. Und die Spirale der Gewalt dreht sich immer weiter.
Warum also halten wir diesen Teufelskreis nicht vorher schon an? Wir haben das Gefühl dafür verloren, wer wir sind, den Sinn dafür, wie zerbrechlich und eng verflochten die Welt ist, in der wir leben. Daher glauben wir irrtümlich, wir könnten Gewalt in kleinen oder »intelligenten« Dosen einsetzen, um der Gewalt anderer Einhalt zu gebieten. Wir sollten uns von unseren Illusionen verabschieden. Und zuallererst sollten wir jene Staaten, die nukleare, chemische und bakteriologische Waffen besitzen – die Vereinigten Staaten in vorderster Reihe –, dazu anhalten, der Menschheit gegenüber die Verpflichtung einzugehen, sie niemals zum Erstschlag zu benutzen, statt ständig mit dem tödlichen High-Tech-Säbel zu rasseln. Dies wäre ein erster Schritt in eine neue Richtung. Dies würde den einzelnen Staaten nicht nur eine beträchtliche moralische Überlegenheit geben (die in Zukunft eine mächtige Waffe sein wird), sondern auch die schreckliche Spirale von Rache und Gewalt, die sich eben zu drehen beginnt, gar nicht erst in Bewegung setzen.
Dieser Tage habe ich des Öfteren ein wunderschönes Buch zur Hand genommen, das ein Freund von mir vor zwei Jahren in Deutschland veröffentlicht hat. (Schade, dass es noch nicht ins Italienische übersetzt ist.) Das Buch trägt den Titel: DieKunst, nicht regiert zu werden: ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Sein Autor ist Ekkehart Krippendorf, der jahrelang an der Universität von Bologna gelehrt hat, bevor er nach Berlin zurückgekehrt ist. Krippendorf stellt die faszinierende These auf, dass die Politik, in ihrer höchststehenden Form, aus der Überwindung der Rache entstanden ist. Seiner Ansicht nach finden sich die Wurzeln der westlichen Kultur in bestimmten Mythen wie zum Beispiel in der Geschichte von Kain und Abel oder im Mythos von den Erynnien, die den Menschen immer daran erinnern sollen, wie wichtig es ist, den Teufelskreis der Rache zu durchbrechen, will er ein zivilisiertes Leben führen. Kain tötet seinen Bruder, doch Gott verbietet den Menschen, Abel zu rächen. Nachdem er Kain zeichnet und ihn so schützt, verurteilt er ihn zu einem Leben im Exil, wo er die erste Stadtgründet. (Einer afghanischen Sage zufolge war diese Stadt Kabul.) Die Rache ist nicht Aufgabe der Menschen, sondern liegt in der Hand Gottes.
Krippendorf meint, dass dem Theater von Äschylos bis Shakespeare eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des westlichen Charakters zukommt. Die Protagonisten aller denkbaren Konflikte auf die Bühne zu stellen, sie ihren Standpunkt darlegen, ihre innere Zerrissenheit und ihre möglichen Handlungsalternativen durchspielen zu lassen, gab dem abendländischen Menschen die Möglichkeit, seine Leidenschaften zu ergründen und die Sinnlosigkeit von Gewalt zu erkennen, die niemals zum Ziel führt.
Leider sind wir heute auf der Weltenbühne die einzigen Darsteller und die einzigen Zuschauer. Daher hören, sehen und lesen wir in unseren Medien auch nur unsere Ansichten. Wir spüren nur unseren Schmerz. Die Welt der anderen lernen wir nicht kennen.
Du, Oriana, sagst, dass Kamikazepiloten dich nicht interessieren. Mich schon. Ich habe in Sri Lanka einige Tage bei den Tamilischen Tigern verbracht, die sich dem Selbstmord verschrieben haben. Auch die jungen Palästinenser, die sich in israelischen Restaurants in die Luft sprengen, interessieren mich. Vielleicht hättest auch du ein wenig Mitleid empfunden, wenn du in Chiran auf der Insel Kyushu gewesen wärst, wo die ersten japanischen Kamikazepiloten ausgebildet wurden, und dort die mitunter poetischen und traurigen Worte gelesen hättest, die sie heimlich aufschrieben, bevor sie widerstrebend loszogen, um für Kaiser und Vaterland zu sterben.
Die Kamikazepiloten interessieren mich, weil ich verstehen möchte, was sie zu diesem unnatürlichen Akt des Selbstmordes treibt und was sie davon abhalten könnte.
Diejenigen von uns, deren Kinder – glücklicherweise – geboren wurden, sodass wir ihnen keine posthumen Briefe schreiben müssen, beginnen nämlich, sich Sorgen zu machen, wenn sie sie in diesem neuen, sich rapide ausbreitenden Flammenmeer der Gewalt umtost sehen, von dem das World Trade Center vielleicht nur der Anfang war. Hier geht es nicht darum, zu rechtfertigen oder zu verurteilen. Wir müssen verstehen. Denn ich bin überzeugt, dass wir den Terrorismus nicht besiegen werden, indem wir die Terroristen töten, sondern nur, indem wir die Ursachen beseitigen, die sie zu solchen machen.
In der Geschichte der Menschheit gibt es keine einfachen Erklärungen. Nur selten existiert zwischen einem Faktum und einem anderen ein klarer und direkter Zusammenhang. Jedes Ereignis, auch in unserem Leben, hat Tausende von Ursachen, die ihrerseits wieder Tausende von Wirkungen hervorrufen. Das Attentat auf das World Trade Center ist ein solches Geschehnis: Resultat einer Unmenge komplexer Fakten. Eines ist es aber sicher nicht: ein Angriff im Rahmen eines »Religionskrieges« der moslemischen Extremisten, eines Kreuzzuges mit umgekehrten Vorzeichen, der auf die Gewinnung unserer Seelen abzielt, wie du dies formulierst, Oriana. Und es ist auch kein »Angriff auf die Freiheit und die westliche Demokratie«, wie die Politiker jeglicher Couleur dies vereinfachend auszudrücken belieben.
Ein früherer Professor an der Berkeley-Universität, ein Mann, den man sicher nicht antiamerikanischer Umtriebe oder finsteren Sympathisantentums verdächtigen kann, liefert für das Geschehene eine ganz andere Begründung. »Die Selbstmordattentäter vom 11. September haben keineswegs Amerika angegriffen: Sie haben die amerikanische Außenpolitik attackiert«, schreibt Chalmers Johnson in der Oktoberausgabe von The Nation. Für ihn, der mehrere Bücher geschrieben hat (sein letztes, Blowback, »Gegenschlag«, das im Jahr 2001 erschien, hat nachgerade etwas Prophetisches), handelt es sich bei dem Attentat nur um einen von zahllosen »Gegenschlägen«, die mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Vereinigten Staaten ihre Vorherrschaft in der Welt durch ein Netz von immer noch 800 Militärbasen in aller Welt unterstreichen, obwohl der Kalte Krieg nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion vorbei ist.
Johnsons Analyse wäre in Zeiten des Kalten Krieges wohl als gezielte Desinformation von Seiten des KGB gewertet worden, denn er listet sämtliche Staatsaffären, Komplotte, Verfolgungen, Morde und Eingriffe in innere Angelegenheiten auf, in welche die Vereinigten Staaten verwickelt waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden dabei korrupte oder diktatorische Herrscher und Regierungen in Lateinamerika, Afrika, Asien und im Nahen Osten mehr oder weniger offen unterstützt.
Der »Gegenschlag«, der als Antwort auf die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon gedacht war, steht in einer ganzen Reihe ähnlicher »Geschehnisse«: 1953 die Vertreibung von Mossadegh aus dem Iran und die Unterstützung von Schah Resa Pahlevi, der Golfkrieg und die daran anschließende permanente Präsenz der amerikanischen Truppen auf der Arabischen Halbinsel, vor allem in Saudi-Arabien, wo die heiligen Stätten des Islam liegen. Johnson zufolge ist dieser Zug der amerikanischen Außenpolitik dafür verantwortlich, dass »so viele rechtschaffene Menschen in den islamischen Ländern davon überzeugt sind, Amerika sei ihr unerbittlicher Feind«. Daraus rühre der heftige Antiamerikanismus bei den Muslimen, über den die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sich heute so sehr wundern.
Ob Johnsons Analyse nun zutrifft oder nicht, sei dahingestellt. Unbestreitbar ist aber die Tatsache, dass hinter den gegenwärtigen amerikanischen und europäischen Bemühungen im Nahen Osten – von der israelisch-palästinensischen Frage einmal abgesehen – der fast besessene Wunsch steht, die gewaltigen Ölreserven dieser Region mögen in der Hand »befreundeter« Regierungen bleiben. Dies ist die Falle, in die wir getappt sind und aus der wir uns jetzt befreien könnten.
Warum stellen wir unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom Erdöl nicht endlich infrage? Warum erforschen wir nicht endlich, wie wir alternative Energiequellen nutzen können, wie wir es schon vor mehr als zwanzig Jahren hätten tun sollen?
Auf diese Weise müssten wir uns nicht mehr in die Konflikte am Golf verwickeln lassen und Regierungen unterstützen, die nicht weniger repressiv und abscheulich sind als die der Taliban-Herrscher. Und wir würden keine weiteren »Gegenschläge« von Seiten der Gegner dieser Regierungen mehr riskieren. Außerdem wäre damit auch das ökologische Gleichgewicht des Planeten gesichert. Vielleicht könnten wir sogar Alaska retten, das Präsident Bush, dessen politische Nähe zur Ölindustrie ja völlig unbestritten ist, ein paar Monate zuvor für die Ölsucher freigegeben hat.
Überhaupt, was das Thema »Öl« angeht, liebe Oriana, bin ich sicher, auch du hast bemerkt, dass augenblicklich zwar viel über Afghanistan geschrieben wird, dass aber nur wenige Autoren darauf hinweisen, welche strategische Bedeutung diesem armen Land zukommt: Jede Öl- bzw. Gasleitung, die die immensen Methan- bzw. Erdölvorkommen Zentralasiens (der ehemaligen Sowjetrepubliken, die – wie durch ein Wunder – plötzlich alle Verbündete der Amerikaner sind) nach Pakistan bzw. Indien befördern und von dort aus – unter Umgehung des Irans – nach Südostasien weiterleiten soll, muss zwangsweise durch Afghanistan verlaufen. Niemand erinnert sich dieser Tage noch daran, dass 1997 zwei Delegationen der heute so verhassten Taliban in Washington (im Außenministerium) empfangen wurden. Eine große amerikanische Ölgesellschaft, die Unocal, schloss damals unter Mitwirkung keines Geringeren als HenryKissinger mit Turkmenistan einen Vertrag zum gemeinsamen Bau einer Ölleitungdurch Afghanistan. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich hinter dem aktuellen Angriff auf Afghanistan, der angeblich der Verteidigung so hehrer Ziele wie Demokratie und Freiheit dient, weniger wohlklingende, aber um so handfestere Beweggründe verbergen.
Aus diesem Grund sorgen sich auch in Amerika viele Intellektuelle, dass die Verquickung der Interessen von Öl- und Waffenindustrie, die beide in Washington augenblicklich an höchster Stelle repräsentiert sind, in Zukunft die amerikanische Außenpolitik nur noch in eine bestimmte Richtung lenken wird. Und dass im Zuge der Terrorbekämpfung die Bürgerrechte und demokratischen Freiheiten, die Amerika so einzigartig machen, beschnitten werden.
Die Tatsache, dass ein Fernsehjournalist bei einer Pressekonferenz des Weißen Hauses öffentlich abgekanzelt wurde, weil er die Frage stellte, ob Bushs Ausdruck »feige« für die Selbstmordattentäter wirklich zuträfe, gab dieser Besorgnis noch zusätzliche Nahrung. Außerdem wurden einzelne Mitarbeiter, die als nicht gerade »regierungsfreundlich« galten, von einigen Zeitungen »gegangen«, kritische Fernsehprogramme kurzerhand zensiert.
Die Zweiteilung der Welt in »jene, die für uns sind, und die anderen, die gegen uns sind« (und so sehr an die Taliban gemahnt), erzeugt ein Klima, in der Hexenjagden wieder gedeihen können. Man fühlt sich an das Amerika der fünfziger Jahre erinnert, als unter Senator McCarthy zur gnadenlosen Hatz auf Intellektuelle, Beamte und Akademiker geblasen wurde, die im Ruch standen, Kommunisten zu sein bzw. mit ihnen zu sympathisieren. Viele von ihnen wurden verfolgt, vor Gericht gestellt und fanden keine Arbeit mehr.
Dein Angriff, Oriana, in dem du Gift und Galle spuckst gegen »Schwätzer« und »skeptische Intellektuelle«, geht in dieselbe Richtung. Der Zweifel ist eine der wichtigsten Funktionen des Denkens. Und er ist ein Fundament unserer Kultur. Wollten wir den Zweifel aus unserem Kopf vertreiben, dann wäre dies, als wollten wir unseren Lungen die Luft zum Atmen verweigern. Ich glaube wirklich nicht, auf alle Fragen eine Antwort zu haben (daher eigne ich mich nicht zum Politiker), doch ich denke, dass es sehr nützlich ist, die Antworten anderer in Zweifel zu ziehen und offen und aufrecht Fragen zu stellen. Und ich denke, dass ich diesen Freiraum haben sollte. In Zeiten des Krieges darf es kein Verbrechen sein, vom Frieden zu sprechen.
Leider zeigt sich auch bei uns ein neuer Hang zu »alten Werten«, der einen zur Verzweiflung treiben könnte, vor allem im offiziellen Umfeld von Politik und Medienwelt. Als jage uns Amerika schon jetzt Angst ein. So habe ich erst neulich einen Exkommunisten, der in seiner Partei [der POS, Partei der Demokratischen Sozialisten, Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei Italiens] auch ein Amt bekleidet, in einer Fernsehsendung sagen hören, dass der Spielberg-Film »Der Soldat James Ryan« eine wichtige Symbolfigur für das Amerika ist, das uns Europäer zweimal gerettet hat. Dabei kann ich mich noch erinnern, wie wir gemeinsam gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam protestiert haben.
Mir ist durchaus klar, dass dies für Politiker ein schwieriger Moment ist. Ich verstehe das. Und noch mehr verstehe ich, welche Ängste unser Ministerpräsident Silvio Berlusconi aussteht. Er, der sein Amt als schnellen Weg zur Lösung einiger sehr irdischer Interessenkonflikte sah, die vor allem sein eigenes Vermögen betrafen, sieht sich mit einem Mal mit einem Interessenkonflikt auf göttlicher Ebene konfrontiert, einem Krieg der Zivilisationen, der im Namen Gottes und Allahs geführt wird. Nein. Ich beneide die Politiker keineswegs.
Wir, Oriana, haben Glück, sind wir doch keine Entscheidungsträger. Da wir nicht von der aktuellen Strömung hin und her geworfen werden, erfreuen wir uns des Privilegs, am Ufer zu stehen und nur Zuschauer zu sein. Doch gerade dies überträgt uns auch große Verantwortung, denn wir haben die nicht leicht zu erfüllende Aufgabe, hinter die so genannten Wahrheiten zu blicken. Unser Job ist es, »Verständnis zu schaffen, nicht Schlachten anzuheizen«, wie Edward Said, palästinensischen Ursprungs und Professor an der Columbia University, in einem Aufsatz über die Rolle der Intellektuellen schreibt, der etwa eine Woche vor den Attentaten in Amerika erschienen ist.
Unser Handwerk besteht nicht zuletzt auch darin, komplizierte Dinge zu vereinfachen. Doch dabei sollten wir nicht übertreiben, Oriana, indem wir Arafat zum einzigen Symbol der Doppelzüngigkeit und des Terrorismus machen und die Vereinigungen unserer moslemischen Mitbürger durchweg zu terroristischen Zellen umdeuten. Deine Argumente werden Eingang in die Schulen finden, wo sie laut vor den weniger hasserfüllten Stimmen erklingen werden. Glaubst du wirklich, dass die Italiener von morgen, erzogen im Geiste dieser simplifizierenden Intoleranz, zu besseren Menschen werden?
Wäre es nicht besser, sie würden im Religionsunterricht mehr über den Islam erfahren? Oder im Literaturunterricht auch die persischen Dichter Rumi und Omar Khayyam lesen? Wäre es nicht schön, wenn es auch einige gäbe, die Arabisch studierten statt Englisch und vielleicht noch Japanisch? Wusstest du, dass im Außenministerium unseres schönen Staates, der am Mittelmeer liegt und für den die arabischen Staaten quasi Nachbarn sind, nur zwei Beamte Arabisch sprechen? Einer davon ist, wie dies bei uns eben des Öfteren vorkommt, gerade als Konsul in Adelaide, Australien.
Dabei fällt mir ein Satz des Kulturtheoretikers ArnoldToynbee ein: »Die Werke der Künstler und Gelehrten leben länger als die Taten der Soldaten, Staatsmänner und Händler. Poeten und Philosophen bohren tiefer als Historiker. Die Heiligen und Propheten aber sind wichtiger als alle anderen zusammen.«
Wo sind heute die Heiligen und die Propheten? Ja, wenigstens einen davon bräuchten wir jetzt. Ein zweiter Franz von Assisi wäre wirklich vonnöten. Auch er lebte zu Zeiten der Kreuzzüge, sein Interesse aber richtete sich ganz auf das Wohl der »anderen«, gegen welche die Kreuzfahrer zu Felde zogen. Er tat alles, um sie kennen zu lernen. Beim ersten Mal ging sein Schiff unter, und er konnte sich gerade noch retten. Beim zweiten Mal wurde er sehr krank, bevor er das Heilige Land erreichte, und kehrte nach Hause zurück. Beim fünften Kreuzzug schließlich erlebte er die Belagerung von Damiette in Ägypten und war entsetzt über das Verhalten der Kreuzfahrer. (»Er erblickte die Sünde und das Böse.«) Schockiert vom Anblick der vielen Toten auf den Schlachtfeldern, begab er sich in Feindesland, wurde dort gefangen genommen und dem Sultan vorgeführt. Man schrieb das Jahr 1219. Schade, dass es damals noch kein Fernsehen gab, denn der Bericht über diese Begegnung wäre sicher sehr interessant gewesen. Nach einem Gespräch, das vermutlich die ganze Nacht dauerte, ließ der Sultan den heiligen Franz frei. Er kehrte unverletzt ins Lager der Kreuzfahrer zurück.
Es macht mir Spaß, mir vorzustellen, wie sie beieinander saßen und einander ihre Standpunkte erläuterten. Wie Franz von Assisi von Christus sprach und der Sultan Passagen aus dem Koran vorlas. Und wie sie sich am Ende einig waren, dass wichtig nur das sei, was der »Gaukler Gottes« überall zu verkünden pflegte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Und ich stelle mir vor, dass die beiden lächelnd auseinander gingen, da der heilige Franz ja ebenso viel lachte wie predigte. Dass keinerlei Feindschaft zwischen ihnen herrschte, da beide ja wussten, dass sie die Geschichte nicht würden ändern können.
Und heute? Die Geschichte nicht zu ändern könnte durchaus gleichbedeutend sein mit »ihr ein Ende bereiten«. Erinnerst du dich noch an Padre Balducci, Oriana? Den Priester, der in Florenz predigte, als wir noch jung waren? Sich auf den atomaren Holocaust beziehend, stellte er eine interessante Frage: »Dass das Ende der Welt nahe sein könnte, dass wir die Wahl zwischen Sein und Nichtsein haben, hat dies den Menschen menschlicher gemacht?« Wenn ich mich so umsehe, würde ich eher mit Nein antworten. Trotzdem dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben.
»Sagen Sie mir, was treibt den Menschen zum Krieg?«, schrieb Albert Einstein 1932 in einem Brief an Sigmund Freud. »Ist es wohl möglich, die psychische Entwicklung des Menschen so zu steuern, dass er fähig wird, auf die seelische Krankheit des Hasses und der Zerstörungswut zu verzichten?«
Freud nahm sich zwei Monate Zeit für die Antwort. Und er meinte, dass eine gewisse Hoffnung durchaus bestünde.
Zwei Faktoren schienen ihm die Wahrscheinlichkeit künftiger Kriege zu verringern: eine zivilisiertere Grundhaltung der Menschen und die Angst vor den Auswirkungen des Krieges der Zukunft.
Der Tod ersparte es Freud, die Gräuel des ZweitenWeltkriegs miterleben zu müssen. Einstein hingegen nicht. Und dessen Überzeugung von der Notwendigkeit einer radikal pazifistischen Einstellung wuchs. Daher erteilte er 1955, kurz vor seinem Tod, von seinem Häuschen in Princeton aus, wo er Zuflucht gefunden hatte, der Menschheit seinen Rat, wie sie ihr Überleben sichern könne: »Erinnert euch, dass ihr Menschen seid, und vergesst alles andere.«
Angriff, Oriana, ist keineswegs die beste Verteidigung. (Ich denke hier an die Spucke und die Fußtritte, die du für all jene reserviert hast, die nicht deiner Meinung sind.) Um uns zu schützen, müssen wir keineswegs töten. Auch wenn es hier einige gerechtfertigte Ausnahmen von der Regel geben mag. Ich habe immer gern in den Jataka genannten Geschichten gelesen, die von den früheren Leben Buddha Shakyamunis erzählen. Er, der die Fleisch gewordene Gewaltlosigkeit ist, sah sich in einer seiner vorhergehenden Lebenszeiten selbst gezwungen, einen Menschen zu töten. In dieser Geschichte benutzt er zusammen mit 500 anderen Menschen ein Schiff. Da er bereits hellseherische Fähigkeiten entwickelt hat, »sieht« er, dass einer der Passagiere ein Totschläger ist, der alle ausrauben und ermorden will. Der Buddha kommt ihm jedoch zuvor und wirft ihn ins Wasser. Der Räuber ertrinkt, die anderen Passagiere aber sind gerettet.
Gegen die Todesstrafe zu sein bedeutet ja auch nicht, gegen jede Form der Bestrafung und für die Freiheit aller Verbrecher einzutreten. Um aber auf gerechte Weise zu strafen, müssen wir bestimmte Regeln beachten, die uns der Zivilisationsprozess gelehrt hat. Wir müssen die Gesetze der Vernunft respektieren und den Schuldbeweis abwarten. Die Parteibonzen der Nazis wurden vom Gerichtshof in Nürnberg abgeurteilt, die Japaner, die für alle in Asien begangenen Grausamkeiten verantwortlich waren, stellte man in Tokio vors Kriegsgericht. Sie wurden zum Tode verurteilt und gehenkt. Die Beweise gegen sie waren erdrückend. Welche Beweise aber haben wir gegen Osama bin Laden?
»Uns liegen erdrückende Beweise für die Schuld von Warren Anderson vor, des Präsidenten von Union Carbide. Wir erwarten, dass ihr ihn uns ausliefert«, schrieb vor einigen Tagen Arundhati Roy, die Autorin von Der Gott der kleinen Dinge, aus Indien, offenkundig, um zu provozieren. Eine wie du, Oriana, berühmt und nicht unumstritten, geliebt und gehasst. Wie du, Oriana, ist auch sie immer bereit, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Arundhati Roy hat die internationale Diskussion um Osama bin Laden genutzt, um die Auslieferung des amerikanischen Präsidenten der Unioh Carbide an ein indisches Gericht zu fordern. Er war verantwortlich für die 1984 erfolgte Explosion in der Chemiefabrik von Bhopal, Indien, die mehr als 16.000 Todesopfer forderte. Auch er also ein Terrorist? Vom Standpunkt der Toten aus betrachtet, müssten wir diese Frage vielleicht bejahen.
Der Terrorist aber, den man uns augenblicklich als »Feind« verkauft, ist der saudi-arabische Millionär, der von einer Höhle im afghanischen Gebirge aus den Angriff auf die Zwillingstürme befiehlt. Oder der Ingenieur und Pilot, der – fanatischer Fundamentalist – im Namen Allahs sich selbst und Tausende unschuldiger Menschen tötet. Oder der palästinensische Jugendliche, der sich – mit einer Tasche voller Dynamit bewaffnet – in einer Gruppe von Israelis selbst in die Luft sprengt.
Wir müssen akzeptieren, dass für andere der »Terrorist« der Geschäftsmann ist, der zwar keine Bomben mit sich herumträgt, aber in seinem Aktenköfferchen Pläne für eine Chemiefabrik hat, die er wegen der erhöhten Explosionsgefahr und der umwelttechnischen Risiken in einem der reichen Länder der Ersten Welt niemals bauen dürfte. Und das Atomkraftwerk, in dessen Umkreis überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken? Und der Staudamm, für den Zehntausende Familien ihr Heim verlassen müssen? Oder die vielen kleinen Fabriken, die auf gutem Reisland errichtet werden, sodass aus den selbstständigen Bauern Arbeiter werden, die Sportschuhe und Miniradios produzieren, zumindest bis zu dem Tag, an dem die Produktion an einen noch billigeren Ort verlagert wird? Dann schließen die Fabriken, die Arbeiter haben nichts mehr zu tun, doch die Reisfelder sind und bleiben verschwunden, sodass die Leute regelrecht verhungern müssen.
Mit Relativismus hat diese Sicht der Dinge nichts zu tun. Ich möchte nur sagen, dass Terrorismus als Strategie der Gewalt sich in den verschiedensten Formen ausdrücken, ja auch wirtschaftlicher Natur sein kann. Daher dürfte es schwierig sein, eine gemeinsame Definition für das zu bekämpfende Übel zu finden.
Die Regierungen des Westens stehen heute wie ein Mann hinter den Vereinigten Staaten, einig im Wissen darum, wer die Terroristen sind und wie man sie zu bekämpfen hat. Die Bürger der einzelnen Staaten sind da schon viel weniger überzeugt. Im Augenblick finden in Europa noch keine Massendemonstrationen für den Frieden statt, doch das Gefühl des Unbehagens ist weit verbreitet. Ebenso weit verbreitet wie die Unsicherheit darüber, was denn anstelle des Krieges wünschenswert wäre. Auf dem Schild einer Demonstrantin in Berlin stand zu lesen: »Wir wollen etwas Schöneres als den Kapitalismus.« Und in Bologna, wo die Menschen vor einigen Tagen auf die Straßen gingen, sah man einen Slogan, der in Italien weit verbreitet ist: »Un mondo giusto non e mai Nato.« – Mit der Nato gibt es keine gerechte Welt. Eben. Und vielleicht ist es das, was wir jetzt mehr denn je fordern sollten: eine »gerechtere Welt«. Eine Welt, in der jener, welcher viel besitzt, sich dessen annimmt, der wenig besitzt. Eine Welt, die sich an ihre Gesetze hält und ein wenig auch an eine intakte Ethik.
Die breite Koalition gegen den Terror, die Washington jetzt auf die Beine stellt, indem es alte Bündnisse kappt und vorher verfemte Länder bzw. Staatschefs ins Boot holt, die plötzlich akzeptable Bündnispartner abgeben, ist lediglich ein weiteres Beispiel für den ungeheuren politischen Zynismus dieses Landes. Und ebendiese Haltung nährt den Terrorismus in vielen Teilen der Welt und entmutigt so viele aufrechte Menschen in den Ländern des Westens.
Die Vereinigten Staaten haben sich sogar an die Vereinten Nationen gewandt, um ihrem »Kreuzzug« gegen den Terror den Anschein von Legalität zu verleihen. Dabei haben die USA ihre Beiträge zur Finanzierung der Arbeit dieser Institution jahrelang eingefroren. Die Vereinigten Staaten haben weder das Gründungsstatut des Internationalen Strafgerichtshofes unterschrieben noch die Vereinbarung über den Nichteinsatz von Anti-Personen-Minen. Und auch die Klimaschutzvereinbarung von Kyoto hat Amerika nicht unterzeichnet.
Das nationale Interesse geht Washington über alles. Daher hat die amerikanische Regierung jetzt auch entdeckt, wie nützlich Pakistan sein kann, ein Land, dessen Militärregime man früher ablehnte und das wegen seiner Atombombenexperimente immer wieder mit wirtschaftlichen Sanktionen bedacht wurde. Daher wird die CIA wohl bald wieder Mafiosi und Killer in Sold und Lohn nehmen, die für sie die »Schmutzarbeit« erledigen und verstreut über den Globus jene Menschen liquidieren, die auf der schwarzen Liste des Geheimdienstes stehen.
Und doch wird die Politik sich früher oder später an der Ethik messen lassen müssen, wenn wir eine bessere Welt wollen. Und zwar besser in Asien wie in Afrika, in Timbuktu wie in Florenz.
Und was Florenz angeht, Oriana, so bin ich auch niedergeschlagen und traurig, wenn ich die Stadt besuche, weil alles dort anders ist als früher, vor allem sehr viel vulgärer. Doch liegt das nicht am Islam, und schon gar nicht an den Emigranten, die sich dort niedergelassen haben. Sie sind es sicher nicht, die aus Florenz einen Andenkenladen gemacht haben, der sich für die Touristen prostituiert! Dies geschieht leider überall. Florenz war sehr viel schöner, als es noch kleiner und ärmer war. Heute ist die Stadt ein Schandfleck, aber nicht weil die Muslime sich am Domplatz treffen, die Filipinos an der Piazza vor Santa Maria Novella und die Albaner am Bahnhof. Vielmehr ist Florenz jetzt auch »globalisiert«, weil es dem Ansturm jener Kraft nicht widerstehen konnte, die – bis vor kurzem jedenfalls – als unbezwingbar galt: der Macht des Marktes.
Innerhalb von nur zwei Jahren sind aus einer schönen Straße in der Altstadt, der Via Tornabuoni, die ich als Junge so gerne entlangschlenderte, verschwunden: ein Antiquariat, eine alte Bar, eine alteingesessene Apotheke und ein Musikgeschäft. Und was findet sich jetzt stattdessen dort? Modeläden. Glaub mir, auch ich finde mich in dieser Stadt nicht mehr wieder.
Aus diesem Grund habe auch ich mich zurückgezogen.
Ich lebe heute in einer Hütte im indischen Teil des Himalaya, zu Füßen der göttlichsten Berge der Erde. Ich verbringe Stunden damit, sie zu betrachten, wie sie da vor meinen Augen liegen, majestätisch und unbeweglich, reinstes Symbol der Dauerhaftigkeit, und doch im Laufe des Tages ständigen Veränderungen unterworfen wie alles im Universum. Die Natur ist eine große Lehrerin, Oriana, daher sollten wir immer und immer wieder zu ihr zurückkehren, um ihren Lektionen zu lauschen. Versuch es ruhig einmal. Sonst wirst du dich am Ende wirklich noch einsam fühlen, eingeschlossen in einem Apartment, eingepfercht in einen Wolkenkratzer, vor Augen nichts anderes als verschachtelte Menschen in ebensolchen Wolkenkratzern. Dann fühlt man sich vielleicht wirklich wie das zufällige Produkt der Umstände und nicht wie der kleine Teil eines großen Ganzen, größer als alle Türme, die du noch vor Augen hast und die jetzt verschwunden sein mögen. Betrachte einen Grashalm im Wind und versuche, dich zu fühlen wie er. Dann wird auch deine Wut vergehen.
Ich grüße dich, Oriana, und ich wünsche dir von Herzen, dass du Frieden finden mögest. Denn wenn er nicht in uns ist, finden wir ihn nirgends.
aus Tiziano Terzani, Briefe gegen den Krieg



Das erste Geld

Die geniale Idee der Lyder 

 Die ersten erhaltenen Münzen und damit das erste Geld überhaupt wurden um 650 V. Chr. vom Volk der Lyder an der Westküste der heutigen Türkei geprägt. Es handelte sich dabei um standardisierte Stücke aus Edelmetall, die ihr sagenhafter König Krösus Mitte des 6. Jahrhunderts mit seinem Zeichen, dem Kopf eines Löwen, versehen ließ, um so Reinheit und Gewicht der Münzen zu garantieren. Das praktische Zahlungsmittel verbreitete sich rasch und bescherte Krösus seinen sprichwörtlichen Reichtum. 


Lydische Goldmünze des Krösus, etwa 550 v. Chr.,
British Museum, London [Quelle: Wikipedia]
 Wo kein Geld im Umlauf war, wurden Güter und Produkte gegeneinander getauscht, später auch mit »Naturalgeld« oder »Warengeld« wie Waffen, Schmuck, Salz, Tabak, Wolle oder Stockfisch bezahlt. Diese Waren und Objekte taten beim Fehlen eines entsprechenden Tauschprodukts gute Dienste und wurden auch lange Zeit nach Einführung des Geldes in Krisenzeiten zum wertvollen Ersatzzahlungsmittel, wie etwa Zigaretten nach Ende des Zweiten Weltkriegs. 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012

Montag, 26. November 2012

Vor 2500 Jahren – 5.-4. Jahrhundert v. Chr.: Die Glanzzeit der Demokratie in Athen

Die Herrschaft des (männlichen) Volks 

 Der Begriff der Demokratie, abgeleitet von »demos« (Volk) und »kratein« (herrschen), stammt aus dem antiken Griechenland, wo in Athen diese Verfassungs- bzw. Staatsform auch ihre erste Blütezeit erlebte. Mit der Glanzeit der athenischen Demokratie ist vor allem der Name des Perikles verbunden. Er definierte die Verfassung im Athen seiner Zeit als »demokratisch«, weil »der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist«. 


»Das Zeitalter des Perikles«, Druck nach einem Gemälde von Philipp von Foltz, 1853
 Von 508 bis 322 v. Chr. herrschte in Athen eine direkte Demokratie, die ihren Namen wahrlich verdiente und deren Ausmaß der Bürgerbeteiligung nie wieder erreicht wurde. jeder Bürger hatte das Recht, an Volksversammlungen und Gerichtsverhandlungen teilzunehmen, jeder Bürger konnte ein öffentliches Amt bekleiden. Wichtige Entscheidungen wie die über Krieg und Frieden wurden in Volksversammlungen getroffen, bei denen eine Mindestzahl von einigen Tausend Bürgern anwesend sein musste. Aus heutiger Perspektive hatte die athenische Demokratie allerdings einen großen Makel: Frauen und Sklaven waren keine Bürger und somit von der Herrschaft des Volks ausgeschlossen. Perikles (um 500-429 v. ehr.) griechischer Staatsmann leitete seit 443 als »Stratege" die Geschicke Athens sicherte die Dominanz der Stadt über die Verbündeten. 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012

Athen Geburt der Demokratie - Deutsche Doku über Athen [51:35]

Veröffentlicht am 17.05.2013
Sicher keine Demokratie im heutigen Sinne -- aber doch eine Form der Staatsführung, in der nicht mehr ein Adelsmann in eine Machtposition hineingeboren wurde, sondern eine größere Zahl Bürger ihre Herrscher wählen und auch wieder entmachten konnte.
Jedoch war die Demokratie in der griechischen Staatenwelt neben Aristokratie (Herrschaft weniger Adliger) und Monarchie (Königsherrschaft) nur eine weitere Regierungsform. Phasen der Demokratie wechselten mit Phasen z. B. der Königsherrschaft.

Das dunkle Geheimnis des Athener Wohlstands 
Angreifbar ist die direkte Demokratie Athens aus einem ganz anderen Grund: Je nach Schätzung sind lediglich zwischen 15 und 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt zur Teilnahme am politischen Leben berechtigt. Frauen sind aufs Haus beschränkt. Den zahlreichen Sklaven wird zwar zumeist Respekt entgegengebracht, einige schaffen es sogar, sich freizukaufen – an der Volksversammlung teilnehmen dürfen sie nicht. Mindestens ebenso strikt geht Athen mit den zahlreichen Einwanderern um, die in der Stadt leben. Grundbesitz ist ihnen verwehrt, sie müssen eine Kopfsteuer entrichten, und die Vollbürgerschaft erlangen nur wenige von ihnen - und das, obwohl das Wirtschaftsleben ohne sie nicht auskommen könnte. Bis heute wird in der Antikenforschung heiß diskutiert, ob den Athenern ihr vergleichsweise zeitraubendes politisches Engagement ohne die Arbeit von Sklaven und Frauen überhaupt möglich gewesen wäre: hielten diese doch den Alltag am Laufen, während die stimmberechtigten Männer munter auf dem Marktplatz diskutierten. Ein Gegenargument sind die Diäten, die Perikles, einer der wichtigsten Staatsmänner Athens, eingeführt hat: Er lässt jedem Teilnehmer der Volksversammlung ein Honorar auszahlen. Damit ist eigentlich niemand mehr darauf angewiesen, dass andere seinen Verdienstausfall ausgleichen. Trotzdem zeugt diese Frage vom blinden Fleck der Athener Freiheitsliebe.
Quelle: Planet Wissen

Sonntag, 25. November 2012

Tuareg - die Kinder der Sahara 

 Da die Tuareg ihre Kleidung traditionell mit Indigo färben, wurden sie von frühen Reisenden auch als »das Blaue Volk« bezeichnet. Das von Legenden umwobene Wüstenvolk hat in seiner über 2000-jährigen Geschichte in der unwirtlichen Sahara eine Kultur entwickelt, die auf dem Wissen um die Überlebensmöglichkeiten in der Wüste basiert. Obwohl es kaum Wasser und damit auch kein Weideland gab, züchteten sie Kamele, Ziegen und Schafe und bauten Obst und Getreide in Oasengärten an. Ihre Existenz sicherten sie jahrhundertelang durch den Karawanenhandel zwischen dem Maghreb und Schwarzafrika. 

Quelle: Reisenewsonline
Als die Franzosen die Region ab 1870 zunehmend kolonialisierten, zerstörten sie nach und nach die Lebensgrundlagen der Tuareg. 50 Jahre lang leistete das Wüstenvolk erbitterten Widerstand, ehe ihr angestammtes Gebiet als »befriedet« galt. Als die Kolonialmächte um 1960 die afrikanischen Gebiete in die Unabhängigkeit entließen, erhofften sich die Tuareg einen eigenen Staat, doch weder die Franzosen noch die entstehenden afrikanischen Staaten waren zu Zugeständnissen bereit. Heute leben die Tuareg in fünf Ländern: Algerien, Libyen, Mali, Niger und Burkina Faso. 
 Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012

Samstag, 24. November 2012

Tip für Ragtime 6.5: Standardschrift festlegen

Für die wenigen, die wie ich das schrecklich unterschätzte Ragtime benutzen, hier ein Tip aus der Macwelt zum Festlegen der Standartschrift:

Standardschrift festlegen
Sowohl für das Programm selbst als auch für jedes Dokument beziehungsweise Formular lässt sich in Ragtime eine Standardschrift einstellen.

RagTime-Icon
 Um die Standardschrift für das Programm zu bestimmen, was sich dann auf jedes neue Dokument oder Formular auswirkt, ruft man "Fenster > Hilfsmittel > Schriftvorlagen" auf, klickt auf das Dreieck vor "RagTime-6-Hilfsmittel", markiert "Standardschrift" und legt dann rechts im Fenster die Schrift fest. Unter "Linguistik" sind die Spracheinstellung und die Vorgaben für die Silbentrennung zu finden, unter "Anordnung" lassen sich Einstellungen für die Skalierung und den Buchstabenabstand vornehmen sowie die Unterschneidungspaare der Schrift aktivieren. Soll eine Standardschrift für ein Dokument festgelegt werden, legt man ein neues Layout oder eine neue Komponente an, klickt dann im Fenster "Schriftvorlagen" auf das Dreieck vor dem Dokumentnamen, markiert "Standardschrift" und nimmt dann die Schrifteinstellungen vor. Analog geht man jeweils bei den Einstellungen für den Standardabsatz vor, die unter "Fenster > Hilfsmittel > Absatzvorlagen" zu finden sind. Hier legt man unter anderem die Ausrichtung, den Zeilenabstand und die Einzüge fest.

Heute vor 90 Jahren – 24.11.1922: Mussolini erhält vom Parlament volle Machtbefugnisse

Hitlers Lehrmeister an der Macht 

 Ende Oktober 1922 begann die zwei Jahrzehnte währende faschistische Ära in Italien, nachdem Mussolinis »Schwarzhemden« auf Rom marschiert waren und König Viktor Emanuel III. dem »Duce« die Regierungsmacht übergeben hatte. Zur »Wiederherstellung der Ordnung« erteilte die Abgeordnetenkammer Mussolini vor 90 Jahren, am 24. November 1922, volle Machtbefugnisse in Wirtschafts- und Verwaltungsangelegenheiten. Mit einer neuen Wahlordnung, der Verhaftung Oppositioneller und dem Verbot aller Oppositionsparteien (1926) baute er Italien in den folgenden Jahren zum diktatorischen Einparteienstaat um. 


Benito Mussolini zeigt sich dem Volk, um 1930
 Mussolini war das große Vorbild für Adolf Hitler: Er bewunderte den imperialen Gestus des »Duce« und sein Talent, mit pathetischen Reden und gigantischen Militärparaden die Massen in den Bann zu ziehen. Seine Verehrung reichte so weit, dass er die italienischen Behörden schriftlich um ein Autogramm des Diktators bat. Das bekam er zwar nicht, doch übernahm er einiges von Mussolini, etwa den »römischen Gruß« mit gehobenem rechtem Arm. 

 Benito Mussolini (1883-1945) 

italienischer Politiker und Diktator 
 Begründer des Faschismus 
 stand mit Hitler für die »Achse Berlin-Rom«
 im April 1945 von Partisanen erschossen
Brockhaus - Abenteuer Geschichte 2012