Donnerstag, 21. November 2019

Depression, Hirnchemie, Einbildung und Placebos

Antidepressiva offenbar nicht – Neue Untersuchung spricht von Placebo-Effekten, Studienautor Reinhard Maß findet die Idee, Tabletten könnten helfen, gar "absurd"

Deutschland wird immer depressiver. Jährlich erkranken hierzulande deutlich mehr als fünf Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression; die Zahl der Behandlungsfälle hat sich seit der Jahrtausendwende damit mehr als verdoppelt. Frauen trifft es häufiger als Männer, immer öfter sind Kinder und Jugendliche unter den psychisch Erkrankten. 2016 zum Beispiel wurden allein 15.446 Kinder und Jugendliche wegen einer Depression stationär in einem Krankenhaus behandelt.
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Wunderwaffe Anti-Depressiva?
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Neben der gedrückten Grundstimmung leiden depressive Menschen meist an einer ausgeprägten Antriebsstörung. Sie kämpfen gegen einen als bleiern empfundenen Zustand, die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen. Sie berichten von Konzentrationsstörungen, zum verminderten Antrieb addieren sich Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Nach den "Nationalen Versorgungsleitlinien Depression" sind Antidepressiva und Psychotherapie die wichtigsten Säulen bei der Behandlung.

Die 2008 gegründete Nationale Depressionshilfe bezeichnet die – nicht nur hierzulande – massiv eingesetzten Antidepressiva auf seiner Homepage als wirkungsvolle Hilfe im Kampf gegen die stille Krankheit. Im Deutschlandbarometer der Stiftung, die sich selbst als "pharma-unabhängig" bezeichnet, heißt es: "Antidepressiva (…) wirken gezielt gegen die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn."

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"Absurde Idee"
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Genau das bestreitet nun der Psychologe Professor Reinhard Maß vom Klinikum Oberberg (Zentrum für seelische Gesundheit Marienheide). Er hat gemeinsam mit vier Co-Autoren eine breit angelegte Studie vorgelegt, veröffentlicht in "Comprehensive Psychiatry". Es geht um Placebo-Effekte in der Psychiatrie.

Maß und sein Autorenteam kommen zu dem Schluss: Nur wer an die Wirkung von Antidepressiva glaubt, darf von ihnen Linderung erwarten. Über den Placebo-Effekt hinaus hätten die Pillen auf eine Depression nach ihren Untersuchungen vermutlich keinen Einfluss. Für die Erhebung wurden 574 Frauen und Männer über fünf Jahre (2012 bis 2017) psychotherapeutisch begleitet und befragt. Dabei machten die Probanden detaillierte Angaben zum Grad ihrer Traurigkeit, zu den Themen Schuldgefühle, Schlafgewohnheiten, Suizidgedanken, Sexualität. Psychologe Maß ist sich sicher: "Je mehr man verstanden hat, welche Lebensumstände eine Depression verursacht haben, desto absurder erscheint die Idee, Tabletten könnten helfen."

Auf der Spurensuche nach der Wirkung der umfänglich eingesetzten Antidepressiva hatte es bereits zu früheren Zeitpunkten Metaanalysen gegeben, die eigentlich bereits Hinweise lieferten. So ist durchaus bekannt: Viel ärztliche Zuwendung plus Placebo wirken so gut wie das "echte" Medikament, so meinte unlängst beispielsweise Winfried Rief, Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg.

mehr:
- Was hilft bei Depression? (Arno Kleinebeckel, Telepolis, 21.11.2019)
siehe auch:
Ist die Psychopharmakologie verrückt geworden? – Kapitalismus-infizierte Wissenschaft (Post, 31.01.2016)
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[Wirklichkeit, Wikiquote, abgerufen am 22.11.2019]
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  • "Die beste Universalmedizin gegen die Torheit ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Tätigkeit und seines Standes: Dann wird er seine Begriffe in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bringen." - Baltasar Gracián y Morales, Handorakel oder Kunst der Weltklugheit
[Wirklichkeit, Wikiquote, abgerufen am 22.11.2019]

Für einen Zauberer, sagte er, sei die Welt des alltäglichen Lebens nicht wirklich oder so, wie wir dies annehmen. Für einen Zauberer sei die Wirklichkeit oder die Welt, die wir alle kennen, nur eine Beschreibung. […]  Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird.

Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen. Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluß von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben.

Die Vorstellung, daß die Wahrnehmungsinterpretationen, welche die Welt konstituieren, im Fluß begriffen sind, stimmt mit der Tatsache überein, daß sie ununterbrochen stattfinden und selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt werden. Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, daß die Grundprämisse der Zauberei, nämlich daß unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden

[Carlos Castaneda, Reise nach Ixtlan, Fischer TB 1975, S. 8f – Hervorhebung von mir]
»Es ist falsch zu sagen: Ich denke;
man müßte sagen: Es denkt mich. […]
Ich ist ein anderer

Arthur Rimbaud (1979, S. 12)

[Makari, George J., Revolution der Seele, Psychosozial-Verlag 2011, S. 19]