Montag, 5. August 2013

Eine Lanze für Freud und die Wissenschaft

Ich stolpere seit nunmehr 30 Jahren immer wieder über mehr oder weniger namhafte Menschen, die ungefähr Folgendes sagen: »Freud hat wichtige Entdeckungen gemacht, aber an diesem oder jenem Punkt lag er völlig verkehrt.«
In folgendem Film »Freud under Analysis« (1987) sehen und hören wir ab Minute 48:20 Prof. Francis Crick, der 1953 mit James Watson zusammen die Doppelhelixstruktur der DNS entdeckte und 1962 dafür den Nobelpreis für Medizin erhielt. Er sagt sinngemäß, die Vermutungen von Sigmund Freud über den Zusammenhang zwischen Hirnphysiologie und menschlichem Verhalten seien äußerst rudimentär gewesen. Er habe zwar einige Dinge herausgefunden über unbewußte Motivationen, aber wenn man sich das Ganze unter dem wissenschaftlichen Aspekt ansehe, glaube er, Frick, nicht, das vieles von dem, was Freund postulierte, überleben werde.



Dazu zwei Dinge:

1. Freuds frühe Hauptschriften »Die Traumdeutung«, »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« und »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, erschienen zwischen 1899 und 1905, also heute vor mehr als hundert Jahren.
Man mache sich zum Beispiel klar, daß Semmelweis’ Postulierung der Übertragung von Krankheitserregern durch mangelnde Hygiene (1847) zu seinen Lebzeiten von den meisten seiner ärztlichen Kollegen als spekulativer Unfug abgelehnt wurde (siehe auch Semmelweis-Reflex). Wikipedia: »Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich. […] Nur wenige Ärzte unterstützten ihn, da Hygiene als Zeitverschwendung und unvereinbar mit den damals geltenden Theorien über Krankheitsursachen angesehen wurde.«
Erst Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts standen Antibiotika zur Verfügung. Wie sah die sogenannte Körpermedizin um die Jahrhundertwende aus?
Man stelle sich vor, jemand stelle sich hin und sagte über das Bohrsche Atommodell (1913), Bohr habe zwar einige Einsichten gehabt, aber dieses oder jenes habe er völlig übersehen und er würde sich wundern, wenn viele seiner Ansichten überleben würden. Sieht das nicht etwas seltsam aus, wenn fast hundert Jahre nach dem Erstellen einer Theorie Menschen es noch nötig zu haben glauben, sich an dem Erbauer dieser Theorie abzuarbeiten? Und es nach so langer Zeit noch wichtig finden, auf seine Fehler hinzuweisen?

2. Laut Wikipedia ist Wissenschaft »die Erweiterung des Wissens durch Forschung, seine Weitergabe durch Lehre, der gesellschaftliche, historische und institutionelle Rahmen, in dem dies organisiert betrieben wird, sowie die Gesamtheit des so erworbenen Wissens«. Cricks Äußerung Freud Wissenschaftlichkeit gegenüber scheint mir die Gleichsetzung zu beinhalten von Wissenschaft und Materie. Heißt: alles, was sich mit materiellen Dingen befaßt, kann Wissenschaft sein, was sich nicht mit materiellen Dingen befaßt nicht. Darüber kann man sich jetzt die Köpfe heißreden, darum geht es mir nicht.
Worauf ich meinen Finger legen möchte, ist die dahinterstehende materialistische Weltsicht, die im Bereich der Psychologie in den letzten beiden Jahrzehnten gottseidank infrage gestellt wurde. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in welchen bei schwer Depressiven meinetwegen (das erfinde ich jetzt!) ein erniedrigter Serotoninspiegel im Liquor oder in der Hirnsubstanz gemessen wurde, und die Leute riefen freudig »Aha!« Hieß damals: Serotonin ist die Ursache. Damals hörte man nach dem Auffinden eines Stoffes oder eines bestimmten Gens auf. Damals hoffte man noch, wenn man sich in der DNA gut genug auskenne, dann könne man irgendwann ein »defektes« Gen auswechseln und man bekäme dann keine schizophrenen Kinder mehr. Heute sind wir so weit, daß wir tatsächlich von einer Wechselwirkung zwischen Materie und seelischer Verfassung wissen. Heute wissen wir, daß ein erhöhter Cortisolspiegel beim Kind (assoziiert mit Streßsituationen) die Exprimierung bestimmter DNA-Abschnitte triggert und in der Folge wiederum – das hat wesentlich mit der Amygdala (Mandelkern) zu tun – die Schwierigkeit steigt, Streß auszuhalten.



Fazit:
Freud ist heutzutage noch erstaunlich präsent. Kritik an seinen Ideen – und welcher große Geist hat nicht auch ziemlich dummes Zeugs von sich gegeben? – ist eine etwas mißverständliche Form des Kompliments.
Nicht alles, was nicht mit Materie zu tun hat, muß zwangsläufig unwissenschaftlich sein. Und nicht alles, was mit Materie zu tun hat, beschreibt den Menschen adäquat.
Ich habe mehr in der materiellen Welt Wissenschaft Betreibende getroffen, die glaubten, etwas über die menschliche Seele sagen zu können als umgekehrt mit der Seele Befaßte, die meinten, etwas Substantielles über die Welt der Materie aussagen zu können.
Ob man das jetzt Wissenschaft nennt oder nicht: Hauptsache wir befolgen im Umgang mit unklaren Phänomenen gewissen logische Gesetze!