Montag, 9. Oktober 2006

Judas Ischariot, der Böse?

[…] Es beginnt mit der »Eiszeit der Gefühle«, dem Mangel an gesellschaftlichen Visionen. Judas und sein junger Rabbi Jesus wollen diese Eiszeit »auftauen«, ihren Mitmenschen zu Gerechtigkeit und Frieden verhelfen. Da sind zwei im Einklang, zwei, die sich verstehen, die sich lieben wie Brüder. Bald aber geht es um die praktische Umsetzung der gemeinsamen Vorstellungen. Und da werden Unterschiede sichtbar. Judas will gesellschaftlich handeln, konkret die Welt retten. Sein brüderlicher Freund Rabbi Jesus setzt auf Umarmung, Liebe, Tröstung. Judas will Jesus schließlich zur Offenbarung seiner Macht zwingen, indem er die verhaßte Staatsmacht als Verbündeten ruft. Jesus wehrt sich nicht. Er wird hingerichtet. Judas ist verzweifelt.
[…]
Was aber hat Judas den Evangelien zufolge überhaupt verraten? […] Die [zur Podiumsdiskussion] eingeladene jüdische Theologin Ruth Lapide betonte, von einem Verrat könne gar nicht die Rede sein. Jesus habe sich schließlich selbst hingegeben. So sei das griechische Wort »paradidonai« zu übersetzen, das an den entscheidenden Stellen vorkomme. Paulus, der früheste Autor des Neuen Testaments, wisse denn auch von einem Verrat nichts zu berichten. Der Direktor der Katholischen Akademie Trier, Jürgen Doetsch, gab zu bedenken, daß das Bild des Judas im Neuen Testament zwischen Historie und Wirkungsgeschichte der Überlieferung sehr unklar bleibe. Man könne eigentlich nicht erkennen, wo wirklich das Trennende zwischen Judas und Jesus gewesen sei. Allerdings, so Doetsch, werde in den Eucharistie und Abendmahlsfeiern heute noch zu oft das Wort gesprochen: »Jesus, in der Nacht, da er verraten wurde.« In der katholischen Kirche gelte aber seit dem Konzil offiziell die Formel »Jesus, in der Nacht, da er sich hingab.«

aus dem Artikel »Männerfreundschaft in der Zerreißprobe« über ein in Trier aufgeführtes Tanztheater, Publik-Forum Nr. 11, 2006