Sonntag, 10. Januar 2016

Aufklärung, ein Bollwerk gegen die Matrix?

Stefan Zweig ist noch heute fast peinlich aktuell…
- Einleitung: Angst und der heutige Mensch (Klett-Cotta)

Stefan Zweig beim Projekt Gutenberg:
- Leben und Werk

- Die Schule im vorigen Jahrhundert (Die Welt von gestern, 1942)
Auch unsere Lehrer hatten an der Trostlosigkeit jenes Betriebes keine Schuld. Sie waren weder gut noch böse, keine Tyrannen und andererseits keine hilfreichen Kameraden, sondern arme Teufel, die sklavisch an das Schema, an den behördlich vorgeschriebenen Lehrplan gebunden, ihr ›Pensum‹ zu erledigen hatten wie wir das unsere und – das fühlten wir deutlich – ebenso glücklich waren wie wir selbst, wenn mittags die Schulglocke scholl, die ihnen und uns die Freiheit gab. Sie liebten uns nicht, sie haßten uns nicht, und warum auch, denn sie wußten von uns nichts; noch nach ein paar Jahren kannten sie die wenigsten von uns mit Namen, nichts anderes hatte im Sinn der damaligen Lehrmethode sie zu bekümmern als festzustellen, wie viele Fehler ›der Schüler‹ in der letzten Aufgabe gemacht hatte. Sie saßen oben auf dem Katheder und wir unten, sie fragten, und wir mußten antworten, sonst gab es zwischen uns keinen Zusammenhang. Denn zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Katheder und Schulbank, dem sichtbaren Oben und sichtbaren Unten stand die unsichtbare Barriere der ›Autorität‹, die jeden Kontakt verhinderte. Daß ein Lehrer den Schüler als ein Individuum zu betrachten hatte, das besonderes Eingehen auf seine besonderen Eigenschaften forderte, oder daß gar, wie es heute selbstverständlich ist, er ›reports‹, also beobachtende Beschreibungen über ihn zu verfassen hatte, würde damals seine Befugnisse wie seine Befähigung weit überschritten, anderseits ein privates Gespräch wieder seine Autorität gemindert haben, weil dies uns als ›Schüler‹ zu sehr auf eine Ebene mit ihm, dem ›Vorgesetzten‹ gestellt hätte. Nichts ist mir charakteristischer für die totale Zusammenhanglosigkeit, die geistig und seelisch zwischen uns und unseren Lehrern bestand, als daß ich alle ihre Namen und Gesichter vergessen habe. Mit photographischer Schärfe bewahrt mein Gedächtnis noch das Bild des Katheders und des Klassenbuchs, in das wir immer zu schielen suchten, weil es unsere Noten enthielt; ich sehe das kleine rote Notizbuch, in dem sie die Klassifizierungen zunächst vermerkten, und den kurzen schwarzen Bleistift, der die Ziffern eintrug, ich sehe meine eigenen Hefte, übersät mit den Korrekturen des Lehrers in roter Tinte, aber ich sehe kein einziges Gesicht von all ihnen mehr vor mir – vielleicht weil wir immer mit geduckten oder gleichgültigen Augen vor ihnen gestanden.

Dieses Mißvergnügen an der Schule war nicht etwa eine persönliche Einstellung; ich kann mich an keinen meiner Kameraden erinnern, der nicht mit Widerwillen gespürt hätte, daß unsere besten Interessen und Absichten in dieser Tretmühle gehemmt, gelangweilt und unterdrückt wurden. Aber viel später erst wurde mir bewußt, daß diese lieblose und seelenlose Methode unserer Jugenderziehung nicht etwa der Nachlässigkeit der staatlichen Instanzen zur Last fiel, sondern daß sich darin eine bestimmte, allerdings sogfältig geheimgehaltene Absicht aussprach. Die Welt vor uns oder über uns, die alle ihre Gedanken einzig auf den Fetisch der Sicherheit einstellte, liebte die Jugend nicht oder vielmehr: sie hatte ein ständiges Mißtrauen gegen sie.

- Eros Matutinus (Die Welt von gestern, 1942) 
Aber das ganze neunzehnte Jahrhundert war redlich in dem Wahn befangen, man könne mit rationalistischer Vernunft alle Konflikte lösen, und je mehr man das Natürliche verstecke, desto mehr temperiere man seine anarchischen Kräfte; wenn man also junge Leute durch nichts über ihr Vorhandensein aufkläre, würden sie ihre eigene Sexualität vergessen. In diesem Wahn, durch Ignorieren zu temperieren, vereinten sich alle Instanzen zu einem gemeinsamen Boykott durch hermetisches Schweigen. Schule und kirchliche Seelsorge, Salon und Justiz, Zeitung und Buch, Mode und Sitte vermieden prinzipiell jedwede Erwähnung des Problems, und schmählicherweise schloß sich sogar die Wissenschaft, deren eigentliche Aufgabe es doch sein sollte, an alle Probleme gleich unbefangen heranzutreten, diesem ›naturalia sunt turpia‹ an. Auch sie kapitulierte unter dem Vorwand, es sei unter der Würde der Wissenschaft, solche skabrösen Themen zu behandeln. Wo immer man in den Büchern jener Zeit nachblättert, in den philosophischen, juristischen und sogar in den medizinischen, wird man übereinstimmend finden, daß jeder Erörterung ängstlich aus dem Wege gegangen wird. Wenn Strafrechtsgelehrte bei Kongressen die Humanisierungsmethoden in den Gefängnissen und die moralischen Schädigungen des Zuchthauslebens diskutierten, huschten sie an dem eigentlich zentralen Problem scheu vorbei. Ebensowenig wagten Nervenärzte, obwohl sie sich in vielen Fällen über die Ätiologie mancher hysterischen Erkrankung vollkommen im klaren waren, den Sachverhalt zuzugeben, und man lese bei Freud nach, wie selbst sein verehrter Lehrer Charcot ihm privatim gestand, daß er die wahre Causa wohl kenne, nie aber öffentlich verlautbart habe.  

- Einleitung (Die Heilung durch den Geist, 1931, Hervorhebungen von mir)
Weil Gesundheit dem Menschen naturhaft zugehört, erklärt sie sich nicht und will nicht erklärt sein. Seinem Leiden aber sucht jeder Gequälte jedesmal einen Sinn. Denn daß die Krankheit sinnlos über sie falle, daß unverschuldet, ohne Ziel und Zweck plötzlich der Leib im Fieber brenne und bis in die Eingeweide hinab glühende Schmerzmesser wühlen – diesen ungeheuren Gedanken einer völligen Sinnlosigkeit des Leidens, der allein schon die moralische Weltordnung vernichtete, hat die Menschheit niemals zu Ende zu denken gewagt. Krankheit erscheint ihr allemal von jemandem gesendet, und der Unfaßbare, der sie schickt, muß ihrer Meinung nach einen Grund haben, sie gerade in diesen einen irdischen Leib zu jagen. Irgend jemand muß dem Menschen böse sein, ihm zürnen, ihn hassen. Irgend jemand will ihn strafen für irgendeine Schuld, für einen Frevel, für ein übertretenes Gebot. Und das kann nur derselbe sein, der alles kann, derselbe, der die Blitze vom Himmel wirft, der Frost und Hitze über die Felder gießt und die Sterne entzündet oder verhüllt, ER, der alle Macht hat, der Allmächtige: Gott. Vom ersten Ursprung an ist darum das Geschehnis der Krankheit unlösbar dem Gefühl des Religiösen verbunden.

- Der Vorausgänger und seine Zeit (Die Heilung durch den Geist, Franz Anton Mesmer, 1931, Hervorhebungen von mir)
Mesmers Tragik: er kam zu früh und kam zu spät. Die Epoche, in die er eintritt, ist eben, weil sie sich auf ihre Vernunft so hahnenstolz viel zugute tut, eine der Intuition völlig abholde, jene (abermals nach Schopenhauers Wort) »superkluge« Epoche der Aufklärung. Auf den Dunkelsinn des Mittelalters, den ehrfürchtig und verworren ahnenden, war gerade der Flachsinn der Enzyklopädisten gefolgt, der Alleswisser, wie man dies Wort wohl am sinnfälligsten übersetzt, jene grobmaterialistische Diktatur der Holbach, La Mettrie, Condillac, der das Weltall als interessanter, aber noch verbesserungsfähiger Mechanismus und der Mensch bloß als kurioser Denkautomat galt. Mächtig aufgeplustert, weil sie keine Hexen mehr verbrannten, die gute alte Bibel als einfältiges Kindermärchen dargetan und dem lieben Gott mit der Franklinschen Leitung den Blitz aus der Hand genommen hatten, erklärten diese Aufklärer (und ihre schwachbeinigen deutschen Nachtänzer) alles für absurden Wahn, was man nicht mit der Pinzette packen, nach der Regeldetri beweisen konnte, derart mit dem Aberglauben auch jedes Samenkorn Mystik aus ihrem glashellen, glasklaren (und ebenso zerbrechlichen) Weltall des Dictionnaire philosophique hinausfegend. Was nicht als Funktion mathematisch nachweisbar war, dekretierte ihr flinker Hochmut als Phantom, was man mit den Sinnen nicht fassen konnte, nicht etwa bloß als unfaßbar, sondern glattweg für nicht vorhanden.
[…] Denn nichts innerhalb der Geschichte, der tatsachenhistorischen wie jener des Geistes, läßt sich an dramatischer Kraft der seelischen Leistung vergleichen, wenn ein einzelner, schwacher, isolierter Mensch sich allein gegen eine riesige, die ganze Welt umspannende Organisation auflehnt. Ob Spartakus, der geprügelte Sklave, gegen die Legionen und Kohorten des Römerreichs oder Pugatschew, der arme Kosak, gegen das gigantische Rußland oder Luther, der breitstirnige Augustinermönch, gegen die allmächtige fides catholica – immer wenn ein Mensch nichts als seine eigene innere Glaubenskraft gegen alle verbündeten Mächte der Welt einzusetzen hat und sich in einen Kampf wirft, der unsinnig scheint in seiner völligen Aussichtslosigkeit, gerade dann teilt sich seine Seelenspannung schöpferisch den Menschen mit und schafft aus dem Nichts unermeßliche Kräfte. Jeder unserer großen Fanatiker für die »Heilung durch den Geist« hat Hunderttausende um sich geschart, jeder mit seinen Taten und Heilungen das Bewußtsein der Zeit erregt und erschüttert, von jedem sind mächtige Strömungen in die Wissenschaft übergegangen. Phantastisch, sich die Situation auszudenken: in einem Zeitalter, da die Medizin dank einer märchenhaften Ausgestaltung ihrer Technik tatsächliche Wunder vollbringt, da sie die winzigsten Atome und Moleküle lebendiger Substanz zu zerteilen, beobachten, photographieren, messen, beeinflussen und zu verändern gelernt hat, da ihr alle andern exakten Naturwissenschaften hilfreich Gefolgschaft leisten und nichts Organisches mehr Geheimnis scheint – gerade in diesem Augenblick zeigt eine Reihe unabhängiger Forscher die Überflüssigkeit dieser ganzen Apparatur in vielen Fällen. Sie tun öffentlich und unwiderlegbar dar, daß auch heute mit nackten Händen nur auf seelischem Wege Heilungen genau so wie einst erzielt werden können, sogar in solchen Fällen, wo vor ihnen die großartige Präzisionsmaschinerie der Universitätsmedizin vergebens gearbeitet hatte. Von außen gesehen, ist ihr System unbegreiflich, beinahe lächerlich in seiner Unscheinbarkeit; Arzt und Patient sitzen friedlich beisammen und scheinen bloß zu plaudern. Keine Röntgenplatten, keine Meßinstrumente, keine elektrischen Ströme, keine Quarzlampen, nicht einmal ein Thermometer, nichts ist vorhanden von dem ganzen technischen Arsenal, das den berechtigten Stolz unseres Zeitalters bildet, und doch wirkt ihre uralte Methode oft mächtiger als die fortgeschrittene Therapie. Daß Eisenbahnzüge fahren, hat an der seelischen Konstitution der Menschheit nichts geändert – bringen sie nicht alljährlich zur Grotte von Lourdes Hunderttausende von Pilgern, die dort einzig durch das Wunder genesen wollen? Und daß Hochfrequenzströme erfunden sind, ändert ebensowenig die Seeleneinstellung zum Geheimnis, denn sie zaubern, in den magischen Stab einer seelenfängerischen Persönlichkeit versteckt, 1930 in Gallspach eine ganze Stadt mit Hotels, Sanatorien und Vergnügungsstätten aus dem Nichts um einen einzigen Menschen herum. Keine Tatsache hat so sichtlich wie der tausendfältige Erfolg der Suggestionskuren und sogenannten Wunderheilungen bewiesen, welche ungeheuren Glaubensenergieen noch im zwanzigsten Jahrhundert bereitliegen und wie viel an praktischer Heilungsmöglichkeit von der bakteriologisch und zellular orientierten Medizin durch lange Jahre bewußt vernachlässigt worden ist, weil sie hartnäckig jede Möglichkeit des Irrationalen leugnete und die seelische Selbsthilfe eigenwillig aus ihren exakten Berechnungen ausschloß.  
siehe auch:
- Zum 75. Todestag von Sigmund Freud am 23. September 2014: Stefan Zweigs Worte an seinem Sarge (Gesprochen am 26. September 1939 im Krematorium London, Magic Mirror Blog/Zauberspiegel Blog, Heinz Schott, 04.09.2014)

- Vor 155 Jahren: Sigmund Freud wird geboren (Post, 08.05.2011)

An das «Goldene Zeitalter» einer gerechten Verteilung von Gütern, einer Aufhebung von Zwang und Triebunterdrückung mag Freud nicht glauben wenngleich er versichert, daß es ihm fernliegt, «das große Kulturexperiment zu beurteilen, das gegenwärtig in dem weiten Land zwischen Europa und Asien angestellt wird». Nein, dazu fehle ihm die Sachkenntnis und die Fähigkeit, über dessen Ausführbarkeit zu entscheiden, «die Zweckmäßigkeit der angewandten Methoden zu überprüfen oder die Weite der unvermeidlichen Kluft zwischen Absicht und Durchführung zu messen». Der «unpolitische» Freud war der Ansicht, daß der Zwang zur Kulturarbeit die «Beherrschung der Masse durch eine Minderheit» erforderte, «denn die Massen sind träge und uneinsichtig, sie lieben den Triebverzicht nicht».

Aber die religiösen Vorstellungen, die aus ihren primitiven Anfängen, der Sehnsucht nach dem schützenden Vater, sich zu Lehrsätzen und Dogmen entwickelt hatten, beruhten nicht auf Erfahrung, nicht auf Denkleistungen. Sie waren Illusionen, «Erfüllungen der ältesten, dringendsten Wünsche der Menschheit», und «das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche». Sie beschwichtigten die Angst vor den Gefahren des Lebens, sie erfüllten das Verlangen nach einer Gerechtigkeit, die auf Erden nicht zu finden sei. Sie versprachen die Einlösung von Wünschen über den Tod hinaus.

Freud sah sie nicht als Irrtümer oder Täuschungen an, all diese Vorstellungen waren aus menschlichen Begehrlichkeiten entstanden. Manche waren den Wahnideen nahe, doch nicht wie diese unbedingt im Widerspruch mit der Realität, allein, mit dem Verstand weder zu beweisen noch zu widerlegen. Man konnte an sie glauben oder nicht, nur sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß man die Wege des korrekten Denkens verließ: «Die Unwissenheit ist die Unwissenheit.» Gerade in Fragen der Religion machten sich die Menschen «aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig».

Hatte die Religion die Menschen sittlicher gemacht? Nein, immer ließen sich Vorschriften veräußerlichen, Absichten vereiteln – wenn Gott allein stark und gut war, konnte der Mensch schwach und sündig sein. Gewiß hatte es zuzeiten geholfen, daß man das Verbot zu morden als Gottes Gebot mit besonderer Feierlichkeit umkleidete. Aber inzwischen hatte man den Heiligenschein von einigen wenigen großen Verboten auf Gesetze und Verordnungen ausgedehnt, denen er schlecht zu Gesicht stand. Wäre es nicht menschlicher, ganz auf ihn zu verzichten, die soziale Notwendigkeit der Kulturvorschriften erkennbar zu machen? Doch wenn, so der advocatus Dei, die religiösen Vorstellungen nicht nur Wunscherfüllungen wären, sondern auch historische Reminiszenzen enthielten? Nein, das waren nur Kinderneurosen, verdrängte Triebansprüche, ähnlich denen in der Vorgeschichte der Menschheit. So war die ganze Religion eine Art allgemeine Zwangsneurose, der gläubigen Menschheit die Wahrheit zu entstellen. So wie man dem Kind vom Storch erzählt.

Was konnte man von Menschen erwarten, die unter Denkverboten standen, narkotisiert waren durch die Religion, schon von früher Kindheit an, da ihre sexuelle Natur betäubt und geleugnet werden mußte? Daher plädiert der Determinist Freud für die «Erziehung zur Realität», zu Nüchternheit und Verantwortlichkeit: […]

[…] Denn «eine Entschädigung für uns, die wir schwer am Leben leiden, verspricht er nicht».

Eindringlich beschwört Freud den alten aufklärerischen Glauben an die Wissenschaft und damit an die Möglichkeit, durch sie etwas über die Realität der Welt zu erfahren, «wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können». Mochte er noch so oft betont haben, wie kraftlos der Intellekt im Vergleich zum Triebleben sei: «Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.» Am Ende, «nach unzählig oft wiederholten Abweisungen», würde man sie verstehen, das wollte er gern glauben. Vielleicht war auch die Wissenschaft eine Illusion, doch hatte sie nicht durch ihre großen und bedeutsamen Erfolge den Beweis erbracht, daß sie keine ist? Er war nicht blind gegen ihre Bedingungen und Bedingtheiten. Gerade die Subjektivität allen Denkens, die Beschränkung der Wissenschaft, die Endlichkeit ihrer Resultate gibt ihm Hoffnung auf ihre pragmatische Kraft, ihren Sieg über alle Ideologien: «Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.»
Er war der alte Skeptiker geblieben, der sich in einer immer mehr sich verdunkelnden Welt den Optimismus der Verzweiflung leistete. Oskar Pfister konnte ihm ruhig nachloben, sein wissenschaftlicher Religionsersatz sei «im Wesentlichen der Aufklärungsgedanke des 18. Jahrhunderts in stolzer moderner Auffrischung». Sein «écrasez l'infame» mochte nicht viel bedeuten, gewiß, aber seine leise Stimme erhob sich auch gegen all jene, Ideologen und Politker, die sich nur zu gerne der Religion oder dessen, was sie daraus machten – als Instrumentarium, als Propagandamittel und Hetzwerkzeug bedienten und die ihre gläubigen Anhänger fanden, zahlreicher denn je, triebhafter, mörderischer. Keiner von all denen würde diese Stimme hören. Vermutlich hatte Pfister sogar recht, daß die Menschen, denen die Psychoanalyse «diese ausgeplünderte Welt» als höchste Erkenntnis vorführte, daß diese «armen Leute sich lieber in die Klause ihrer Krankheit flüchteten, als in diese schauerliche Eiswüste zögen».  (aus Annette Meyhöfer, Eine Wissenschaft des Träumens: Sigmund Freud und seine Zeit, 2006 zit. in Vor 155 Jahren: Sigmund Freud wird geboren, Post, 08.05.2011)

- Sendung und Lebenssinn (Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, 1934)
An dem Barbarischen der Welt aber, das Gottes Plan tölpisch boshaft mit fortwährender Feindseligkeit immer neu zu verwirren strebt, sah er beharrlich vorbei; nur die obere, die formgebende und schöpferische Sphäre zog ihn brüderlich an, und er hielt es für die Aufgabe jedes Geistigen, diesen Raum zu erweitern und zu verbreitern, damit er einmal wie das Himmelslicht einheitlich und rein die ganze Menschheit umfasse. Denn dies war der innerste Glaube (und der schöne, der tragische Irrtum) dieses frühen Humanismus: Erasmus und die Seinen hielten einen Fortschritt der Menschheit durch Aufklärung für möglich und erhofften eine Erziehungsfähigkeit des einzelnen wie der Gesamtheit durch eine allgemeinere Verbreitung von Bildung, Schrift, Studium und Buch. Diese frühen Idealisten hatten ein rührendes und fast religiöses Vertrauen in die Veredlungsfähigkeit der menschlichen Natur durch beharrliche Pflege des Lernens und Lesens. Als büchergläubiger Gelehrter zweifelte Erasmus niemals an der vollkommenen Lehrbarkeit und Erlernbarkeit des Sittlichen. Und das Problem einer völligen Harmonisierung des Lebens dünkte ihn schon gewährleistet durch diese von ihm als ganz nah erträumte Humanisierung der Menschheit.
„Ich habe mir“, schrieb Zweig am 9. September 1933 an Hermann Hesse, „Erasmus von Rotterdam als Nothelfer gewählt, den Mann der Mitte und der Vernunft, der ebenso zwischen die Mühlsteine des Protestantismus und Katholizismus geriet, wie wir zwischen die großen Gegenbewegungen von heute. Es war mir ein kleiner Trost zu sehen, ... daß man nicht allein ist, wenn man sich anständigerweise mit schweren Entscheidungen und Entschließungen quält, statt es sich bequem zu machen und mit einem Ruck auf den Rücken einer Partei zu springen.“  (Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Biografie, 1934, Künste im Exil)
[…] wer zu lesen versteht, wird die Geschichte unserer Tage in der Analogie entdecken. (Stefan Zweig, Brief an Romain Rolland, 1933, zit. in obigem Artikel, Künste im Exil)
siehe auch:
- Eine kleine Literaturgeschichte (Lorenz Derungs, Deutschunddeutlich, Arbeitsblätter für den Deutschunterricht, PDF)
- Auf dem Weg nach Europa – Stefan Zweigs Ideen und Vorstellungen von einem geeinten Europa – 4.4.3 Der Fortschritt (Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013)
Ein weiterer Aspekt der Entgiftung Europas ist der Fortschritt. Geschichte wird von Zweig vor diesem Hintergrund als Kontinuität verstanden, welche zwangsläufig eine progressive Kraft hervorbringt und neue Möglichkeiten oder Lösungen eröffne. Daher seien auch jene Menschen, die Erfindungen und Aufklärung ermöglichen, wie Forscher und Wissenschaftler, vielmehr zu verehren, als Feldherren und Krieger.[235] Wie er ebenfalls in seiner Autobiographie beschreibt, war die ganze Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem positiven Geschichtsverlauf ausgegangen, denn „dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ́Fortschritt` hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ́Fortschritt` schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglichen neuen Wunder der Wissenschaft und Technik.“[236] Entdeckungen im Sinne einer progressiven Entwicklung von Geschichte würden zu den vorhergehenden Überlegungen Zweigs passen. Jedoch ist der Begriff nicht weiter bestimmt und wird allzu oft mit den technischen Neuerungen im Bereich Transportmittel- und Kommunikation gleichgesetzt.[237]
Seine Wertschätzung der kulturellen Leistungen Einzelner zeigt sich in der Trilogie Drei Meister von 1920 und deren Fortführung in Baumeister der Welt 1936 und wurde durch biographische Porträts von Hölderlin, Tolstoi, Nietzsche und Kleist ergänzt. Zweig orientierte sich dabei an den erprobten traditionellen Erzählverfahren des historischen Romans. Die fortlaufende, chronologische Narration, bei der die Ereignisse durch die Augen des Helden gesehen werden; weist deutliche Tendenzen zum Roman auf. Trotz vielfältiger Übereinstimmungen zwischen dem historischen Roman und den Biographien Zweigs lässt sich dennoch eine starke Konzentration auf die, im Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft angesiedelte, historische Biographie konstatieren. Im 20. Jahrhundert entstand eine Debatte um die Einordnung der historischen Biographie. Stefan Zweig behauptete, dass er seine Eigenständigkeit seiner Texte dadurch gewährleisten könne, dass er die Entwicklung einer eigenen Methode vorantrieb. Er erprobte eigene Erarbeitung- und Darbietungsformen der historischen Biographie und verfolgte ein neues Interesse an der Menschlichkeit des Individuums, das über psychologische Erkenntniswege erreicht werden sollte, welche in der Geschichtswissenschaft üblicherweise ausgeklammert wurden. Er war daran interessiert, durch die psychologische Deutung ausgewählter historischer Ereignisse bisher unbekannte innere Zusammenhänge herzustellen. In seiner Vorstellung müssten es die geschickte Auswahl, psychologische Einfühlung und erzählerische Gestaltung dem Autor ermöglichen, ein zutreffendes Bild vom Charakter des Biographierten zu formen.[255] In seinem Aufsatz Die Geschichte als Dichterin formulierte Zweig sogar die Forderung, dass „wer Geschichte verstehen will“[256], Psychologe sein muss. (5.1 Die historische Biographie im 20.Jahrhundert, Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013)
Immer waren der Welt Menschen notwendig die sich weigern, zu glauben, die Geschichte sei nichts als eine stumpfe, monotone Selbstwiederholung [...], sondern die unbelehrbar darauf vertrauen, daß sie moralisch Fortschritt bedeute. (Zweig, Erasmus von Roterdam, S. 100, zit. in Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013)
Zum einen greift Zweig das „Prinzip Hoffnung“[291] auf. Es gelingt ihm stets die Situation derart zu erklären und Fakten so zu interpretieren, dass der Eindruck entsteht, trotz aller widrigen Umstände würden auf schlimme und schreckliche Ereignisse wieder positive Begebenheiten folgen. Selbst in Zeiten von Fanatismus, Gewalt und Hass, bestünde die Hoffnung auf eine Ablösung durch Frieden, Vernunft und Humanität. Eben dies kann auf Europa und Zweigs Situation übertragen werden. Selbst wenn er und seine Zeitgenossen nicht den Augenblick erlebten, in dem die Idee der europäischen Einigung und des Friedens umgesetzt wurden, so können sie dennoch Vertrauen haben, dass eines Tages die Idee umgesetzt werden wird. (Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013, S. 74)
Trotz des Scheiterns seiner Hoffnungen, aller Kritik und Unklarheiten muss Zweig zu Gute gehalten werden, dass er durch das Verfassen des Erasmus als antifaschistischer Humanist in der Zeit der Hitlerdiktatur seine politische und weltanschauliche Meinung ausdrückte und vertrat. Sein Bekenntnis zum Übernationalen ist in der Erasmus-Biographie deutlich erkennbar. Auch Klaus Mann sprach in seinem Nachruf auf Stefan Zweig im Jahr 1942 wertschätzend von seinem Werk, in dem „die Zukunft Europas, unserer Zivilisation, der Zukunft des Menschen an sich“347 ein bestimmendes Thema war. (Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013, S. 90)
mein Kommentar:
Es scheint mir, als ob Zweig den gleichen Fehler begangen hat, den er den Aufklärern vorwarf: Er suchte nach einer Art Erlösung im Außen.
Gleich, wie fundamental dieser Fehler auch war, mir sind solche großartigen Scheiterer zehnmal lieber als Narzissten, die sich hinter den Ideen dieser Scheiterer verstecken und sie für ihre Spielchen mißbrauchen:
- This knocks me from the socks (Post, 12.09.2014)
- Wo sind Peter Scholl-Latour und Ulrich Wickert, verdammt nochmal? (25.11.2014)
„Die Ideale, für die Zweig kämpfte: Frieden, individuelle Freiheit, moralische Einigkeit Europas und der Welt, stehen noch immer als Aufgabe vor uns“ und geben seinem Werk eine enorme Zugkraft, die sich bis ins 21. Jahrhundert hinein erstreckt. Die Ausgestaltung der Werte der Europäischen Union349 zeigt, dass die wichtigsten Werte, die in Zweigs Augen als Besonderheit des Kontinents und Kulturkreises Europa standen, später tatsächlich von den Politikern bei der Gründung der Union übernommen wurden. […] verdeutlicht es seine Vorreiterrolle für ein geeintes, friedliches und freies Europa und zeigt, wie viel Literatur auch heute noch den Menschen geben und auch zu aktuellen Debatten und Fragestellungen beitragen kann. […] Anders als zu Zeiten Zweigs liegt heute die Gefahr für Europa darin, dass die Selbstverständlichkeit und die Unwissenheit häufig zu Desinteresse oder Unverständnis der Sache gegenüber führt.  (Maria Fronz, Magisterarbeit, Philosophische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 2013, S. 92)
mein Kommentar:  
Ein Hoch auf solche hoffnungsschwangeren, blauäugigen Magisterarbeiten, die im Auftrag der Polit-Schickeria Literaten wie Stefan Zweig für sich – und die Polit-Klasse in der  Europa-Dauerwerbesendung – zu vereinnahmen versuchen!

siehe zu den hehren europäischen Idealen:
- EPA – TTIP für Arme und die Werte des »alten Europa« (Post, 23.09.2015)
Das EPA-Abkommen zwischen mehreren Ost-Afrika-Ländern und der EU wurde sogar vom Afrika-Beauftragten der Bundeskanzlerin, Günter Nooke kritisiert. Die kenianische Regierung bezeichnete es als pure „Erpressung“. In Kenia kann die heimische Landwirtschaft mit den niedrigpreisigen Importen aus der EU nicht mithalten, wodurch Bauern pleite gehen. Auch steht in dem Freihandelsabkommen zum Beispiel ein Verbot neuer Steuern auf Exportgüter in die EU. Die wären aber nötig, um ein Ausbluten der eigenen Wirtschaft zu verhindern.
zum Schluß:
Anders als im Kino kann man vor dem Bildschirm nur sehr schwer staunen. Dafür aber tritt das Diskursive in den Vordergrund, das Enträtseln und Debattieren. Demokratisierung hätten wir möglicherweise vor Jahren noch gesagt (als wir an unsere Demokratie noch glaubten), und von Aufklärung geträumt.

Wohin also können die gefangenen Bilder fliehen? In „die Gesellschaft“, in „die sozialen Bewegungen“? Und dann in die Natur, ins Unendliche? Schön wäre es gewesen. Indes sind zuerst die mehr oder weniger angrenzenden Areale zu durchkreuzen. Die Kunst. Und das, was wir „Life Sciences“ nennen. Diese Areale haben sich in den letzten Jahren wahrhaft unheimlich ausgedehnt. Nicht, dass sie schon Befreiung bedeuteten, nur insofern, als man Freiheit ohne sie nicht einmal denken kann.
 (Kunst, die wirkt: Das Transmedia-Projekt "Art Girls" sprengt die Fesseln von Genre und Medium, Arte creative)

siehe auch:
- Risse in der Matrix (Nils Marquart, der Freitag, 21.10.2016)
aktualisiert am 24.10.2016
x