Freitag, 29. Februar 2008

Bertelsmann in Aktion

Die Souffleure der Macht

Unbemerkt und hinter wissenschaftlicher Objektivität getarnt, flüstert die Bertelsmann-Stiftung der Politik ein, was sie tun soll: den Staat streng betriebswirtschaftlich durchorganisieren
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Vor Günter Hoffmann

Wenn in Deutschland von Medienmacht die Rede ist, denken die meisten seit den späten 1960er-Jahren vor allem an den Axel-Springer-Konzern. Die publizistische und ökonomische Macht der Bertelsmann AG wurde bisher kaum wahrgenommen. Schließlich hat der Club Bertelsmann ein unpolitisches Sortiment. Zudem gibt der Konzern die liberalen Zeitschriften Spiegel und Stern heraus. Und die Konzernleitung gab vor, eine »saubere Weste« zu haben. Schließlich war das Unternehmen im Dritten Reich verboten worden.

Doch langsam rücken die Aktivitäten des Bertelsmann-Konzerns stärker in das öffentliche Bewusstsein, der zu einem der größten und einflussreichsten Medienhäuser der Welt aufgestiegen ist. Die Kritik entzündet sich vor allem an der gemeinnützigen Bertelsmann-Stiftung. Der Grund: Dezent im Hintergrund hat die Stiftung mit Studien und wissenschaftlicher Politikberatung bei fast allen umstrittenen Reformen mitgewirkt oder nachhaltige Anstöße dazu gegeben. Dazu zählen die Hartz-Gesetze mit der Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und Job-Centern. Die Zusammenführung der Arbeits- und Sozialhilfe wurde von Projektgruppen der Stiftung im Zusammenwirken mit der Beraterfirma McKinsey konzipiert und begleitet. In einigen Bundesländern treibt die Bertelsmann-Stiftung zusammen mit den Kulturministerien die Ökonomisierung von Lehrplänen und Schulalltag voran. Das Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung steht für die Einführung von Studiengebühren und die Selbstfinanzierung der Hochschulen durch private Investoren. Privat vor Staat, das ist das Credo, das die Bertelsmänner auf allen Ebenen der Gesellschaft durchzusetzen versuchen.

Die Gründung der Stiftung war ein cleverer Schachzug des Firmenpatriarchen Reinhard Mohn. Mit der gemeinnützigen Einrichtung wollte er verhindern, dass Erbschaftssteuern und Erbstreitigkeiten zum Verkauf von Teilen des Konzerns führen konnten. Gleichzeitig sah er die Aufgabe der Stiftung darin, »Reformen in allen gesellschaftlichen Bereichen anzustoßen«, gemäß seiner Überzeugung, »dass Wettbewerb und die Prinzipien unternehmerischen Handelns die wichtigsten Merkmale zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft sind«.

Der Schachzug von Mohn ging auf. Die Stiftung wurde 1977 gegründet, Mohn übertrug ihr rund 77 Prozent des Aktienkapitals der Bertelsmann AG, deren rund 100 000 Mitarbeiter einen Umsatz von knapp 20 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaften. Durch die Übertragung von drei Viertel des Aktienkapitals auf die Stiftung sparte er schätzungsweise zwei Milliarden Euro an Erbschafts- oder Schenkungssteuer. Gleichzeitig ist die jährliche Dividendenzahlung an die Stiftung steuerfrei. Damit tragen auch die Steuerzahler ihren Teil zu dem bei, was die Stiftung finanziert.

Die reichste und mächtigste Stiftung in Deutschland unterstützt nicht Bedürftige, fördert keine gemeinnützigen Organisationen und finanziert auch keine extern gestellten Forschungsaufträge. Sie arbeitet laut Selbstdarstellung »ausschließlich operativ und nicht fördernd«. Das bedeutet: Sie finanziert nur die von ihr selbst initiierten Projekte. Dabei muss sich die Stiftung – was die Verwendung ihrer Gelder anbetrifft – vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof rechtfertigen. Die Bertelsmänner kontrollieren sich selbst. Vertreter der Eigentümerfamilie Mohn sitzen sowohl im Vorstand, der die Arbeit der Stiftung leitet, wie im Kuratorium, das die Arbeit kontrolliert.

Die Bertelsmann-Stiftung verfügt über einen Jahresetat von rund 60 Millionen Euro. Sie finanziert Forschungsinstitute wie das Centrum für angewandte Politikwissenschaften (CAP) an der Uni München, das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das Centrum für Krankenhaus-Management (CKM), angesiedelt an der Uni Münster und das Kompetenzzentrum Kommunen und Regionen, die Medienakademie Köln und die Akademie des deutschen Buchhandels in München. Rund 330 Mitarbeiter arbeiten an der strategischen Vorbereitung und Umsetzung der 60 Stiftungsprojekte.

Die Stiftung arbeitet immer nach dem gleichen Schema: Ein aktuelles Problem wird aufgegriffen. Dann gibt die Stiftung Umfragen oder Studien in Auftrag. Diese ermitteln die Kosten, die der Gesellschaft durch das Problem entstehen. Damit entsteht Beratungs- und Handlungsbedarf, Handlungskonzepte und Lösungsmöglichkeiten werden von der Stiftung erarbeitet. Das ganze Paket geht dann an die Medien, um Akzeptanz herzustellen.

Im Gegensatz zur Initiative Neue soziale Marktwirtschaft, die schnell als Truppe des Arbeitgeberlagers entlarvt wurde, arbeitet die Bertelsmann-Stiftung dezent im Hintergrund. Ihr Credo von der Überlegenheit der Privatwirtschaft in allen Bereichen kommt zumeist in wissenschaftlichem Gewand daher. Hinter den Kulissen betreibt sie effektive Lobbyarbeit, kooperiert mit Kommunalverwaltungen, Landes- und Bundesregierung, mit Kanzleramt und Bundespräsident, mit Kultusministerien, Hochschulrektorenkonferenz, Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Sie nimmt Einfluß auf politische Entscheidungen, lange bevor diese im Parlament verabschiedet werden »Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden«, so Mohn. Geht es nach ihm, soll das Regieren dadurch besser werden, dass »die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden«, nach dem Prinzip »so wenig Staat wie möglich«.

Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, den die Bertelsmann-Stiftung nicht ins Visier nimmt. Die Probleme in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits-, Schul- oder Hochschulwesen, in der Arbeitsmarkt- und Standortpolitik, der Integration- und Entwicklungspolitik, dem demografischen Wandel bis hin zum internationalen Wettbewerb und zur EU-Sicherheitspolitik – alle wurden schon untersucht. Doch hinter der bürgergesellschaftlichen Terminologie ihrer Handlungskonzepte und Lösungsvorschlägen verbirgt sich das ganze neoliberale Repertoire der Betriebswirtschaftslehre. Dieses mündet dann in ein Credo von Kennziffern, Erfolgsrechnungen, Nutzwertanalysen, Budgetierung und Effizienz, Leistungsvergleichen, Wettbewerben und Rankings.

Entsprechend sehen ihre Lösungsvorschläge aus: Abschaffung der Gewerbesteuer, Aushebelung des gesetzlichen Kündigungsschutzes, Privatisierung der Arbeitslosenversicherung, radikale Kürzungen bei der Sozialhilfe, Schulen und Hochschulen als Unternehmen am Markt, Einstieg in die Privatisierung der Kranken- und Pflegeversicherung, Privatisierung der öffentlichen Verwaltungen in Deutschland und Zentraleuropa, Aufbau einer europäischen Armee und vieles mehr. Und wie das alles erreicht werden soll? »Es ist ein Segen, dass dem Staat das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang«, sagte Reinhard Mohn bereits 1996 in einem Interview.

Allerdings wächst inzwischen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. So beschloss der ver.di-Bundeskongress im vergangenen Herbst, die Zusammenarbeit zwischen ver.di, der Bertelsmann-Stiftung und der Bertelsmann-Tochter Arvato (folgender Beitrag) bis auf weiteres einzustellen. Viel weiter ging der Aufruf einer Bertelsmann-kritischen Tagung in Frankfurt am Main. Die über 200 Teilnehmer forderten, der Stiftung die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, und rieten Parteistiftungen, Universitäten, Gewerkschaften und Verbände auf, ihre Kooperation mit der Stiftung und ihren Einrichtungen zu beenden.__________


_________________________________________________________________»Zu teuer für die Bürger«

Die Gewerkschaft ver.di streitet gegen die Bertelsmann-Stiftung.
Fragen an Karsten Arendt

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Vor Wolfgang Kessler


Publik-Forum: Warum hat Verdi beschlossen, keine Veranstaltungen mehr mit der Bertelsmann-Stiftung zu machen?

Karsten Arendt: Viele Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen sind der Meinung, dass es keine Grundlagen für eine Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und der Bertelsmann-Stiftung gibt. Die Ziele und die Ideologie, die Bertelsmann vertritt, sind mit gewerkschaftlichem Denken und Handeln nicht in Übereinklang zu bringen.

Publik-Forum: Warum denn nicht?

Karsten Arendt: Die Stiftung vertritt die Ideologie, dass der Staat, insbesondere der Sozialstaat, eingedämmt und zurückgedrängt werden müsse. Grundsätzlich gilt: Privat geht vor Staat. Um dies zu untermauern, tut die Bertelsmann-Stiftung (und nicht nur die) gleichzeitig alles Mögliche, um den Staat, die Verwaltung, die Kommunen und ihre Einrichtungen als verkrustet, ineffizient, teur und bürgerfeindlich darzustellen

Publik-Forum: Was spricht gegen effiziente staatliche Dienstleistungen?

Karsten Arendt: Zunächst einmal gar nichts. Bei rein ökonomischer Betrachtungsweise wird aber ausgeblendet, dass sich der Staat bei der Organisation öffentlicher Daseinsvorsorge am Gemeinwohl orientieren muss. Staatliche Verwaltung setzt um, was von der Politik beschlossen wird. Gleichzeitig ist sie der politischen Kontrolle und Steuerung unterstellt. Effizienz lässt sich in diesem Kontext nicht einfach mit der Anwendung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente oder durch unternehmerische Sichtweisen von Verwaltung herstellen Es gibt privatisierte, vormals staatliche oder kommunale Unternehmen, an denen sich nachweisen lässt, dass die Privatisierung die Bürger später teuer zustehen kommen kann.

Publik-Forum: Warum hat ver.di überhaupt mit der Bertelsmann-Stiftung kooperiert?

Karsten Arendt: Seit Anfang der 1990er-Jahre hat die Stiftung begonnen, sich durch vielfältige Unterstützungsangebote in Politik und Verwaltungen einzuschleichen. Insbesondere staatliche und kommunale Finanznöte und eine gewisse Hilf- und Rezeptlosigkeit der verantwortlichen Politiker und Politikerinnen machten sie empfänglich für Akteure, die der Politik unternehmerische Organisation schmackhaft machten. Gleichzeitig war unbestreitbar, dass es durchaus bürokratische Verkrustungen und ineffiziente Strukturen in vielen Verwaltungen gab. Das führte dann zu Kooperationen, an denen auch ver.di beteiligt war

Publik-Forum: Wie kann man der Macht der Bertelsmann-Stiftung deutschlandweit begegnen?

Karsten Arendt: Zunächst einmal, indem man eine kritische Öffentlichkeit über ihre Aktivitäten herstellt Dann wird es sicher wichtig sein, die Gemeinnützigkeit der Stiftung infrage zu stellen Schließlich wird es darauf ankommen, dass ein echter gesellschaftlicher Diskurs über die von Bertelsmann vertretenen Inhalte entsteht. So wie die ver.di-Kolleginnen und –Kollegen werden auch viele andere gesellschaftliche Gruppen feststellen, dass die Ziele und Methoden von Bertelsmann nicht mit ihren eigenen Werten und Vorstellungen von einem guten gesellschaftlichen Zusammenleben in Einklang zu bringen sind.__________


Karsten Arendt
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ist Personalratsvorsitzender der Kreisverwaltung Offenbach. Er engagierte sich dafür, dass ver.di künftig nicht mehr mit der Bertelsmann-Stiftung zusammenarbeitet.


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Ein Konzern übernimmt die Stadt

Bertelsmann-Tochter Arvato will die Verwaltung von Würzburg umbauen – nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen
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Von Günter Hoffmann

Würzburg ist mit seinen 130 000 Einwohnern eine ganz normale Stadt. Bald wird sie jedoch zum Experimentierfeld. Die Stadt hat einen in Deutschland bislang einmaligen Vertrag mit der Bertelsmann-Tochter Arvato AG geschlossen. Im Rahmen einer Public Private Partnership – einer Partnerschaft zwischen Staat und Privatwirtschaft – soll Arvato die Verwaltung nach dem Vorbild der Privatwirtschaft radikal umbauen Die Gütersloher verpflichten sich, alle Verwaltungsprozesse auf einer zentralen Internetplattform zusammenzufassen Bürger und Unternehmen werden dann alle Dienstleistungen über eine Anlaufstelle, das neue Bürgerbüro, erhalten.

»Unsere Verwaltung wird schneller, besser und bürgernäher«, versprach Würzburgs Oberbürgermeisterin Pia Beckmann (CSU) im Mai letzten Jahres auf einer Pressekonferenz anlässlich der Vertragsunterzeichnung mit Arvato. Und ergänzte: »Gleichzeitig können auch die Verwaltungskosten gesenkt werden.« In der Tat, Arvato übernimmt sämtliche Kosten, auch die Vorfinanzierune des millionenteuren Projektes und erhält von der Verwaltung nur dann Geld, wenn die Einsparungen auch tatsächlich erreicht werden. Rund 75 Mitarbeiter sollen in den nächsten 10 Jahren eingespart werden. Kostenersparnis rund 27 Millionen Euro. Arvato wird davon 17 Millionen erhalten, 10 Millionen Euro fließen in den städtischen Haushalt. »Wir sind das Pilotprojekt und profitieren deshalb von der Entwicklung«, so der städtische Kommunalreferent und Projektleiter Wolfgang Kleiner. »Andere Kommunen werden nicht mehr so günstige Vertragsbedingungen erhalten.«

»Eigentlich ist die Idee, sämtliche Verwaltungsfachstellen auf einer Internetplattform zusammenzufassen, so naheliegend, dass man sich fragt, warum man nicht schon früher darauf gekommen ist«, sagt Matthias Pilz. Er ist Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Würzburger Stadtrat. In Würzburg bedurfte es dafür der Vorarbeit der Wirtschaftsinformatiker der Universität. Sie verglichen die Verwaltungsstrukturen der Stadt mit ähnlichen Systemen in der Privatwirtschaft und kamen zu dem Ergebnis, dass die Verwaltungsarbeiten mit der Verknüpfung aller Fachstellen effektiver und kostengünstiger durchgeführt werden könnten.

Im Frühjahr 2006 schrieb die Stadt diese Leistungen nach dem neuen Vergabeverfahren »wettbewerblicher Dialog« europaweit aus, das die rot-grüne Bundesregierung noch im September 2005 erließ.

Arvato machte schließlich das Rennen. Für den Vertrag, den die Stadtverwaltung mit der Bertelsmann-Tochter abschloss, votierten die Stadträte im März 2007 einstimmig – ohne den Vertrag zu kennen. »Wir kennen nur die Eckpunkte des Vertrages, die uns die Verwaltung beschrieben hat«, so Pilz. Es sei nicht üblich, dass ehrenamtliche Stadträte ein Vertragswerk von mehreren hundert Seiten zu sehen bekommen. »Wir müssen der Verwaltung Vertrauen.«

Für Arvato ist dieser Vertrag der Einstieg in den milliardenschweren Markt der kommunalen Dienstleistungen in Deutschland. In Großbritannien ist sie bereits drin. Dort zieht Arvato Government Services für den Kreis East Riding of Yorkshire Council schon seit 2005 Steuern ein, erhebt Gebühren, zahlt Wohngeld und Sozialhilfe aus, macht Gehalts- und Lohnabrechnungen, betreut die Bürgerbüros und verantwortet die gesamte Informationstechnik.

»East Riding ist für uns ein Pilotprojekt von strategischer Bedeutung«, so Hartmut Ostrowski, Vorstandschef der Arvato AG, auf der Bertelsmann-Jahrespressekonferenz 2005. »Mit diesem Vertrag ist uns ein wichtiger Schritt in den Markt der öffentlichen Verwaltungsdienstleistungen gelungen.« Dabei profitiert die Bertelsmann-Tochter von der chronischen Geldnot der Städte und Gemeinden. Deshalb gehen die Verwaltungen Bündnisse mit privaten Unternehmen ein, die dann bislang staatliche Aufgaben übernehmen Staat und Privatunternehmen bauen gemeinsam Straßen und Tunnel, Schulen und Hochschulen, Verwaltungsgebäude und Kliniken, sie betreiben Stadtwerke und Entsorgungseinrichtungen und inzwischen selbst Gefängnisse und Rathäuser.

Die Laufzeit des Vertrages zwischen der Würzburger Stadtverwaltung und Arvato ist nicht bekannt. Fest steht allerdings, dass die Stadtverwaltung nicht die Rechnerkapazitäten hat, um ihre Verwaltungsprozesse auf einer Internetplattform zu bündeln. Das bedeutet, die Daten aller Würzburger Einwohner und Unternehmen laufen über das Rechenzentrum des Bertelsmann-Konzerns in Gütersloh. Dort läuft die Datendrehscheibe für Würzburg

Was sich sonst noch ändert, wenn die Stadtverwaltung nach privatwirtschaftlichem Muster organisiert wird, weiß derzeit niemand. Die Hoffnung auf mehr Effizienz überschattet kritische Rücktragen.__________
aus Publik-Forum Nr. 4•2008
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Also nochmal langsam:

– Dafür, daß alle Verwaltungsprozesse auf einer zentralen Internetplattform zusammengefaßt werden, können rund 75 Mitarbeiterstellen in den nächsten 10 Jahren gestrichen werden.
– Von den dadurch eingesparten 27 Millionen Euro erhält Arvato 17 Millionen.
– Die Vorarbeiten wurden von den Wirtschaftsinformatikern der Universität durchgeführt, die feststellten, daß die Verwaltungsarbeiten durch Verknüpfung aller Fachstellen effektiver und kostengünstiger durchgeführt werden könnten.
– Die Laufzeit des Vertrages mit Arvato ist nicht bekannt.
– Die Stadt hat nicht die Rechnerkapazitäten, um ihre Verwaltungsprozesse auf einr Internetplattform zu bündeln.
– Deshalb laufen alle Daten der Würzburger Einwohner und Unternehmen über das Rechenzentrum des Bertelsmann-Konzerns in Gütersloh.

Mein Kommentar:
Ich frage mich, was eine deutsche Universitätsstadt daran hindert, zwei Professoren der Wirtschaftswissenschaften und Informatik an einen Tisch zu setzen und ein zehnjähriges Studienprojekt anzuschieben, in welchem Studenten die Verwaltung umstukturieren und die notwendigen Fachstellen auf einer Internetplattform zusammenführen. Von einem Computerhersteller bekämen sie die dafür notwendigen 500 Computer für Werbezwecke wohl zu einem Spottpreis. Ist das alles so unglaublich kompliziert, daß man dafür die Privatwirtschaft braucht und – was wohl die Datenschützer dazu sagen – sämtliche Daten über Konzernrechner laufen läßt? Haben wir so wenig helle Köpfe, daß wir unsere Wäsche einem Großkonzern auf den Tisch legen?

Gibt es so wenig Interesse in den Landesregierungen an effizienteren Kommunalverwaltungen, daß die nicht dazu in der Lage sind, auf Bundesebene ein Forschungsprojekt in Gang zu setzen, in welchen recherchiert wird, wie Kommunalfachstellen am einfachsten übers Inter- oder auch ein Intranet vernetzt werden? Muß da wirklich jeder sein eigenes Süppchen kochen? Wenn ich mich als Psychotherapie-Einzelkämpfer schon selbst qualitätsmanagen muß, sollte das nicht auch verpflichtend für Kommunalverwaltungen sein? Und kommt bei diesen qualitätsgemanagten Erkenntnisprozessen nur raus, daß man die Knete einem Großkonzern in den Rachen schmeißen muß?

Ich fürchte, der real existierende Neoliberalismus präsentiert gerade die Antworten.
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Ein paar Links, die sich auf obenstehende Artikel beziehen:Axel-Springer-Konzern
Bertelsmann AG (Umsatz 2006: 19,3 Mrd. EUR, gehört zu 76,9% der Bertelsmann Stiftung und zu 23,1% der Familie Mohn)
Bertelsmann Stiftung
Reinhard Mohn
Liz Mohn, (u.a. im Aufsichtsrat der Rhön Klinikum AG, 1999 als erstes weibliches Mitglied aus Deutschland in den Club of Rome aufgenommen); siehe auch Günther Bähr, »Reinhard kann jetzt nicht« (Focus-Archiv, der Wikipedia-Link funktioniert nicht)
Brigitte Mohn (verfügt über 100% der Stimmrechte der Bertelsmann AG)
Club Bertelsmann (Umsatz 2,7 Mrd. EUR, gehört zu 100% Bertelsmann AG)
Publikationen des Verlags Grunder & Jahr (gehört zu 74,9% Bertelsmann AG)
Spiegel-Verlag (gehört zu 50,5% den Mitarbeitern, zu 24% den Erben Rudolf Augsteins und zu 25,5% Bertelsmann AG); siehe auch »Vom Sturmgeschütz der Demokratie zu Angela Merkels Spritzpistole«
Peter Hartz, Hartz-Konzept, Hartz IV (Arbeitslosengeld II), Sozialgesetzbuch II

McKinsey (Umsatz 2002 in Deutschland und Österreich: 600 Mio EUR)
Centrum für Hochschulentwicklung (CHE, Jahresetat 3,2 Mio EUR, davon 75% von der Bertelsmann-Stiftung)
Centrum für angewandte Politikforschung (CAP, auch bei der Uni München); siehe auch Werner Biermann, Neuer Griff nach Weltmacht (wieder bei der AG Friedensforschung an der Universität Kassel, wow, ihr habt viele gute Infos, Leute!)
Bertelsmann Forschungsgruppe Politik; siehe auch Jörg Kronauer, Zeit für Plan B (bei Jungle World)
Bertelsmann Wissenschaftsstiftung
Werner Weidenfeld (ehemals im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung)
Centrum für Krankenhausmanagement (CKM), an der Universität Münster
Komptenzzentrum Kommunen und Regionen; siehe auch Rudolf Bauer, Die Tonangeber (bei Freitag 24)
Medienakademie Köln
Akademie des Deutschen Buchhandels
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
arvato AG (Umsatz 2006: 4,8 Mrd. EUR)
Arvato Government Services (
vom 04. – 09.03.2008 auf der CeBIT im Public Sector Parc vertreten, Halle 9, Stand Nr. E36); siehe auch »Von PPP, WWW und KWh« (bei TIC-Magazin); siehe auch Widerstandsgruppe Worms-Wonnegau (bei Wikipedia); siehe auch Paul H. Bruder, Bertelsmann – Arvato: Gute Geschäfte – was sonst? (bei Unsere Zeitung); siehe auch »Das realexistierende Matriarchat« (bei stadtmenschen.de); siehe auch Annette Groth, Achtung, neues Reformpaket (bei Linksnet); siehe auch Stefan Krempl, Bertelsmann-Tochter für Steuererhebung und IT-Sektor in Ostengland verantwortlich (bei heise online); siehe auch Alois Weber, Und der Markt ist Gott geworden (bei Spiegel Online)
Public Private Partnership 
siehe zum Schluß auch Bertelsmann-kritische Materialien bei Bildungswiki


zu Arvato:

- Ausgerechnet Arvato (Band Eins, 05/2009)
Noch ein paar Bertelsmann-bezogene Links aus anderen Posts:
– Brief eines bayerischen Hausarztes: Was derzeit wirklich passiert

– Bertelsmann macht Staat (Post vom 30.4.07)
– Der Stifter und der Staatsanwalt (Spiegel online vom 22.10.07): 
Der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Professor Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld, soll Stiftungsgelder zum eigenen Nutzen zweckentfremdet haben. 
(Gegen eine Bußgeldzahlung wurde das Verfahren am 29.10.07 wegen Geringfügigkeit eingestellt, Quelle: Wikipedia)
– Die Bertelsmann AG – Mächtiger als der Bundestag (bei Schattenblick, Sozialistische Zeitung); man achte auf den ersten Absatz des letzten Abschnitts!
– Über die Tagung der Bertelsmann-Kritiker (aus der taz, attac und Kanal B)
Lieber Gott, ich danke Dir, daß ich nicht in einem islamischen Gottesstaat lebe. Dann müßte ich wohl wegen dieser Karikatur um mein Leben fürchten. Ich bedanke mich auch für die Existenz unabhängiger Zeitschriften, die dazu in der Lage sind, solche Verhältnisse publik zu machen. Gib den Menschen die Sehnsucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, auf daß sie sich weniger in den schnellen Medien die Birne mit Müll zuknallen und wieder mehr Lust darauf bekommen, mit eigenem Tun die Welt zu verändern. Gib den Menschen mehr Bewußtsein für ihre Verantwortung für das, was um sie herum geschieht und lasse sie erkennen, daß die Welt nicht instant und nicht light, aber auch ohne Lidl und Saturn geil ist. Es hat ja mal so eine Zeit gegeben…