Donnerstag, 14. Januar 2016

»Unwort des Jahres« – Die Lufthoheit über meinem Gehirn

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Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ist ein Essay des Philosophen Immanuel Kant aus dem Jahr 1784. In diesem in der Dezember-Nummer der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Beitrag ging Immanuel Kant auf die Frage des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner „Was ist Aufklärung?“ ein, die ein Jahr zuvor in derselben Zeitung erschien. Kant lieferte in diesem Aufsatz seine bis heute klassische Definition der Aufklärung. (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Wikipedia) 
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Einleitung, Wikipedia) 
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Der Begriff Unwort ist ein Schlagwort aus dem Bereich der Sprachkritik und bezeichnet ein „unschönes“, aber auch ein „unerwünschtes“ Wort.[1] (Unwort, Wikipedia)

Die sprachkritische Aktion Unwort des Jahres wurde in Deutschland 1991 von Horst Dieter Schlosser ins Leben gerufen. Bis 1994 wurde das „Unwort des Jahres“ im Rahmen der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) gewählt. Nach einem Konflikt mit dem Vorstand der GfdS machte sich die Jury als „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ selbstständig.[1][2] (Unwort des Jahres (Deutschland), Wikipedia)
Die Aktion „möchte auf öffentliche Formen des Sprachgebrauchs aufmerksam machen und dadurch das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. Sie lenkt daher den sprachkritischen Blick auf Wörter und Formulierungen in allen Feldern der öffentlichen Kommunikation, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen.“ Die Benennung der Unwörter des Jahres soll „in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion“ dienen.[3] […]
 „Unwortverdächtig“ sind Wörter oder Formulierungen, die beispielsweise[3]
  • gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen (z. B. Geschwätz des Augenblicks für Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche),
  • gegen Prinzipien der Demokratie verstoßen (z. B. alternativlos als Haltung/Position in der politischen Diskussion, um eine solche zu vermeiden und sich der Argumentationspflicht zu entziehen),
  • einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren (z. B. durch unangemessene Vereinfachung oder Pauschalverurteilung, wie etwa Wohlstandsmüll als Umschreibung für arbeitsunwillige ebenso wie arbeitsunfähige Menschen),
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- Manipulation des Jahres (Michael Paulwitz, junge Welt, 12.01.2016)
Wenn alle Jahre wieder ein „Unwort des Jahres“ ausgerufen wird, geht es, wie beim „Wort des Jahres“, nicht um Sprache, sondern um Herrschaft. Wer sich das ins Gedächtnis ruft, wundert sich auch nicht mehr über die mehr oder minder obskuren Entscheidungen, die eine wenig durchsichtige Jury da regelmäßig ausklüngelt: Es geht darum, anderen die Wortwahl vorzuschreiben, mit anderen Worten: um Politik, denn Sprachmanipulation ist ein gewaltiges Herrschaftsinstrument.

„Gutmensch“ soll nun also das Unwort des Jahres 2015 sein. Obwohl man es im abgelaufenen Chaos-Jahr eigentlich kaum noch zu hören bekommen hat. Aber die Jury hört das Gras wachsen: Als „Gutmenschen“ würden „diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen“. Mit dem „Gutmenschen“-Vorwurf würden „Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert“.
mein Kommentar:
In der systemischen Psychotherapie gibt es den Begriff des »Reframing«. Durch diesen therapeutischen »Kunstgriff« wird eine Handlung oder eine sprachliche Äußerung vor einen anderen Hintergrund gestellt und erhält so eine neue Bedeutung.


In den Jahren 
- 1994 ( »Peanuts« – abschätziger Bankerjargonismus; Hilmar Kopper), 
- 1995 (»Diätenanpassung«Beschönigung der Diätenerhöhung im Bundestag) und 
- 1998 (»Kollateralschaden«Verharmlosung der Tötung Unschuldiger als Nebensächlichkeit; NATO-offizieller Terminus im Kosovokrieg
und besonders
- 2008 (»notleidende Banken«Der Begriff stelle das Verhältnis von Ursachen und Folgen der Weltwirtschaftskrise auf den Kopf. Während die Volkswirtschaften in ärgste Bedrängnis geraten seien und die Steuerzahler Milliardenkredite mittragen müssten, würden die Banken, durch deren Finanzpolitik die Krise verursacht worden sei, zu Opfern stilisiert.[24])
- 2009 (»betriebsratverseucht«Die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen störe zwar viele Unternehmen; Betriebsräte als Seuche zu bezeichnen, sei indes „ein sprachlicher Tiefpunkt im Umgang mit Lohnabhängigen“.[21] (bekannt wurde der Begriff durch seine Verwendung in der ARD. Nach Angaben eines Mitarbeiters der Baumarktkette Bauhaus wird er von Abteilungsleitern der Baumarktkette gebraucht, wenn Mitarbeiter aus einer der drei Filialen mit einem Betriebsrat in eine ohne wechseln wollen)[22][23])
- 2010 (»alternativlos« Das Wort suggeriere sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art seien 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohten, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.[20])
wurde mit der Wahl des Unwortes des Jahres vor allem eine Form von Herrschafts- oder Machtausübung kritisiert: Die Verwendung des Unwortes wurde mit der Wahl zum »Unwort des Jahres« somit als der Legitimierung dienendes Instrument einer Machtausübung gebrandmarkt.
Wenn man sich aber den zeitlichen Verlauf der gewählten Worte ansieht, nimmt man eine Veränderung wahr. Ich behaupte, daß sich über die Jahre die Perspektive änderte. Von der Kritik hin zum Instrument der Machtausübung.
Besonders deutlich wird dies bei der Wahl 2014: »Lügenpresse«
Die Tatsache, dass die sprachgeschichtliche Aufladung des Ausdrucks (Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus) einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen, die ihn gezielt einsetzen.[14]

siehe auch:
- Unwort des Jahres 2015: Qualitätsjournalismus? (Gunnar Kaiser, Neopresse, 13.02.2015)
- "Gutmensch" - eine billige Wahl (Ulrich Kühn, NDR, 12.01.2016)
Als 'Gutmenschen' wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen", sagte die Sprecherin der "Unwort"-Jury, die Sprachwissenschaftlerin Nina Janich, bei der Präsentation am Dienstag in Darmstadt. Mit dem Vorwurf "Gutmensch", "Gutbürger" oder "Gutmenschentum" würden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.

Der Begriff "Gutmensch" floriere dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern werde auch von Journalisten in Leitmedien als Pauschalkritik an einem "Konformismus des Guten" benutzt, so die Jury. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindere somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten. […]
Die institutionell unabhängige und ehrenamtlich arbeitende Jury besteht aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten und wird in diesem Jahr vom Kabarettisten Georg Schramm ergänzt. Sie entscheidet unabhängig und richtet sich nicht danach, welcher Begriff am häufigsten vorgeschlagen wurde.  
 (Mehr als 650 Vorschläge – "Gutmensch" ist das "Unwort des Jahres", SWR Fernsehen, )

Mein Kommentar:
Nirgendwo habe ich bei meinen Recherchen im Internet von der Titulierung ehrenamtlicher Helfer als »Gutmenschen« etwas mitbekommen. Was ich aber in den vergangenen Jahren mitbekommen habe, war, wie man hierzulande mit Leuten wie Thilo Sarrazin umzugehen pflegt:
- Sarrazin und die Rhetorik – Endlich sagt's mal einer (Andrian Keye, Süddeutsche Zeitung, 03.09.2010, Hervorhebung von mir)
Die Grundlage derartiger Suggestionen ist entweder eine enzyklopädisch-eklektische Ideensammlung oder die eigene Erfahrung. Aus den eigenen Erfahrungen an den Frontlinien der Integrationsproblematik hat beispielsweise die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ihr Buch "Das Ende der Geduld - Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter" gemacht, das in dieser Woche auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste steht, auf der Sarrazin den zweiten Platz belegt. Auch Heisig wurde eine rechts-autoritäre Position vorgeworfen, da sie einen harten Umgang mit straffälligen Jugendlichen vor allem in den Einwanderergemeinden der Republik forderte. Weil sie ihre Schlussfolgerungen jedoch mit einer so geballten Empirie untermauerte, gilt ihr Urteil als unanfechtbar. Und wie Sarrazin sprach sie eine diffuse Angst in Deutschland an, die hier eine Antwort findet.
- Sloterdijk wirft Sarrazin-Kritikern Opportunismus vor (Die Welt, 20.10.2009)
- Ein Käfig voller Feiglinge (Peter Sloterdijk, Cicero, 21.01.2009)
Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandende Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen, ging die ganze Szene der deutschen Berufsempörer auf die Barrikaden, um ihm zu signalisieren: Solche Deutlichkeiten sind unerwünscht. Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen. Sobald einmal ein scharfes Wort aus einem anderen Narrenkäfig laut wird, bricht auf der Stelle eine abgekartete Gruppendynamik los.
dazu auch:- Sarrazin und Sloterdijk (Reinhard Jellen, Interview mit Michael Wendl, Telepolis, 08.09.2010)
Wenn man 4 Millionen Arbeitslose hat, aber nur eine Million offene Stellen, können drei Millionen machen, was sie wollen. Sie bekommen keine Beschäftigung. Sarrazin beschreibt das ganz treffend, dass sich z.B. niedrigqualifizierte Leute mit schlechten Sprachkenntnissen in diesem System einrichten müssen. So gesehen ist das Buch eine unbeabsichtigte massive Kritik an Hartz IV, denn es zeigt klar auf, zu was dieses Blutbad auf dem Arbeitsmarkt geführt hat. Ich würde heute einen Text zu Sarrazin mit der Überschrift aufmachen: "SPD schließt Hartz IV-Kritiker aus!" Das ist das Tragische, dass Sarrazin nicht merkt, dass sein Text eine massive Kritik der Folgen der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik 2003 bis 2006 darstellt.
- Propaganda der Ungleichheit: Sarrazin, Sloterdijk und die neue "bürgerliche Koalition" (Albrecht von Lucke, Blätter für deutsche und internationale Politik, Dezember 2009)
Umso mehr wird in Zeiten knapper Kassen die Ideologie leisten müssen, was die Wirtschaft allein nicht zu leisten vermag: die Legitimierung einer Politik der sozialen Grausamkeiten. Die kulturelle Sphäre, der Kampf um die kulturelle Deutungsmacht in der Republik, dürfte damit zum Hauptschlachtfeld werden. Da trifft es sich gut, dass sich Schwarz-Gelb im Kreise der Meinungsführer und Deutungsexperten längst auf beflissene Intellektuelle verlassen kann, die bereitwillig einspringen, um für den fehlenden geistigen Überbau zu sorgen. Es ist gewiss kein Zufall, dass just zu dem Zeitpunkt, wo wir in eine neue Phase der Republik eintreten und die neue Regierung hochgradig sinnstiftungsbedürftig ist, sich zahlreiche „Geistesschaffende“ anheischig machen, sich zu Stichwortgebern der neuen „bürgerlichen Koalition“ aufzuschwingen. Damit stoßen sie dezidiert in jenes ideelle Vakuum, das nach dem Ende von Rot-Grün als dem vorerst letzten koalitionspolitischen Projekt in diesem Lande entstanden ist.

An die Spitze dieser „Bewegung“ setzten sich, in bemerkenswertem Gleichklang, vor allem zwei: Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk. Während Thilo Sarrazin mit seinem neoliberalen „Eliten-Rassismus“ (Gerd Wiegel), gespickt mit explizit NPD-kompatiblen Sätzen,1 die vulgären Ressentiments all derer anspricht, die schon lange mit ihrer Meinung zu den „ständig neuen kleinen Kopftuchmädchen“ (O-Ton Sarrazin) nicht mehr hinter dem Berg halten wollen, gibt Sloterdijk den Sarrazin des Bildungsbürgers.

In der November-Ausgabe des Politik-Magazins „Cicero“ veröffentlichte er ein „Bürgerliches Manifest“, in dem er sich ausdrücklich auf Sarrazin bezieht und dessen Kritikern Opportunismus vorwirft.2 „Unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung“ habe man sich „in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert.“ Auf das Aussprechen der Wahrheit, dass nämlich Sarrazin lediglich „Integrationsschwierigkeiten von türkischen und arabischen Teilen der Bevölkerung angemerkt“ habe, stünde „die Höchststrafe: Existenzvernichtung“. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, schreibt Sloterdijk, dass fast alle, die öffentlich das Wort ergreifen, „geradewegs aus dem Desinfektionsbad“ kämen. Man möchte meinen, „die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene“ habe „sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen“.