Samstag, 6. September 2008

Ein Blick zurück

„Die armen Kranken zwang man, sich von einem von oben her bestimmten Arzt behandeln zu lassen. Die Ärzte zwang man durch eine maßlose Konkurrenz, eine Stellung anzunehmen, welche ihnen den ihrer Anstrengungen würdigen Lohn vorenthielt … Diese Verhältnisse mussten notwendig die Armen und die Ärzte erbittern; beide mussten allmählich mehr und mehr von der Überzeugung durchdrungen werden, dass sie Opfer falscher gesellschaftlicher Grundsätze waren …

Nicht genug, dass die Armen und die Ärzte in die politisch-soziale Opposition gedrängt wurden, es gestaltete sich auch ihr gegenseitiges Verhältnis oft genug sehr ungünstig. Die armen Kranken stellten an den Arzt, den man ihnen aufgezwungen … hatte, Forderungen … verlangten sie doch von ihm jede Aufopferung bei Tag und Nacht, jede Hingebung des Körpers und des Geistes.

Der Arzt, seinerseits, mit Geschäften und wohl auch mit … Sorgen belastet, ohne hinreichende Mittel zur wirklichen Pflege der Kranken, fast ohne Aussieht auf persönliche Anerkennung seiner Mühen, abgespannt und missmutig, kam nur zu leicht dazu, seine Pfleglinge zu vernachlässigen, ihren übertriebenen Forderungen kaltes Phlegma entgegenzusetzen und in einer dankbareren und einträglicheren Praxis Ersatz für seine Entbehrungen zu suchen. Was war einfacher und natürlicher?

Und welches war das Resultat für den Staat? Die Zahl der Siechen vermehrte sich, wie die Zahl der Armen überhaupt stieg … Mochte immerhin in den Händen Einzelner größerer Reichtum aufgehäuft werden, der National-Wohlstand im Ganzen erhielt immer schwankendere Grundlagen.“

Rudolf Virchow vor 160 Jahren in der „Medizinischen Wochenschrift“,
zitiert nach »Projekt Psychotherapie“ 03/2008