Montag, 13. Dezember 2010

Der Aschenbecher – eine Weihnachtsgeschichte

Dies ist die unwahrscheinlichste Geschichte, die mir je widerfahren ist. Soll ich sie erzählen?
Nun gibt es ja verschiedene Typen von Unwahrscheinlichkeiten. Man kann zum Beispiel – wobei ich nicht weiß was ernsthafte Wahrscheinlichkeits-theoretiker von dieser Einteilung halten, aber das ist deren Sache – von inhaltlicher und von statistischer Unwahrscheinlichkeit sprechen. Eine ziemlich hohe Stufe inhaltlicher Unwahrscheinlichkeit wäre gegeben, wenn ich – sagen wir einmal – von einer Begegnung mit einem Ufo erzählte. Hinsichtlich seiner statistischen Wahrscheinlichkeit erschien das vielleicht gar nicht mal so unwahrscheinlich: man denke nur an all das weitverbreitete ufologische Schrifttum, von dem man den Eindruck bekommt, jeder dritte oder wenigstens jeder dreihundertste Mensch, der wachen Sinnes durch die Gegend streift, habe mit eigenen Augen Ufos gesehen – entweder hier bei uns auf Saaremaa oder dann im Sajanischen Gebirge.

Auch wenn man mit Statistik alles beweisen kann, so hat statistische Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit doch eine ganz wesentliche Eigenschaft: in ihr liegt die Illusion der Meßbarkeit. Mit anderen Worten: bei statistisch unwahrscheinlichen Dingen kann man sich gewissermaßen vorstellen, mit einem wie unwahrscheinlichen Ereignis man es zu tun hat. Daher wähle ich für meine Geschichte die Ebene der statistischen Unwahrscheinlichkeit.

Es war Ende November 1947, und unser Zug bewegte sich auf der Workutaer Strecke von Kirov zunächst nach Norden, dann nach Nordosten. Dieser Tatbestand jedenfalls war von inhaltlicher wie von statistischer Unwahrscheinlichkeit weit entfernt. Nicht einmal mehr unsere Psyche hielt ihn für unwahrscheinlich. Das war, ganz im Gegenteil, eine verflucht wahre Angelegenheit.

Auf den historischen 20. Parteitag sind mittlerweile so viele, noch historischere Parteitage gefolgt, daß es fast unschicklich ist daran zu erinnern, worüber auf jenem historischen Parteitag einst geredet wurde. Jedenfalls kamen damals zum erstenmal an einem solchen Ort die in die Millionen gehenden Repressionen zur Sprache. "Repressionen" war eine Formel, die alles bedeuten konnte – von der Entlassung bis zur Erschießung. Aber vor allem bedeutete sie Millionen von unrechtmäßigen Lagerverschickungen und einen unbestimmten Prozentsatz von unrechtmäßigen Erschießungen. Natürlich haben neben den unrechtmäßigen auch rechtmäßige Erschießungen und Lagerverschickungen für tatsächlich geleistete Verbrechen stattgefunden. Und aus vielerlei Gründen zeichneten sich gewisse Jahre durch einen besonderen Boom beider, rechtmäßiger wie unrechtmäßiger Repressionen aus. Das Jahr 1947 jedenfalls gehörte zu den Boom-Jahren. Auch wenn ich die Erforschung der näheren Grunde dafür gerne den Historikern überlasse, muß ich doch im Interesse der Leser den wichtigsten Grund erwähnen. Denn es kann schließlich Leser geben, die jünger sind als vierzig und daher – noch – aus den existierenden amtlichen Quellen weniger herauslesen als die, die darüber hinaus noch über gewisse persönliche Erfahrungen verfügen. Also, einer der wesentlichen Grunde für den Boom 1947, der sich schon ein paar Jahre davor anbahnte und auch mehrere Jahre anhielt, war jene Verschiebung, die auf der Landkarte Osteuropas stattgefunden hatte. Ein riesiges Landgebiet von Leningrad bis Stalingrad, von Petsamo bis Belzy, ja, gewissermaßen auch von Berlin bis Sofia, war in den sowjetischen Herrschaftsbereich – wie man will: übergegangen, geraten, gefallen, zurückgekehrt. Das hieß damals, unter Stalins und Berijas Herrschaft. Und mit der ganzen Starrheit genannter Personen, mit all ihrer hölzernen Phantasie, die jeder Logik entbehrte, machte man sich daran zu erforschen, wie die Millionen von Einwohnern jener Gebiete denn vor der Ankunft oder Rückkehr der Sowjetmacht gelebt bzw. sich verhalten hatten. Zu erforschen nicht um psychologische Daten zu sammeln und daraus taktische Schlüsse zu ziehen, oder gar zur menschlichen Weiterbildung, nein, zu erforschen, um zu bestrafen. Und dies geschah leider umso natürlicher und lawinenartiger, als man unter diesen Millionen ja kleinere und größere Verbrecher finden mußte – und sie auch haufenweise fand –, egal welchen Kriminalkodex man anlegte.

Kaum je zuvor haben bei derart umfangreichen Aktionen die Untersuchungsorgane, was die formalen Ergebnisse betrifft, fehlerfreier gearbeitet. Und wohl kaum je ist, wenigstens in zivilisierten Ländern oder solchen, die sich so nennen, die Auswahl der zu Untersuchungszwecken Inhaftierten als Illustration der Arbeit der Untersuchungsorgane so vielsagend gewesen wie damals: das heißt, der Prozentsatz derer, die sich in Laufe der Untersuchung als unschuldig erwiesen oder vor Gericht freigesprochen wurden, war nie so verschwindend gering, ja beinahe nicht existent gewesen, und der Prozentsatz der Bestraften noch nie so überwältigend hoch. Das nenne ich ideale, fehlerlose Untersuchungsorgane!

Damals teilte noch niemand die, die ihre Strafe bekamen, in rechtmäßig und unrechtmäßig Bestrafte ein. Niemand, außer den Bestraften selbst. Was die Einteilung natürlich höchst subjektiv machen konnte.

Die so also völlig indifferente Masse der zu Bestrafenden wurde durch Troikas und Tribunale geschleust, um dann – ohne besondere Eile muß man sagen – über die verschiedensten Etappen- und Verteilergefängnisse und -lager vor allen nach Osten und Nordosten in die Wald- und Steinkohlegebiete verfrachtet zu werden. So sollten sie die Grundlagen der neuen, edleren Gesellschaft festigen. Wenn nicht millionenfach, so doch gewiß hunderttausendfach.

Daß sich in einen Ende November von Kirov nach Workuta rollenden Zug auch der junge Internationalist (ich muß lachen!) Peeter Mirk befand, war statistisch gesehen insofern äußerst wahrscheinlich, und dementsprechend befand ich mich auch genau dort.

Die Zugfahrt war einerseits entsetzlich langweilig, andererseits aber auch begeisternd. Das Etappengefängnis in Kirov, wohin wir vor einem Monat aus der großen Mühle in der Konstantinogradskaja aus Leningrad gekommen waren, war eine erbärmliche, mit Holzzäunen unterteilte Arche Noah, bestehend aus Holzbaracken, und versank unter ihrer sintflutlichen Überlast im Dreck und Schmutz eines hinter dem Bahnhof gelegenen Vorstadtviertels. Die Zelle, in der ich einen Monat zugebracht hatte, schien für diese Behausung eine in jeder Hinsicht gewöhnliche Zelle gewesen zu sein. Wegen der Raumknappheit spielte sich das Leben Tag und Nacht auf den zweigeschossigen Pritschen ab. Da die Decke so niedrig war, konnte man sich auch auf der oberen Pritsche nur bis in Sitzstellung aufrichten, so da man also Tag und Nacht lag oder sich in gebückter Stellung befand. Zwischen den Pritschen stehen konnten von den 40 oder 50 Männern gleichzeitig vielleicht ein Viertel, und ein bißchen Bewegung verschafften nur die Latrinengänge. In den hintersten Ecken herrschte stickiger Dunst, an den Fenstern dagegen eisige Kälte, denn das Glas war wahrscheinlich seit Araktschejews [Vertrauensperson von Alexander I. und Nikolai I., berüchtigt für seinen harten innenpolitischen KursZeit kaputt, draußen aber war seit der zweiten Woche über zehn Grad Frost. All das – Frostbibbern rechterhand, Schweißausbrüche linkerhand, torfiges Brot und Brühe wie Spülwasser, unter der Decke eine nackte Iljitsch-Lampe voll Fliegendreck, die in Rauch und Nebel gegen die von Latrinengestank geschwängerte Dunkelheit ankämpfte, kein einziger näherer menschlicher Kontakt, denn man hielt die Kriminellen hier mit den Politischen vermischt, und auch ein Teil der Politischen ahmte Ton und Verhalten der Ganoven nach, um dadurch vielleicht ihr erbärmliches und verfluchtes Intellektuellendasein zu verbergen und weniger Hohn zu provozieren - , dies alles befand sich voll und ganz im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeit. Auch das einzige Original unserer Kammer hielt sich mehr oder weniger innerhalb dieses Rahmens: Nikolai Nikolajewitsch. Mitgefangener. Ehemaliger Feldscher. Ein großer, schnell abgemagerter Mann mit unendlich tiefliegenden stechenden Ferkelaugen, entweder schon wahnsinnig oder kurz davor. Und seine von morgens bis abends, oft auch nachts durch den leichten Schlaf ans Ohr dringende Predigt: ‚Genossen – ihr wißt doch: wenn man bei einer Frau ist, ist es absolut verboten – versteht ihr, das ist schlimmer als der Teufel selbst – die Brüste der Frau zu kneten! Die Brüste einer Frau zu kneten heißt, sie zu toten! Zwar ein langsames Töten, aber immerhin Töten. Zum Beispiel Sie da – Wassili Wassiljewitsch – gestehen Sie: Wenn Sie bei Ihrer Frau, oder bei fremden Frauen, waren, haben Sie ihnen die Brüste geknetet? Aber sicher! Alle Männer machen das. Weil sie es nicht wissen. Einige aber vielleicht auch, weil sie es wissen: Den Brustkrebs bekommen die Frauen nur daher. Darin bin ich jetzt vollkommen sicher: früher oder später kriegt jede Frau, deren Brüste wir geknetet haben, Brustkrebs, und der bringt sie um – ’ Auch Nikolai Nikolajewitsch und seine Behauptung lagen mehr oder weniger im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeit. Entsprechend dem Vorkommen des Feldschers in einer Gesellschaft muß er ja auch in dem den Repressionen ausgesetzten Anteil der Gesellschaft vertreten sein, da in dieser Gruppe eben alles das auftritt, was in der Gesellschaft auch sonst existiert. Und soweit sie, die Feldschere, über irgendwelche medizinischen Kenntnisse verfügten, mußten sie sich in der entsprechenden Situation zu Phantasmagorien verzerren. In einer anderen Geschichte will ich gerne erzählen, wie ich selbst – und zwar gar nicht mal in Kirow oder anderen exotischen Orten, sondern im fast heimatlichem Tallinner Zentralgefängnis – ein grammatisch-logisch-soziales Weltsystem erarbeitet habe. Doch zurück zu Nikolai Nikolajewitach. Was seine Person angeht, so hielt sich tatsächlich alles im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeit. Erotische Vorstellungen lebten trotz Unterernährung und Depression bei vielen von uns noch, und jeder hatte in den Untergeschossen seines Bewußtseins seine Schuldkomplexe wegen etwas, was er mit seiner eigenen Frau oder mit fremden Frauen oder mit Gott weiß wem oder was einmal gemacht hatte. Mit einen Wort: Nikolai Nikolajewitschs fixe Idee und das ganze Kirower Etappengefängnis waren reichlich beklemmend, direkt unerträglich. Und wenn man es denn doch ertrug, dann nur dank des Wissens um seine zeitliche Begrenztheit. Soweit man in unserer Situation, was unsere Aussichten betraf, überhaupt von Wissen sprechen konnte. Sagen wir also lieber: man ertrug es dank der Hoffnung auf seine zeitliche Begrenztheit. Denn im Erdenken allerlei realistischer und unrealistischer Hoffnungen waren wir immer noch ungeheuer schnell.

O ja, ich entsinne mich, wie wir einige Zeit vor besagter Zugfahrt, von der ich zu erzählen begann, im großen Etappengefängnis in der Konstantinogradskaja in Leningrad – ein recht menschlicher Ort verglichen mit Kirow – uns für die nächste Zukunft die günstigsten Entwicklungen erhofft hatten. Herrgott, schließlich stand doch der 30. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution vor der Tor! Zu solchen Tagen hat es doch immer Amnestien gegeben, oder nicht?! Natürlich! Nunja – bremsten jene erfahreneren Mitgefangenen, um aufkeimende persönliche Hoffnungen mit besonnenen Zweifel zu unterdrücken – , gewiß, aber waren es nicht in erster Linie immer Amnestien für Kriminelle gewesen, die sich nur sehr begrenzt auf die Politischen ausgewirkt haben? Naja, aber bis jetzt hat sich noch kein Revolutionsjahrestag der dreißigste genannt! Und noch keiner ist wie der bevorstehende – zwei Jahre sind ja schließlich keine Zeit – auf ein so befreiendes Ereignis wie den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gefolgt! Die einzig mögliche Folgerung daraus ist: eine so umfangreiche Amnestie auch für die Politischen, wie es sie diesmal geben wird, hat es früher gar nicht geben können! Unter eine solche Amnestie, wie sie es diesmal geben wird, müßte doch eigentlich die Hälfte, na, beinahe die Hälfte aller politischen Gefangenen fallen. Aber in diese Hälfte oder Beinahe-Hälfte, in dieses Viertel oder meinetwegen Zehntel – da paßte jeder hinein. In der Hälfte der hoffentlich Freikommenden, den Viertel der bestimmt Freikommenden, in dem Zehntel der todsicher Amnestierten gab es zunächsteinmal Platz für alle. Und so peinlich es mir auch ist, das zuzugeben: eine zeitlang gab es auch Platz für mich. Trotz meiner kurzen, aber immerhin recht kompakten Lebenserfahrung und trotz einer gewissen juristischen Vorbildung. Denn aufgrund meiner relativen Sachkenntnis hätte ich, anders als viele andere, die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen müssen und mich daher nicht zu kindlichen Hoffnungen hinreißen lassen dürfen. Außerdem hätte mein juristisch geschultes Auge ja wohl sehen müssen, daß mein Fall derzeit geradezu hoffnungsvoll war, da ich nach den mir zugeschanzten Beschuldigungen mit lächerlichen fünf Jahren davongekommen war.

Natürlich umfaßte die Amnestie, als die entsprechenden Zeitungen uns dann endlich erreichten, nur Kriminelle, Taschendiebe und Kleinstrückfällige, nur „Freunde der Macht“, wie wir gleich ironisch feststellten, und auch die nur von der leichtesten Sorte und in sehr begrenzten Umfang. Oder vielleicht waren es auch ein paar mehr, was weiß ich. Allerdings kann man keineswegs behaupten, daß sich nun proportional zu den jüngsten Hoffnungen Enttäuschung breitgemacht hatte. Wir hatten bald Grund zu anderen Hoffnungen. In Kirov z.B. hofften wir, von dort so schnell wie möglich wieder wegzukommen, und zwar in Verhältnisse, die ungleich besser sein mußten als die dortigen.

Und dann, eines Morgens war es so weit: Kolonne sammeln, Mirk, Pjotr Iwanowitsch, auch, Bündel in die Hand und marsch, marsch! Ich kann nicht sagen, wie lange wir marschierten, vielleicht vier, fünf Kilometer. Vom Etappengefängnis zu einem Abstellgleis des Hauptbahnhofes dort. Ich kann mich auch nicht mehr an die Umgebung erinnern. Aber ich erinnere mich noch genau an den Marsch über die Schwellen des hohen, verschneiten Bahndamms und an die zweihundert Mann starke Kolonne, an die Wächter mit Hunden vorne, zu unseren Seiten und hinten – gleich einem großen schwarzen sich über den weißen Schnee schlängelnden und windenden Tausendfüßler. Ich erinnere mich an den Modergeruch, den wir mit einem Mal an uns spürten, und an den sauberen Wind, der uns zeitweilig ins Gesicht blies. Und an den großen braunen Rumänen, der neben mir ging.

Er war etwa 35 Jahre alt und der Typ eines jungen, stattlichen antiken Römers – ein Typ, demgegenüber ich zutiefst voreingenommen bin, um nicht zu sagen: den ich nicht ertragen kann. Vielleicht aus Neid auf ihren möglichen Vorteil bei Frauen, vielleicht auch aus Neid auf ihre Kultur, die sie nun einmal haben und auf der sie gleichgültig herumtrampeln, vielleicht ist es auch die genetisch bedingte Erfahrung, daß Männer mit solchen Kennzeichen sich meistens als Lümmel herausstellen, wenn sie mit meinesgleichen zu tun haben. Aber mit dem hier war diese Einstundenbekanntschaft auf jeden Fall angenehm. Er sprach ein großartiges, für mich viel zu gutes Französisch und war imstande, von unseren fünf Kilometer langen Weg getrost vier Kilometer lang Baudelaire zu rezitieren. Und von seinem Baudelaire her hätte unser Marsch gut und gerne doppelt so lange dauern können. Nein Französisch war bekanntlich – wenn sich jemand an meine Schulzeit erinnert – recht dürftig, aber dank der speziellen Methode unseres Monsieur Ledoute konnte ich sechs, sieben Baudelaire-Gedichte auswendig: „Der Albatroß“, „Die Erhöhungen“, „Einladung zur Reise“ und so weiter. Zusammen murmelten wir sie – stückweise – in einem leisen Duo:

Mon esprit, tu te meus avec agilité, 
Et, conne un bon nageur qui se pàme dans l’onde,
Tu sillonnes gaienent l’immensité profonde 
Avec une indicible et màle volupté.

Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides; 
Va te purifier dans l'air supérieur,
Et bois, comme une pure es divine liqueur, 
Le feu clair qui remplit les espaces limpides – 

[Es handelt sich um die zweite und dritte Strophe aus dem Gedicht Évélation (Erhebung) aus dem Gedichtzyklus Die Blumen des Bösen (erschienen 1857). Deutsche Übersetzung durch Friedhelm Kemp (aus dem Manuskript zum Baudelaire-Feature Die Panflöte von Meister Baudelaire, Deutschland-Radio): 
  
Regst du, mein Geist, dich voll Behändigkeit, und wie ein guter Schwimmer, dem die Flut behagt, durchfurchst du froh die tiefe Unermesslichkeit mit unsäglicher Lust und männlichem Genuss. 
  
Nimm ferne deinen Flug, sehr fern von diesen kranken Dünsten; geh, läutere in den höheren Lüften dich, und trinke, gleich reinem Himmelssaft, das klare Feuer, das die lichten Räume füllt.]

Wir murmelten es – reden war bei einem solchen Marsch verboten – leise, mit halbgeschlossenem Mund, während wir über die vereisten Schwellen stolperten und die unvermeidlichen Rufe der Wächter, das Klaffen der Konvoihunde und das Knirschen unserer Schuhe irgendwo weit weg, hinter den Schneeflocken und diesen Versen, verhallten.

Der Rumäne war Offizier, Major, und ich glaube, er war es wirklich, selbst wenn Militärs sich in solchen Situationen lächerlich oft schnell ein paar Dienstgrade dazuschwindeln. Daß er Offizier war, sah man auch an seiner sehr korrekten und ein wenig brüsken Haltung. Doch war er der Sohn eines Akademiemitgliedes, eines Geschichtsprofessors, dessen Name mir damals bekannt vorkam, heute aber entfallen ist, und offensichtlich war es dieses kulturelle Familienerbe, das seine engstirnige Offizierswichtigkeit etwas milderte und ihn direkt angenehm wirken lies, wenigstens auf jenen Marsch und für jene Stunde. Aber wieso fange ich überhaupt an, von ihm so ausführlich zu erzählen? Ach ja, weil ich im Gespräch mit diesem Rumänen ein französisches Wort lernte bzw. wiederentdeckte. Wörter sind manchmal merkwürdig mit Situationen verknüpft. Mein schwaches Französisch zeichnet sich dadurch aus, da ich aufgrund meines praxisfernen Bücherwissens mitunter die gewöhnlichsten Wörter nicht kenne. Besonders die aussergewöhnliche Bedeutungsebene der gewöhnlichsten Wörter ist mein schwächster Punkt. Und als dann bei Baudelaire plötzlich eine Pause eintrat – vielleicht waren wir auch schon fertig mit ich weiß nicht mehr genau, vielleicht hatte der Rumäne gerade von seiner Familie geredet, wo – glaube ich – sogar König Michael vorkam – , kniff er plötzlich seine schwarzen Augen zusammen und sagte: „Aber was sind wir jetzt? Der Müll Europas!“

Ich weiß nie, wie ich auf das südländische Temperament reagieren soll. Unsereins – zumindest ich – versteht sie ja nie so ganz. Nie weiß man, wie dick bei ihnen die Schicht zwischen Schale und Kern ist. Wo hört das Theater auf, wo fängt die Wahrheit an? Ist alles bloße Staffage, oder kommt alles vom reinen Herzen? Hastig überlegte ich, was ich antworten sollte. Sollte ich sagen: Wieso gerade Müll? Vielleicht sind es eher die Körner von besonderem Gewicht, die durch die Zentrifugalkraft und so weiter…? Nein, das wäre für meine Sprachkenntnisse zu kompliziert, und für meine besorgte Skepsis zu kindlich Oder sollte ich einfach zustimmen, ob es höflich oder unhöflich klingt, weis man ja nicht, aber jedenfalls platt: Müll, leider Müll. Und Verfaulen ist höchstwahrscheinlich unsere einzige Aussicht…?

Ich weiß nicht mehr, vielleicht ließ ich auf der Suche mach einer Antwort meinen Blick schweifen – ich sah diese fremde, schneegraue und erdschwarzgefleckte Erde, soweit das Auge reicht und den ziemlich tief hängenden Himmel, von dem feiner weiser Schnee wie Asche auf unseren dunklem Haufen herabfiel. Und irgendwo war noch Baudelaire – plötzlich wußte ich, was ich antworten wurde, nur mußte das auf französisch geschehen! Alle Wörter waren da, bis auf das eine und wichtigste: mir war entfallen, was Aschenbecher auf französisch heißt. Ich mußte es erklären: Verstehen Sie, ein Gefäß, in das man die Kippen wirft – les siglots – selbst an die Kippen erinnerte ich mich, nicht aber an den Aschenbecher. 
„Eh bein, vous voulez dire – le cendrier – ?“
Genau! Ich sagte: „Wissen Sie, was wir sind? Kippen. In Gottes Aschenbecher.“
„Inwiefern?“
„Wer erloschen ist, ist erloschen. Wer aber noch einen Funken in sich hat, der verglimmt entweder – oder – “
Er begriff sofort: „Oder Gott bemerkt ihn und bläst ihn von neuem an – und gibt ihn jemandem zum Paffen. Ha-ha-ha-ha, und Sie hoffen, da er das mit Ihnen tut?“
Was sollte ich antworten? Ich wollte kein Narr sein, aber ehrlich wollte Ich sein, und sei es auch nur deswegen, da sich meine Antwort vielleicht bewahrheiten konnte.
'“Hm – nicht direkt. Aber ein wenig schon.“
„Na dann, dann hoffen Sie mal!“
Von jenen Augenblick an ist mir das Wort cendrier für immer im Gedächtnis geblieben. Damals aber erreichten wir bald ein Abstellgleis hinterm Bahnhof und kamen zum Zug, im dessen Waggons man uns jagte. Ich in einen, der Rumäne in einen anderen.

Ein Mitgefangener mit philosophischen Neigungen hat einmal gesagt – nicht damals, sondern bei einer ähnlichen Holterdipolter-Verschickung – , das normale Leben sei nur eine Zeitlupenvariante des Lagerlebens: die Umstände zwingen einen zum Unausweichlichen, dem sich alle Kontakte unterordnen: die einen ziehen in diese, die anderen in jene Himmelsrichtung, in diese oder in jene Stadt. Hier jagt das Kommando die einen in diesen, die anderen in jenen Waggon, die einen in dieses, die anderen in jenes Abteil, die einen auf diesem, die anderen auf jenen Bahnhof hinaus. Es ist dasselbe, nur zeitlich geraffter und scharfer. Hautnah, wenn man so will. Vor allem, wenn man den Arsch seienr Seele auf der schneidenden Klinge hält, wie sich der philosophische Mitgefangene ausdrückte.

Das Abteil, in das ich hineinkommandiert wurde, war ein normales „Stolypin“-Abteil mit dem gelblichen durch die Benutzung etwas angegrauten Holz der dritten Klasse und mit Gittern vor Tür und Fenstern. Solche vergitterten Waggonfenster sind bestimmt tief im Bewußtsein vieler Menschen meiner Generation verankert, und sicher nicht nur aufgrund persönlicher Erfahrungen, obwohl gewiß auch durch sie, sondern auch von den Postkartenalben der Großväter her, oder womöglich auch aus der „Großen Geschichte der russischen Kunst“ aus der Zarenzeit. In jenem Werk gibt es ein Bild von einem Maler, dessen Name mir gerade nicht einfällt; darauf ist ein vergittertes Waggonfenster zu sehen und dahinter einige bärtige Männer, eine Frau und Kinder, die versuchen, durch das Gitter den im Vordergrund auf dem Perron pickenden Tauben Brot hinzuwerfen. Banaler Sentimentalnaturalismus. Und natürlich auch ein politischer Protest gegen den Geist der Zeit und gegen die diesen Geist verkörpernden Waggons, die von Herrn Ministerpräsidenten Stolypin nach 1905 in Rußland eingeführt wurden – oder vielleicht waren sie schon vorher in Gebrauch, aber sie gewannen damals an Aktualität – und die seinen Namen wenigstens in der Umgangssprache bis heute bewahrt haben. Und wohl auch in Zukunft bewahren werden.

Ein Abteil dieser Waggons ist im Zivilleben bekanntlich für vier Reisende vorgesehen. Unter den besonderen Umständen hier aber – tja, für wieviele? Für diese besonderen Umstände hatte man jedenfalls zwischen der Decke und den oberen Pritschen ein drittes Geschoß eingebaut, eine zusätzliche Flache mit einer kleinen Öffnung zum Hinein- bzw. Hinaufkriechen, auf der bei guter Ölsardinentechnik vier oder sogar fünf Männer liegend Platz finden konnten. Auf jeder der übrigen vier Pritschen können wir uns vier Männer sitzend vorstellen – wie sie dort lagen, das ist deren Sache – , man sitzt fast bequem, nur oben, d.h. im zweiten Geschoß, muß man natürlich die Beine herunterbaumeln lassen, was nicht stört, aber sitzen konnte man nur sehr gekrümmt, weil zum Aufrechtsitzen kein Platz blieb. Und so kommen wir auf 21 Mann pro Abteil. Dabei blieb der kleine eisenbeschlagene Tisch unterm Fenster sogar frei und stand den Reisendem als Eß- oder Kartentisch zur Verfugung, vorausgesetzt die Wächter waren weit genug und die Spieler waren wortlos oder verständigten sich flüsternd.

In ein solches Abteil wurde ich gestoßen, wie sich zeigte, als achtzehnter. Und da niemand weiter dazukam, war es dort geradezu geräumig: auf jeder Etage ein freier Platz. Die 17 Männer waren, wie ich bald herausbekam, allesamt Litauer und anständige Männer, d.h. anständig insofern, als sie keine Gauner, Taschendiebe, Diebe, Einbrecher oder Räuber waren. Ich brauchte mir also um meinen mehr oder weniger anständigen Mantel und mein mittelgroßes Bündel keine Sorgen zu machen. Dem Hörensagen nach waren Sorgen dieser Art auf solchen Gefangenentransporten höchst angebracht. Aber ansonsten waren meine Gefährten selbstverständlich erbärmliche Gestalten. Trugen sie doch eine – jetzt natürlich kennzeichenlose – Uniform mit Holz- und nicht mehr Messingknöpfen, offenbar aus der Zeit des bürgerlichen Litauens, und sie verkörperten, was die entsprechenden Männer in der Uniform der estnischen Armee in der gleichen Situation verkörpert hatten: Die Esten waren in diesem Falle „Selbstschutz“-Offiziere von vorvorgestern gewesen, diese hier waren wohl ehemalige LAFler oder TDAler [Widerstandsorganisationen Anfang der 40er Jahre in Litauen], oder wie auch immer sie während der deutschen Besatzung in Litauen geheißen hatten.

Im Laufe von zwei Tagen und anderthalb Nächten gliederte ich mich, soweit es nötig war, in ihre Gemeinschaft ein. Russisch sprachen sie mit starkem litauischen Akzent, im Durchschnitt jedoch besser als ich. Aber immerhin hatte ich schon ein Jahr lang, wenn auch mit schlechten Lehrmitteln, konzentriert russisch gelernt. Eine gemeinsame Sprache hatten wir also. Außerdem fragten sie wenig, und ich fragte sie überhaupt nichts. Denn ich hatte mir für die derzeitige Situation, besonders was die Anpassung an die Umgebung angeht, eine Haltung angewöhnt, die zwar nicht immer konsequent durchführbar war, aber dennoch eine gewisse Orientierungshilfe bot: mein Verhalten sollte das eines interessierten und aufmerksamen Touristen sein, an die Umgebung aber wollte ich mich nur soweit anpassen, wie es zur Vermeidung lästiger Spannungen unbedingt nötig war, wobei ich mich innerlich auf keinen Fall mit irgendetwas verschmelzen lassen wollte. Folglich fühlte ich mich, äußerlich gesehen, in dieser zwar reichlich selbstsicheren, aber ungefährlichen Gesellschaft geradezu heimisch, und ich war bereit, noch ein-zwei Tage mit ihnen zu fahren, von mir aus auch ein-zwei Wochen, einerlei wie lange – einerlei schon deswegen, weil es ohnehin nicht von mir abhing. Aus irgendeinem Grund hatte sich in uns die Vorstellung eingenistet, wir seien auf dem Weg nach Petschora, und bei unseren langsamen Tempo (wir wurden auf den Bahnhöfen immer wieder abgekoppelt und an den nächsten oder übernächsten Zug angekoppelt) würde die Fahrt noch einen oder sogar zwei Tage dauern. Und zumindest diese Zeit sollte doch relativ sicher sein.

So war ich also einigermaßen unangenehm überrascht, als ich um Mitternacht plötzlich hochschreckte:
„Mirk – Pjotr Iwanowitsch?! Gdje sche on?! Sdjesj?! Job jewo matj! Bystro! S weschtschami!“ [russ. : „Wo ist er denn?! Hier ?! Soll er seine Mutter ficken! Schnell! Mit den Sachen!“]
Gott sei Dank schliefen wir ja nicht in Pyjamas, und unsere Sachen waren nicht über ein ganzes Hotelzimmer verstreut. Innerhalb von zehn Sekunden war ich auf dem Gang. Wie sie kontrollierten, ob ich auch ich war, weiß ich nicht. Vermutlich nach einem Photo aus den Papieren der Wache. Jedenfalls stand der Zug ächzend mitten in der Dunkelheit, und zwei Minuten später stand auch ich da, während der Zug schnell verschwand und bald schon in weiter Ferne war. Um mich herum absolute Leere, totale, verschneite Dunkelheit und eine saubere Frostluft, die einem benommen machte.

Ich rief leise ein „Hei“ in die Dunkelheit, in der Hoffnung mit mir zusammen könnte hier noch jemand abgesetzt worden sein. Aber keine Menschenseele. Und selbst wenn da jemand gewesen wäre, hätte er auch nicht gewußt, nach welcher Logik einen das Schicksal wohin versetzt. Ich war hier jedenfalls mutterseelenallein – nicht einmal Sterne waren am Himmel – und ich dachte: du brauchst nur mit der Stiefelspitze die Bahngleise zu suchen und nach Südwesten loszumarschieren, nach zweitausend Kilometern bist du zu Hause. (Ich füge hier für unkundige junge Menschen, die sich wundern mögen, warum ich denn nicht losgegangen bin, hinzu: es wäre ein völlig hoffnungsloser Gedanke gewesen, denn diese Bahnlinie war der einzige im Fluchtrichtung weisende Weg und tatsächlich der einzige Weg überhaupt, und praktisch die einzigen Siedlungen an diesem Wege waren Gefangenenlager, Wächterbaracken und Wachhundgehege; und außerdem waren von den Privatpersonen hier, soweit hier überhaupt welche waren, nach den Erfahrungen der Gefangenen alle, nun gut, fast alle zum Verrat des geringsten verdächtigen Schattens bereit: entweder aus Angst vor der Strafe für Nichtauslieferung oder aus Gier nach der Prämie für Auslieferung). 
Natürlich hätte mich jemand hier abholen müssen. Aber niemand war da. Das war ein Fehler im System, der in der Armee, besonders aber im Lagermechanismus, seltener vorkam als in allen anderen Bereichen. Es sollte auch nicht lange dauern. Ich hatte ein paar Minuten gestanden, hatte meine Glieder gestreckt, tief durchgeatmet und feststellen können, aus was für einem stickigen, Machorka-getränkten und von menschlichen Ausdünstungen geschwängerten Waggonmief ich gekommen war, als ich weit entfernt in der Dunkelheit eine Reihe von blinkenden Lichtpunkten bemerkte. Und gleichzeitig sah ich, wie sich zwischen den stehenden Lichtpunkten einer schwankend auf mich zubewegte. Einen Augenblick später war die Laterne schnaufend bei mir angekommen. Ein Lederhandschuh stieß sie mir aus der Dunkelheit ins Gesicht. Der andere Handschuh hantierte mit Papieren.
„Familja? Imja? Otschestwo? God roschdenija? Srok?“ [russ.: „Nachname, Vorname, Vatersname, Geburtsjahr, Strafmaß“]
Ich antwortete, und man stellte fest, daß ich für sie bestimmt war.
„Poschli!“ [russ.: „Marsch!“]

Wir setzten uns den Bahndamm entlang in Bewegung. Der Laternenmann natürlich hinter mir und ich vorweg, nicht umgekehrt. Ich hatte jetzt freilich die Probe aufs Exempel machen und fragen können, wie dieser Ort hieße und welche Nummer das Lager, in das wir uns begaben, habe. Aller Erfahrung nach wäre es nicht einmal ausgeschlossen gewesen, daß mein Begleiter mir das hier – im Dunklen und unter vier Augen – sogar gesagt hätte. Aber ebenso möglich – und vermutlich wahrscheinlicher – war es, daß er ein „Moltschatj“ [russ.: „Schweig!“] gefaucht hatte. Und das wäre, ja, da können Sie machen, was Sie wollen, einfach zu beleidigend gewesen, als daß ich es hätte provozieren wollen. So marschierten wir schweigend, ungefähr einen Kilometer lang, bogen schweigend von den Gleisen ab und waren nach ein paar hundert Metern am Lagertor. 
Im Torhäuschen unter den Wachturm saßen drei Männer in weißen
Wächterpelzen aus Schaffell mit roten Epauletten um eine elektrische Lampe herum. Der Blechofen bollerte. Die Gesichter der Männer waren vor Nachtwärme rot und ihre Augen ganz verschlafen.
„Ein Neuer – ? Verdammt. Steck ihn in die Etappenbaracke, bis zum Morgen. Wohin sonst.“
Aber ich hatte über das, was in Etappenbaracken geschah oder geschehen konnte, zuviel gehört, um nicht wenigstens einen Versuch zu unternehmen. Ich sagte: „Bürger Vorgesetzter – ich habe mehr oder weniger anständige Kleider an. Sind Sie sicher, da ich sie auch morgen noch haben werde, wenn Sie mich für die Nacht in die Etappenbaracke schicken?“
Das glasige Rotgesicht war offenbar ein verständiger Mann. Er schmunzelte kurz und sagte, nicht zu mir, sondern zu meinem Begleiter:
„Na gut. Soll er diese Nacht in der Krankenstation schlafen. Morgen früh sehen wir dann weiter.“ Er kurbelte am Telefon und bestellte den Diensthabenden aus der Krankenstation herbei. Der war innerhalb von zwei Minuten da und nahm mich, wie befohlen, mit.

Im Schlepptau dieses Gnurpels von Diensthabendem ging ich ein paar hundert Meter die Lagerstraßen entlang, über verschneite Bretterwege und zwei Grabenbrücken mit Rokokogeländer. Die leeren verschneiten Wege waren trotz der wenigen Lampen gut ausgeleuchtet, und das ganze nächtliche Lager wirkte wie eine absurde Weihnachtspostkarte.

Der Warteraum der in einer ebensolchen Baracke wie die anderen untergebrachten Krankenstation war beinahe vornehm: der weißgekalkte Backsteinofen war heiß, der Fußboden gewaschen, vor den Fenstern Mullgardinen, dahinter schmalbeinige Blumenkrippen aus weißen Latten mit hellgrünem Asparagus in Reih und Glied. An den weißgekalkten Wänden standen einige Holzbänke. Auf diese wies der Diensthabende mit dem Kinn: 
„Schmeiß dich hin, bis sechs ist Zeit. Um sechs kommt der Doktor.“
„Warum so früh?“
„Um sieben fängt die Arbeit an. Vorher müssen die Krankmeldungen untersucht werden. Um sechs also trollst du dich von dem Sofa da fort.“
Ich streckte mich aus, und der Diensthabende löschte das Licht. Die Bank war kurz, und direkt weich war sie auch nicht gerade. Aber die Luft in dem geräumigen Warteraum war, verglichen mit all der Zellen- und Waggonluft des letzten Jahres, wunderbar frisch und wegen des leichten Äthergeruchs der Krankenstation roch reiner als rein. Und was die Hauptsache war: nach weiß der Teufel wie langer Zeit schlief ich mal wieder in einem dunklen (nun, so daß ich also – trotz der Ungewißheit hinsichtlich des mir Bevorstehenden und trotz der Gewißheit, daß dies, wenn ich Pech hatte, widerwärtiger als widerwärtig sein wurde, und auch wenn ich kein Pech hätte, noch widerwärtig genug sein würde – da auf der Bank in einen göttlichen Schlaf fiel.

„Aufstehen! Aufstehen! Der Doktor kommt!“
Diese servile Emsigkeit des Diensthabenden schien mir, was den Doktor angeht, kein besonders gutes Omen zu sein. Außerdem war der Doktor ja noch gar nicht gekommen. Ich hatte noch bequem Zeit aufzustehen, meinen Dreitagebart in der vom Diensthabenden erbetenen Schüssel zu benetzen und mit den Taschentuch zu trocknen. Erst dann kam der Doktor herein. Er war von mittlerem Wuchs und ungefähr 35 Jahre alt. Ein Gefangener natürlich auch er, aber ein Elitegefangener. Er trug einen sauberen dunkelblauen, wattierten Rock und ein schwarzes Lagerhemd mit hohem Kragen, dessen schneeweiße Innenkante sich von Rand des Stehkragens abhob. Er hatte das gewöhnliche, etwas gelangweilte, aber dennoch freundliche Gesicht eines gut genährten Menschen, gut rasierte Wangen und – entsprechend dem Privileg, das das System Männern seines Berufs gab – Haare, ordentlich geschorene und zu einem Scheitel gekämmte Haare auf dem Kopf. Ich ergriff das Wort:
„Man hat mich für die Nacht hierher in die Krankenstation geschickt…“
„Aha, Sie sind in der Nacht gekommen? Wo kommen Sie her? Und woher stammen Sie?“
Ich erklärte es ihm und glaubte gleichzeitig, aus seinen knappen Fragen jenen gleichen litauischen Akzent herauszuhören, in dem ich noch bis vor kurzem bis über beide Ohren gebadet hatte. Und das war es auch:
„Ach, aus Tartu? Ich komme aus Kaunas.“ Nun reichte er mir die Hand: „Doktor Kačanauskas. Leider bin ich nie in Tartu gewesen. Waren Sie einmal in Kaunas?“
„Ja, flüchtig. Im Čiurlonis-Museum und in der Oper bei ‚Birute’. Aber in Klaipeda habe ich, man könnte fast sagen, gelebt. Zwei Sommer lang.“
„Ach was! Wann denn? Und wie kam es dazu? Aber – setzen Sie sich doch!“ Er hatte den wattierten Rock an den Kleiderhaken gehängt und wusch sich in einer Emailleschüssel, die ihm der Diensthabende auf einem Schemel gestellt hatte, die Hände. Und ich erklärte. Wie ich vor dem Krieg in Klaipeda Tante und Onkel hatte, daß dieser Onkel dort Vertreter für Schiffszubehör von irgendeiner holländischen Firma war, Taue und Farben usw., und daß ich bei ihnen zwei Sommer verbracht habe.

Doktor Kačanauskas hatte seine Hände gewaschen, trocknete sie mit einem vom Diensthabenden bereitgehaltenen Handtuch und setzte sich neben mich.
„Zwei Sommer in Klaipeda – haben Sie da vielleicht auch Bekannte?“
Ich überlegte. Tante Juuli und Onkel August hatten bestimmt welche, schließlich hatten sie dort über zehn Jahre gelebt, bevor sie – ein Jahr vor Kriegsausbruch – nach Tallinn zurückgekehrt waren. Aber ich? Ich hatte mit meinem Vetter beide Sommer vom Morgen bis zum Abend in den Juodkranter Dünen in der Sonne gelegen, im Meer gebadet, am Strand gelegen und mit Sonnenbrillen gelesen, so daß die Augen bunt und der Nacken grün waren. Bekannte – ? Achja, einer kam mir von ein paar Abendessen bei Onkel August in den Sinn:
„Tja, zum Beispiel Kapitän Bačenas – er war dort Kapitän auf irgendeinem Lotsenboot.“
„Kapitän Bačenas?“ fragte der Doktor, „in Klaipeda? Wie sah der aus?“ 
„Ja, wie soll ich ihn beschreiben. Überdurchschnittlich groß und untersetzt. Haben Sie mal ein Bild von Admiral Makarov gesehen?“
„Nein“ mußte der Doktor gestehen.
Ich sagte: „Kapitän Bačenas hatte einen ebensolchen großen, sich in zwei Hälften teilenden Vollbart…“
Doktor Kačanauskas brach in Lachen aus und erhob sich: „Kapitän Bačenas mit seinem Vollbart war ein sehr guter Bekannter meines Vaters. Hören Sie zu, kommen Sie mal für einen Moment in meinen Bunker…“
Wir standen auf. Ich sah, daß im Warteraum fünf–sechs mehr oder weniger schlappe Gestalten erschienen waren – offensichtlich die ersten Krankheitsfälle heute Morgen. Der Doktor sagte zum Diensthabenden:
„Ivan Borissowitsch, kommen Sie her, nehmen Sie die Thermometer und teilen Sie sie aus“ – und dann so, daß die Krankenkandidaten es hören mußten: „Und halten Sie ein Auge auf sie, damit sie ihr Fieber nicht zu hoch treiben.“
Wir traten zu dritt in das winzige Kabinett des Doktors. Zwei mal drei Meter, ein kleiner weiser Tisch, ein Instrumentenschränkchen, drei weiße Stühle. Als der Diensthabende mit seinen Thermometern gegangen war, bot der Doktor mir ihn gegenüber Platz uns setzte sich selbst hinter den Tisch. Er sagte schmunzelnd, dann aber ernster werdend: „Tja, wenn der heilige Nepomuk die Dinge schon mal so arrangiert hat… Sehen Sie, hier im Lager kann man es unter Umständen aushalten. Oder aber es wird völlig unerträglich. In einer Stunde wird Sie irgendein Aufseher hier aufsuchen, und dann können Sie überallhin geraten: Blumentöpfe drechseln, Holz fällen, Balken laden, Gräben ausheben – die werden selbst zu dieser Jahrezeit ausgehoben, und der November ist für derlei Arbeiten eine miserable Zeit, besonders für einen, der darin keine Erfahrung hat. Und ich glaube nicht, daß estnische Juristen die haben. In diesen Fall wurden Sie sich da eine Verpflegungsnorm erarbeiten, die nicht im entferntesten ausreichen würde. Bevor aber die Briefe von hier zu Hause ankommen und von dort die ersten Verpflegungspakete hier eintreffen, kann schon mal ein halbes Jahr verstreichen. So sieht das aus. Einer solchen Arbeit kann man aus dem Wege gehen, wenn man die Kapos besticht. Mit Gegenständen, Geld – egal womit. Aber das sind vollgesogene Herren, hauptsächlich aus den Reihen der Kriminellen, für die Sie kaum etwas begehrenswertes haben werden. Und selbst wenn Sie etwas hätten, vielleicht würden Sie sich ja auch weigern. Was ich Ihnen also sagen will: Für Sie als Esten gibt es da wahrscheinlich einen besseren Weg, an eine akzeptable Arbeit heranzukommen. Schauen Sie, gerade hier in Knjaschpogost befindet sich die Leitung dieses ganzen großen Lagerdistrikts. Und bei der Leitung gibt es ein Konstruktionsbüro. Ein Dutzend Ingenieure, ferner Konstrukteure, Techniker, Zeichner, Abschreiber. Stellvertretender Chefingenieur, und insgeheim wirklicher Chefingenieur, ist dort ein Landsmann von Ihnen. Ihr Zemljak [russ.: Landsmann]. Jakow Pawlowitsch Kanter. Der Mann ist in Ordnung. Wenn er dem Hauptkapo einen Zettel gibt, wo steht, daß er Sie braucht, sind Sie unverzüglich in seinem Büro.“
„Und was fängt er da mit mir an? Ich bin doch weder Ingenieur noch Konstrukteur noch…“
„Das Büro hat hundert Leute, da sind allemöglichen…“ sagte der Doktor.
Ich sagte (um meine aufkeimende Hoffnung zu dämpfen und aus einem unerklärlichen Trotz heraus): „Naja, meine Zermljaken werden in einer solchen Angelegenheit wohl nicht sonderlich großzügig sein…“
Und plötzlich stimmte mir Doktor Kačanauskas in meinem Zweifel dermaßen zu, wie ich es nun überhaupt nicht gewünscht hatte: „Da haben Sie, verzeihen Sie, leider Recht. Das ist mir auch aufgefallen: was gegenseitige Hilfe anbetrifft, sind die Esten unglaublich passiv. Die Juden zum Beispiel sind hundertmal eifriger, für sie ist das eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube, da selbst meine Litauer den Esten in dieser Sache etwas voraus haben. Aber erlauben Sie mir zu sagen: die Lage hier ist ernster, als Sie glauben. Und deswegen sollten Sie es trotzdem mit dem Genossen Kanter versuchen. Er ist auch ein – estnischer Pedant. Aber er tut, was er seiner Meinung nach tun kann.“
Ich sagte: „Doktor Kačanauskas, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und ich verspreche Ihnen, – ich werde mal sehen…“ Er antwortete fast böse: „Hören Sie mal gut zu, Genosse Mirk, zum Sehen bleibt hier keine Zeit. Ich schlage Ihnen folgendes vor: ich schicke meine Diensthabenden sofort in die 27. Baracke. Kanter ist in fünf Minuten hier, und dann ist der Kontakt hergestellt.“
Ich sagte: „Naja, wenn der heilige Nepomuk die Dinge tatsächlich so arrangiert hat und solchen Nepotismus gutheißt…“
Fünf Minuten später trat Herr Kanter in die Kammer des Doktors. Er war ein kleiner, breitschultriger Mann um die fünfzig. Womöglich noch deutlicher als der Doktor ein Elitegefangener. Er hatte einen auffallend großen Kopf, früh ergraute kurze Haare, ein längliches rötliches Gesicht, einen kleinen, feingestutzten Schnurrbart aber einen kleinen Mund und aufmerksame blaue Augen. Dem ersten Eindruck nach schien er ein offenherziger und wohlerzogener Mann zu sein, aber ganz bestimmt auch das, was der Doktor gesagt hatte – ein Pedant.
Der Doktor machte uns miteinander bekannt, erläuterte dem Chefingenieur, warum er ihn noch vor Arbeitsbeginn hat herrufen lassen und sagte dann:
„Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich muß mich um meine Kranken kümmern.“
Der Doktor ging ins Wartezimmer und zog die Tür hinter sich zu. 

„Nun“, sagte Genosse Kanter, „also – was können Sie?“
„Tja – ich könnte für das Konstruktionsbüro eine Hausordnung anfertigen – wenn sie jemand ins Russische übersetzt. Oder für das Büro allgemein oder für die dort Arbeitenden speziell Gedichte für besondere Anlässe. In unbegrenztem Ausmaße. Immer allerdings für den Fall, daß sie jemand ins Russische übersetzt – “
Ich sah an Kanters kaum merklichem, säuerlichen Schmunzeln, daß ihm mein Geschwätz überhaupt nicht gefiel. Also sagte ich: „Vermutlich kann ich nichts, was in einem Konstruktionsbüro gebraucht würde. Aber – möglicherweise könnte ich irgendeine nützliche Fertigkeit, vielleicht eine von den einfacheren – na, sagen wir, ziemlich schnell erlernen – “
„Können Sie eine technische Zeichnung lesen?“
„Zur Zeit, muß ich sagen – nein, Aber wenn mich jemand anleitete, dann – dann könnte ich es wohl nächste Woche.“
„Hm, ja – “, sagte Kanter freundlich, aber bedauernd.
„Wir haben hier zwei Leningrader, die fast perfekt technische Zeichnungen lesen können, aber die sind bei der Waldarbeit. Im Büro muß man schnell und fehlerfrei lesen können.“
„Na, in diesem Fall ist es ja nur verständlich, daß…“ wollte ich sagen, denn es war mir schon ein wenig peinlich und wurde mir immer peinlicher. „Aber mit Reißfeder und Zirkul [Kross benutzt hier das russ. ‚tsirkul’ anstelle des estn. ‚sirkel’] können Sie doch umgehen?“
Ich antwortete: „Nur ziemlich stümperhaft, soviel, wie einem im Gymnasium beigebracht wurde.“ Und gleichzeitig fragte ich mich, wieso dieser – wie der Doktor ihn pries – ‚sehr qualifizierte Ingenieur’ auf so ungebildete Weise Zirkul sagte und wieso er Reißfeder auf dem langen ‚e’ betonte. Wieso sprach er die erste Silbe so befremdlich leicht aus? [Die Betonung ist im Estn. im allgemeinen auf der ersten Silbe.] Und da begriff ich: Kanter sprach ein völlig tadelloses Estnisch, man könnte sagen, völlig akzentfrei. Aber trotzdem hatte seine Aussprache in der Betonung eine kaum merkbare Abweichung. Und beim ‚Zirkul’ merkte ich es dann, wie meistens bei fremdsprachlichen Formen, dieser Mann mußte ein Rußlandeste sein.
Ich fragte: „Sie – Sie sind wohl nicht von der Tallinner Technischen Hochschule?“
„Nein. Ich war zuerst an Kaiserlichen Technologischen Institut in Petersburg. Aber mein Examen habe ich schon in Petrograd gemacht, und bereits ohne Kaiser.“

„Und danach haben Sie in Rußland gearbeitet?“ Ich fragte das in erster Linie, um zu vermeiden, daß er weiterhin hoffnungslose Fragen über meine Fähigkeiten stellte, und auch – das gebe ich zu – um mich zu distanzieren. Im Jahre 1947 war ein Rußlandeste für mich doch nur in sehr fragwürdiger Hinsicht ein ‚Zemljak’. Diese Vertrauenspersonen, die kaum die Sprache beherrschten und dauernd nach Wörtern suchen mußten, und die sich mit ebenso unsicherem wie mißtrauischem Gesichtsausdruck nach dem Krieg an der Universität vom Lehrstuhl bis in die Kader- und Spezialabteilungen, und im täglichen Leben vom Exekutivkomitee und der Miliz bis in die Hausverwaltungen hinein breitgemacht hatten, jene Vertrauenspersonen riefen in mir ein Gefühl hervor, das ebenso gespalten war, wie sie sich selbst fühlten: zwischen Mitleid und Wachsamkeit. Jedenfalls war unsere Lebensweise so verschieden – die der heimischen Esten auf ihrer Seite der Grenze, und die der Rußlandesten auf der anderen Seite – , daß eine gegenseitige Entfremdung unumgänglich war. Auf beiden Seiten war ganz widersinniges Zeug über die andere Seite gedruckt worden. In Estland hatten hungernde Kinder angeblich in den Mülltonnen nach Nahrung gesucht. In Rußland sei dem „Päevaleht“ [„Tageblatt“, führende Zeitung im bürgerlichen Estland] zufolge in den großen Prozessen von 1937 zutagegekommen, daß Männer, die vor 15 Jahren den Geist der proletarischen Weltrevolution verkörperten, nun plötzlich geheime Feinde, Verräter und Auslandsagenten waren, die eigenhändig Glassplitter in die Butter gemischt hatten, die man den Arbeitern verkaufte… Vor zehn Jahren wurden bei uns lauter solche Geschichten über Rußland geschrieben. Und kein Wort darüber, daß diese von der anderen Seite vielleicht dementiert und als Verleumdung betrachtet wurden, was ja immerhin logisch gewesen wäre, wenn es Lügen waren. Also mußte man folgern, daß sie hinreichend der Wahrheit entsprachen. Dann aber mußte man weiterfragen: wer war denn da nun wahnsinnig – die Gerichte oder die, die vor ihnen standen? Und man kam um den Schluß nicht herum, daß es wohl die Gerichte sein mußten. Denn wären die Gerichte normal gewesen und die zu Richtenden folglich wahnsinnig, dann hätte man diese massenhafte Erschießung der Beschuldigten, d.h. der Wahnsinnigen, ja nicht zugelassen. Und die Rußlandesten hatten eben inmitten dieses Wahnsinns gelebt, in einer Atmosphäre beklemmenden Mißtrauens, das dieser Wahnsinn hervorgebracht hatte und besonders die Minderheiten an der Westgrenze erfaßt zu haben schien. Menschen also, die sowas mitgemacht hatten, erschienen mir nach den ersten Beobachtungen, und dann bald prinzipiell irgendwie fragwürdig; sie waren ausweichender, unbestimmter, hatten einen unsichereren Blick als andere. Besonders, wenn sie einem weiszumachen versuchten (und nach meinen Erfahrungen versuchten sie das immer), daß das, was in ihrem Land geschehen war und immer noch geschah, in der Tat richtig und gut war – in den Berichten einfacher Menschen schlicht ‚richtig und gut’, bei etwas differenzierter denkenden Menschen ‚vielleicht nicht immer angenehm im kleinbürgerlichen Sinne, aber, im größeren, allgemeinen Maßstab gesehen, doch richtig’. –
„Ja“ sagte Genosse Kanter, „ich habe zuerst in Rußland gearbeitet, dann in Deutschland, dann in Italien und dann wieder in Rußland. Bis 1937 – sagt Ihnen das was?“
Ich nickte: „Klar – “, und das war es auch. Das heißt die Unklarheit der Sache war mir klar. Ich sagte deshalb nicht: Klar, denn dann waren Sie ein fertiger Verräter und deutscher oder Italienischer, oder beider Länder, Agent und Spion. Ich brummte einfach ‚klar’ und war still. Denn in einen so komplizierten Fall war es klüger, den Mund zu halten. Ich wollte gerade aufstehen und sagen: Genosse Kanter, ich danke Ihnen für Ihr wohlwollendes Interesse. Und – es ist ja logisch, daß die zwei Männer, die hier Waldarbeiten ausführen, aber eigentlich in ihren Büro arbeiten konnten, den Vortritt haben. Ordnen Sie mich also in der Reihenfolge hinter Ihnen ein.
Aber Kanter winkte ab und fragte:
„Verstehen Sie was von technischer Schrift?“
„Wie meinen Sie ‚verstehen’?“
„Na, können Sie mit Tusche technische Schrift schreiben? Standardschrift?“
Das war ein merkwürdiger Augenblick. Irgendwie brachte er es nicht übers Herz, mich gehenzulassen. Und ich wagte meinerseits nicht zu sagen: Das kann ich. Schon deswegen nicht, weil ich mich gleich, oder eine halbe Stunde später oder am nächsten Tag als Schwindler erwiesen hätte.
„Nein, kann ich nicht.“
„Tja – “, er dachte ein wenig nach, und ich wollte erneut aufstehen.
Er fragte: „Sie sind also aus Tartu…?“
„Ja, da habe ich studiert und auch eine kurze Zeit gearbeitet. Solange man mich eben ließ. Aber eigentlich stamme ich aus Tallinn.“
„Ach, verzeihen Sie, der Doktor hatte uns zwar miteinander bekanntgemacht, aber – wie war doch gleich ihr Name?“
„Peeter Mirk.“
„Mirk? Aus Tallinn?“
„Ja.“
„Und wo haben Sie da in Tallinn gewohnt?“
Was sollte diese Frage wohl bezwecken? War dieser Mann je in Tallinn gewesen? Wohl kaum, Aber andererseits hatte ich keinen Grund, ihm die Antwort schuldig zu bleiben, und sagte:
„In Kalamaja, wenn Ihnen das etwas sagt. Ein Vorort im Nordwesten Tallinns, da wo Voskers Maschinenfabrik ist. Mein Vater hat bei Vesker gearbeitet – “
Kanter schaute mich plötzlich mit knabenhafter Lebhaftigkeit an:
„Und Sie haben da gewohnt, bei der Gießerei vorbei, die kleine Querstraße nach rechts, in Hause der Veskerschen Bediensteten? Erdgeschoß links, da wohnten Sie doch?“

Ich war vor Überraschung sprachlos und begriff nichts mehr. Eine ganze Weile lang total sprachlos. Zugleich schossen mir abwechselnd zwei Reihen von Namen durch den Kopf: Die von Hellsehern und die von Kriminalisten. Svedenberg – Sherlock Holmes – Madame Blavatsky – die Hexe von Äksi – und vielleicht der etwas müde Major Sidorow, wenn er als Verkörperung seiner Kollegen damals schon existierte. Woher, verdammt noch mal, wußte Kanter das?
Mit dem Schmunzeln eines Meisters der Schwarzen Kunst genoß er – mir schien, eine volle Minute lang – meine Verwirrung und erklärte dann:
„Schauen Sie, mit uns verhielt sich das folgendermaßen: 1921 beschlossen wir – ich und meine damalige Frau, sie ist schon lange tot – , von Petrograd nach Estland überzusiedeln. Damals war ein solcher Gedanke, von hier aus betrachtet, noch keineswegs Vaterlandsverrat. Und von dort aus betrachtet, wären wir auch keine richtigen Emigranten gewesen, nicht wahr. Ich war ja von Geburt Pärnuer. Ich wurde auch von meinem Arbeitsplatz freigestellt, und unsere Papiere waren von beiden Seiten her in Ordnung. Das war zu jener Zeit ziemlich einfach. Wir waren zu zweit, Kinder hatten wir keine. Dann aber stellte sich heraus, daß das Theater meine Frau – sie war Tänzerin im Ballett des Marientheaters nicht freigab. Lopuchow selbst bat sie, noch bis zum Ende der Saison zu tanzen. Also beschlossen wir, daß ich schon nach Estland vorausfahre und mir in Tallinn eine Stelle suche, eine Wohnung nehme und mich ein bißchen einlebe, ehe meine Frau dann in Frühjahr nachkommen würde. In Herbst 1921 fuhr ich also nach Tallinn. Bei Vesker fand ich eine Stelle als Ingenieur. Und dort arbeitete ich mit Ihrem Vater zusammen, wir reparierten Lokomotiven der Marke OB für die Eisenbahn der Russischen Föderation. Dann aber, im Herbst 1922, stellte sich heraus, da meine Frau doch nicht vom Theater freikam. Also fuhr ich nach Petrograd zurück. Als ich mit Ihrem Vater arbeitete, war ich oft bei Ihnen, manchmal in Arbeitsangelegenheiten, manchmal zum Schachspielen. Ich erinnere mich an Sie, Sie waren anderthalb und so groß“ – er zeigte mit den Händen, wie gros, etwas tiefer als Doktor Kačanauskas’ Arbeitstisch. Dann klopfte er mit den Fingerspitzen auf seine rauhen schwarzen Kaliko-Lagerhosen: „Hier auf meinen Knien haben Sie gesessen, viele Male.“
Ich konnte überhaupt nichts mehr sagen. Er fuhr fort: „Aber jetzt bin ich in Eile, um dreiviertel sieben verlassen wir mit dem Konvoi das Gelände. Sie bleiben zunächst drinnen. Ich hinterlasse bei der Hauptwache einen Zettel über Sie. Um sechs bin ich zurück, suchen Sie mich dann in der Baracke Nr. 27 auf. Ich habe dann das notwendige Zeug für Sie dabei: Papier, Reißfedern, Tusche. Die darf ich auf dem Lagergebiet eigentlich nicht bei mir haben, aber ich nehme sie mit. Üben Sie. Wenn es woanders keinen Platz gibt, dann eben hier. Ich mache das mit dem Doktor ab. Üben Sie die GOST-gemäße Schrift, so gut Sie können. Sie haben einen Abend, zwei Nächte und einen Tag Zeit. Donnerstag früh gehen wir ins Büro. Auf Wiedersehen. Und frohes Schaffen! Ach, übrigens: wie steht's um Ihren Vater?“
„Gestorben.“
„Wann?“
„Letztes Jahr.“
„Wo?“
„In Mordwinien.“
„Ach.“ Er schwieg einen Augenblick. „Na, nochmals, frohes Schaffen! Ich hoffe, Sie kriegen eine gute Schrift hin.“
Er lächelte ein wenig schuldbewußt darüber, daß er anspruchsvoll sein mußte, und ging hinaus. Ich holte tief Luft und dachte: er soll seine Schrift bekommen. Und weiter dachte ich, denke es gewissermaßen heute noch: es gibt auf der Welt eine gewisse Zufallsebene, die beweist, daß der Große Aschenbecherherr existiert.

von Jaan Kross, 1983-1986


aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt




Und noch eine schöne Geschichte – ohne Weihnachtsbezug: