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Von Klaus Hofmeister
Wir leben in Yang-lastigen Zeiten, sagt die Frankfurter Feng-Shui-Beraterin Bettina Kudicke. Und sie meint damit, dass unser Leben aus dem Lot geraten ist, die Harmonie dahin ist. Das Gleichgewicht von Yin und Yang ist ein wichtiges Prinzip der chinesischen Lebenskunst. Die meisten modernen Menschen verstoßen sträflich dagegen, auch wenn die Sehnsucht nach Einheit, nach Einfachheit im Lebensganzen, nach einer Ordnung von innen heraus auch im Westen spürbar ist. Yanglastige Zeiten, damit meint die Innenarchitektin die optische und akustische Reizüberflutung, der wir ausgesetzt sind, den Konsumrausch, die Schnelligkeit, Hektik und den Stress, die Arbeitsverdichtung, den Zwang, alles Mögliche gleichzeitig tun zu müssen. Kurz: Sie meint damit den durchschnittlichen Alltag der meisten Zeitgenossen. Der Gegenpol Yin, der uns hierzulande weithin abgeht, steht für Ruhe, Entspannung, Einfachheit, für das »Weniger ist mehr«, oder, wie der chinesische Weise Lao Tse sagt: »In Einfachheit … liegt Reichtum.« Bettina Kudickes Weg, der Einfachheit eine Chance zu geben, ist die bewusste Raumgestaltung nach den Regeln des Feng Shui.
Manfred dagegen sucht diese Einfachheit dienstagabends auf dem Meditationskissen. Nur Sitzen und Atmen im Stile des buddhistischen Zen. Dreimal 25 Minuten, dazwischen fünf Minuten meditatives Gehen. In völliger Stille und so langsam, dass man kaum vorwärts kommt. Aber darauf kommt es hier ausnahmsweise auch gar nicht an. »Ich bin beruflich jeden Tag angespannt. Für mein Innenleben ist der stressige Job wie eine Zentrifuge. In der Stille sammle ich mich wieder ein. Die Meditation hilft mir, meine Mitte zu stärken.« Auch Elisabeth will zu sich kommen und muss dabei nicht unbedingt ankommen. Obwohl sie auf dem Jakobsweg durch Spanien pilgert. Aber sie geht ihn häppchenweise, jedes Jahr zwei Wochen. Sie ist Anwältin, »nicht religiös im normalen Sinn«. »Aber der Camino, der hat schon was«, strahlt Elisabeth. »Du tust nichts anderes als gehen. So, dass du die Strecke gut schaffst. Einen Schritt nach dem anderen. Die Sonne ist heiß, und der Schweiß fließt, aber: Du musst nur gehen, mehr nicht. Das ist herrlich entspannend.« Elisabeth geht mit einer Freundin, aber sie trennen sich auch über weite Strecken: »Es ist wichtig, sein eigenes Tempo zu gehen.« Im Alltag ist Elisabeth oft fremdbestimmt durch Termine und Pflichten. Auf demJakobsweg findet sie zu sich, zu ihrem Tempo, dort ist sie ganz bei sich und entdeckt Erfüllung in etwas ganz Einfachem: einen Schritt nach dem anderen zu setzen, mehr nicht.
Der erstaunliche Pilgerboom – nicht erst seit Hape Kerkelings Bestseller »Ich bin dann mal weg« – zeigt exemplarisch die Sehnsucht nach ursprünglichen, nicht entfremdeten und nicht schon kommerzialisierten Lebenserfahrungen. Das unmittelbare, einfache Erleben ist gefragt Auch andere Trends stürzen die Beobachtung: Es gibt eine neue Lust am Wandern. Internetseiten zum einfachen Leben, vom Handarbeiten bis zum Barfußlaufen, zeugen ebenfalls davon. Auch die Wiederentdeckung des Fastens gehört dazu. Der Geschmack eines Apfels nach einer Fastenwoche soll selbst durch ein (noch dazu sündhaft teures) Gourmetgericht nicht zu toppen sein.
»Weniger ist mehr«, das ist auch Christiane Thiels Credo. Sie bietet in Berlin ihre Dienste an für »heilsames Aufräumen«. Für Menschen, die nicht loslassen können, die Krimskrams sammeln und angesichts von Zeitungsstapeln, Erinnerungsdöschen, Schubladen voller Strumpfhosen mit Laufmaschen, die sie eines Tages unter langen Hosen tragen möchten, längst dem Chaos die Herrschaft überlassen haben. Dann hilft Christiane Thiel beim Sortieren. Denn: »Dinge sortieren, das heißt immer, sein Leben sortieren.« Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, das, was man liebt, von dem, woran man sich nur gewöhnt hat. Das Hängen an alten Dingen ist meist auch ein innerlicher Zustand, unnütz gefüllte Wohnungen, das Hortenwollen sind in jeder Hinsicht ein Ausweis für »Immobilität«. »Manchmal kann ich den Kunden überzeugen«, erzählt Christiane Thiel augenzwinkernd, »dass er seine Erinnerung behält, auch wenn er jetzt sofort das Streichholz wegwirft, mit dem er eine Kerze entzündet hat, bevor er vor Jahren in einem Hotelzimmer in Venedig ein Kind zeugte …« Sie schafft systematisch Platz, mehr Luft kommt ins Haus. Und wenn die ersten Quadratmeter freier Fußboden wieder zu sehen sind, kann die Energie langsam wieder fließen.
Werner Tiki Küstenmachers Schreibtisch ist aufgeräumt und das Büro wie geleckt. Der gelernte Pastor, Karikaturist und Bestsellerautor ist der Papst der »Weniger-ist-mehr«-Ideologie in Deutschland. Sein Ratgeber »Simplifv your life« ist über zwei Millionen Mal verkauft worden, übersetzt in zwanzig Sprachen. »Die Menschen sind buchstäblich mit schwerem Gepäck unterwegs«, sagt Küstenmacher, »deshalb sind Entrümpeln, Entschlacken, Sich-leichter-Machen ein Megatrend.« Vom Messie bis zum spirituellen Sinnsucher sind Küstenmachers Tipps gefragt. Der »Überdruss am Überfluss« ist meist der Ausgangspunkt, wenn Kunden zu seinem Ratgeber greifen oder den monatlichen Beratungsdienst abonnieren. Küstenmacher ist der Zusammenhang von außen und innen wichtig. Er will helfen, zu sich selbst und damit zum Wesentlichen zu finden. Dabei geht er in einem achtstufigen Modell vom Äußeren zum Inneren vor: Von den vielen »Sachen« über die »Gesundheit« die »Mitmenschen« bis zum »Ich« und zur »Spiritualität«.
15 000 Gegenstände soll ein durchschnittlicher deutscher Haushalt enthalten. Und bei den »Kunden« von Pastor Küstenmacher sind es meist noch mehr. Aber als hätten wir nicht schon genug, kaufen wir weiter. Jedes Jahr mehr. Seit dem Jahr 2000, so meldet das Statistische Bundesamt, ist der private Konsum um zehn Prozent gestiegen. Kaufen soll glücklich machen. Und mehr Kaufen noch glücklicher. Das zumindest suggeriert die Werbung. Der gesunde Menschenverstand und die Glücksforschung haben die Werbung aber schon widerlegt. Ab einem bestimmten Wohlstandsniveau ist das Wohlbefinden durch Wohlstandssteigerung nicht mehr zu beeinflussen. Die für die Hamburger Zeit schreibende Kulturjournalistin Iris Radisch nennt es das Wohlstandsparadox: »Mit steigendem Lebensstandard steigt das Anspruchsniveau an und sinkt die Dauer der durch die Ware gewährten Lusterfüllung. Auf der aussichtslosen Suche nach anhaltendem Warenglück kaufen wir in immer kürzeren Intervallen.« Radisch nennt das eine »wachstumsfördernde Glücksvernichtungslogik« und meint, dass es das Glück nicht ohne eine Umkehr gibt.
Glück und die Wachstumslogik der Industriegesellschaft gehen also offenbar nicht nahtlos zusammen. Obwohl auch die »Weniger-ist-mehr«-Bewegung sich selbst neue Märkte schafft: Nicht nur die verschiedenen Lebensvereinfachungsratgeber zeigen das. Auch Bücher zur »Entschleunigung« des Lebens, zum »Lob der Langsamkeit« und zum »Downsrufting« finden zahlreichen Absatz. Das Credo des Dowtshifting lautet: Wer weniger arbeitet, lebt besser. Henriette Löwisch ist ein Beispiel dafür. Sie war Chefredakteurin der Nachrichtenagentur AFP in Deutschland. Das hohe Arbeitstempo, die Sparzwänge bei gleichzeitig immer weiter wachsender Arbeitsverdichtung führten sie in die Krise.
Sie hat viel verdient, aber vor lauter Arbeit schien sie das eigene Leben zu verpassen. Schon ökonomisch gesehen war alles aus dem Gleichgewicht geraten: die persönlichen Investitionen in ihren Beruf waren hoch, der persönliche Gewinn (außer dem finanziellen) blieb unbefriedigend. Eines Tages standen wichtige Fragen unabweisbar im Raum: »Wo ist der Stern an Deinem Himmel? Was ist Deine Berufung? Was kannst Du gut, und was davon macht Dir Freude?« Sie stieg aus, tauschte Konsummöglichkeiten gegen Seelenfrieden und bildet nach einer Phase der Orientierung heute mit Leib und Seele Journalisten aus.
Menschen, die bewusst leben, sich nach den Werten ihres Lebens und dem Wert des Lebens fragen, nennen die Soziologin »Post-Materialisten«. Es sollen in Deutschland 15 Millionen sein, die zu dieser Gruppe zu zählen sind. Sie entziehen sich soweit möglich dem Druck der selbstausbeuterischen Wohlstandsoptimierung, schalten einen Gang zurück, konsumieren bewusst, schaffen vielleicht den Fernseher ab und achten auf Lebensqualität. Meistens sind es Besserbetuchte, die es sich auch leisten können, so zu leben. Eine auch politisch nennenswerte Bewegung für ein »Weniger ist mehr« – wie seinerzeit die Aussteiger oder die Alternativen – ist derzeit allerdings nicht zu beobachten.
Eher sind zahlreiche Symptome für ein Unwohlsein an der herrschenden Überfluss- und Konsumgesellschaft auszumachen. Etwa die Zeitschrift »Landlust«. Sie ist derzeit Deutschlands Magazin mit der rasantesten Auflagensteigerung: 2006 mit 100 000, 2007 schon mit mehr als 250 000 Käufern. Das Blatt bietet im Hochglanzformat »die schönen Seiten des Landlebens«. Einfaches Naturerleben (»Mit Stock und Stöckchen – Kinder basteln mit Ästen aus dem Wald«), schlichte Küche (»Weißkohl – Der Dinosaurier unter den Gemüsen«), ländliches Wohnen (»Gemütliche Kaminöfen«) bedienen die Sehnsucht nach dem einfachen, dem ursprünglicheren Leben.
Diese Suche nach dem einfacheren Leben, nach dem »Weniger ist mehr« berührt die zentralen Lebensfragen: Warum lebe ich so, wie ich lebe? Gefällt mir das wirklich? Oder wie Iris Radisch formuliert: »Kommt es im Leben auf viel Liebe, viel Urlaub oder auf eine möglichst große Briefmarkensammlung an?« Die Zeit-Autorin plädiert für einen »Verzicht aus Hedonismus«. Glück entsteht nur, wenn die Balance stimmt, wenn Be- und Entlastung im Gleichgewicht sind, wenn Yin und Yang harmonisch ineinandergreifen. Das Einfache schätzen und mit allen Sinnen lebendig verkosten können, sich nicht im Vielerlei verlieren und nicht mit Unwesentlichem zumüllen, diese Lebenskunst muss heute offenbar wieder erlernt werden. Der Minimalismus der Lebenskunst, wie ihn die Alten in italienischen Bergdörfern noch virtuos beherrschen, will wieder geübt sein, oder so, wie ihn der Schriftsteller Milan Kundera beschrieb: Gelassen auf einer Bank in der Sonne sitzen und »dem lieben Gott ins Fenster schauen«. •
Von Klaus Hofmeister
Wir leben in Yang-lastigen Zeiten, sagt die Frankfurter Feng-Shui-Beraterin Bettina Kudicke. Und sie meint damit, dass unser Leben aus dem Lot geraten ist, die Harmonie dahin ist. Das Gleichgewicht von Yin und Yang ist ein wichtiges Prinzip der chinesischen Lebenskunst. Die meisten modernen Menschen verstoßen sträflich dagegen, auch wenn die Sehnsucht nach Einheit, nach Einfachheit im Lebensganzen, nach einer Ordnung von innen heraus auch im Westen spürbar ist. Yanglastige Zeiten, damit meint die Innenarchitektin die optische und akustische Reizüberflutung, der wir ausgesetzt sind, den Konsumrausch, die Schnelligkeit, Hektik und den Stress, die Arbeitsverdichtung, den Zwang, alles Mögliche gleichzeitig tun zu müssen. Kurz: Sie meint damit den durchschnittlichen Alltag der meisten Zeitgenossen. Der Gegenpol Yin, der uns hierzulande weithin abgeht, steht für Ruhe, Entspannung, Einfachheit, für das »Weniger ist mehr«, oder, wie der chinesische Weise Lao Tse sagt: »In Einfachheit … liegt Reichtum.« Bettina Kudickes Weg, der Einfachheit eine Chance zu geben, ist die bewusste Raumgestaltung nach den Regeln des Feng Shui.
Manfred dagegen sucht diese Einfachheit dienstagabends auf dem Meditationskissen. Nur Sitzen und Atmen im Stile des buddhistischen Zen. Dreimal 25 Minuten, dazwischen fünf Minuten meditatives Gehen. In völliger Stille und so langsam, dass man kaum vorwärts kommt. Aber darauf kommt es hier ausnahmsweise auch gar nicht an. »Ich bin beruflich jeden Tag angespannt. Für mein Innenleben ist der stressige Job wie eine Zentrifuge. In der Stille sammle ich mich wieder ein. Die Meditation hilft mir, meine Mitte zu stärken.« Auch Elisabeth will zu sich kommen und muss dabei nicht unbedingt ankommen. Obwohl sie auf dem Jakobsweg durch Spanien pilgert. Aber sie geht ihn häppchenweise, jedes Jahr zwei Wochen. Sie ist Anwältin, »nicht religiös im normalen Sinn«. »Aber der Camino, der hat schon was«, strahlt Elisabeth. »Du tust nichts anderes als gehen. So, dass du die Strecke gut schaffst. Einen Schritt nach dem anderen. Die Sonne ist heiß, und der Schweiß fließt, aber: Du musst nur gehen, mehr nicht. Das ist herrlich entspannend.« Elisabeth geht mit einer Freundin, aber sie trennen sich auch über weite Strecken: »Es ist wichtig, sein eigenes Tempo zu gehen.« Im Alltag ist Elisabeth oft fremdbestimmt durch Termine und Pflichten. Auf demJakobsweg findet sie zu sich, zu ihrem Tempo, dort ist sie ganz bei sich und entdeckt Erfüllung in etwas ganz Einfachem: einen Schritt nach dem anderen zu setzen, mehr nicht.
Der erstaunliche Pilgerboom – nicht erst seit Hape Kerkelings Bestseller »Ich bin dann mal weg« – zeigt exemplarisch die Sehnsucht nach ursprünglichen, nicht entfremdeten und nicht schon kommerzialisierten Lebenserfahrungen. Das unmittelbare, einfache Erleben ist gefragt Auch andere Trends stürzen die Beobachtung: Es gibt eine neue Lust am Wandern. Internetseiten zum einfachen Leben, vom Handarbeiten bis zum Barfußlaufen, zeugen ebenfalls davon. Auch die Wiederentdeckung des Fastens gehört dazu. Der Geschmack eines Apfels nach einer Fastenwoche soll selbst durch ein (noch dazu sündhaft teures) Gourmetgericht nicht zu toppen sein.
»Weniger ist mehr«, das ist auch Christiane Thiels Credo. Sie bietet in Berlin ihre Dienste an für »heilsames Aufräumen«. Für Menschen, die nicht loslassen können, die Krimskrams sammeln und angesichts von Zeitungsstapeln, Erinnerungsdöschen, Schubladen voller Strumpfhosen mit Laufmaschen, die sie eines Tages unter langen Hosen tragen möchten, längst dem Chaos die Herrschaft überlassen haben. Dann hilft Christiane Thiel beim Sortieren. Denn: »Dinge sortieren, das heißt immer, sein Leben sortieren.« Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, das, was man liebt, von dem, woran man sich nur gewöhnt hat. Das Hängen an alten Dingen ist meist auch ein innerlicher Zustand, unnütz gefüllte Wohnungen, das Hortenwollen sind in jeder Hinsicht ein Ausweis für »Immobilität«. »Manchmal kann ich den Kunden überzeugen«, erzählt Christiane Thiel augenzwinkernd, »dass er seine Erinnerung behält, auch wenn er jetzt sofort das Streichholz wegwirft, mit dem er eine Kerze entzündet hat, bevor er vor Jahren in einem Hotelzimmer in Venedig ein Kind zeugte …« Sie schafft systematisch Platz, mehr Luft kommt ins Haus. Und wenn die ersten Quadratmeter freier Fußboden wieder zu sehen sind, kann die Energie langsam wieder fließen.
Werner Tiki Küstenmachers Schreibtisch ist aufgeräumt und das Büro wie geleckt. Der gelernte Pastor, Karikaturist und Bestsellerautor ist der Papst der »Weniger-ist-mehr«-Ideologie in Deutschland. Sein Ratgeber »Simplifv your life« ist über zwei Millionen Mal verkauft worden, übersetzt in zwanzig Sprachen. »Die Menschen sind buchstäblich mit schwerem Gepäck unterwegs«, sagt Küstenmacher, »deshalb sind Entrümpeln, Entschlacken, Sich-leichter-Machen ein Megatrend.« Vom Messie bis zum spirituellen Sinnsucher sind Küstenmachers Tipps gefragt. Der »Überdruss am Überfluss« ist meist der Ausgangspunkt, wenn Kunden zu seinem Ratgeber greifen oder den monatlichen Beratungsdienst abonnieren. Küstenmacher ist der Zusammenhang von außen und innen wichtig. Er will helfen, zu sich selbst und damit zum Wesentlichen zu finden. Dabei geht er in einem achtstufigen Modell vom Äußeren zum Inneren vor: Von den vielen »Sachen« über die »Gesundheit« die »Mitmenschen« bis zum »Ich« und zur »Spiritualität«.
15 000 Gegenstände soll ein durchschnittlicher deutscher Haushalt enthalten. Und bei den »Kunden« von Pastor Küstenmacher sind es meist noch mehr. Aber als hätten wir nicht schon genug, kaufen wir weiter. Jedes Jahr mehr. Seit dem Jahr 2000, so meldet das Statistische Bundesamt, ist der private Konsum um zehn Prozent gestiegen. Kaufen soll glücklich machen. Und mehr Kaufen noch glücklicher. Das zumindest suggeriert die Werbung. Der gesunde Menschenverstand und die Glücksforschung haben die Werbung aber schon widerlegt. Ab einem bestimmten Wohlstandsniveau ist das Wohlbefinden durch Wohlstandssteigerung nicht mehr zu beeinflussen. Die für die Hamburger Zeit schreibende Kulturjournalistin Iris Radisch nennt es das Wohlstandsparadox: »Mit steigendem Lebensstandard steigt das Anspruchsniveau an und sinkt die Dauer der durch die Ware gewährten Lusterfüllung. Auf der aussichtslosen Suche nach anhaltendem Warenglück kaufen wir in immer kürzeren Intervallen.« Radisch nennt das eine »wachstumsfördernde Glücksvernichtungslogik« und meint, dass es das Glück nicht ohne eine Umkehr gibt.
Glück und die Wachstumslogik der Industriegesellschaft gehen also offenbar nicht nahtlos zusammen. Obwohl auch die »Weniger-ist-mehr«-Bewegung sich selbst neue Märkte schafft: Nicht nur die verschiedenen Lebensvereinfachungsratgeber zeigen das. Auch Bücher zur »Entschleunigung« des Lebens, zum »Lob der Langsamkeit« und zum »Downsrufting« finden zahlreichen Absatz. Das Credo des Dowtshifting lautet: Wer weniger arbeitet, lebt besser. Henriette Löwisch ist ein Beispiel dafür. Sie war Chefredakteurin der Nachrichtenagentur AFP in Deutschland. Das hohe Arbeitstempo, die Sparzwänge bei gleichzeitig immer weiter wachsender Arbeitsverdichtung führten sie in die Krise.
Sie hat viel verdient, aber vor lauter Arbeit schien sie das eigene Leben zu verpassen. Schon ökonomisch gesehen war alles aus dem Gleichgewicht geraten: die persönlichen Investitionen in ihren Beruf waren hoch, der persönliche Gewinn (außer dem finanziellen) blieb unbefriedigend. Eines Tages standen wichtige Fragen unabweisbar im Raum: »Wo ist der Stern an Deinem Himmel? Was ist Deine Berufung? Was kannst Du gut, und was davon macht Dir Freude?« Sie stieg aus, tauschte Konsummöglichkeiten gegen Seelenfrieden und bildet nach einer Phase der Orientierung heute mit Leib und Seele Journalisten aus.
Menschen, die bewusst leben, sich nach den Werten ihres Lebens und dem Wert des Lebens fragen, nennen die Soziologin »Post-Materialisten«. Es sollen in Deutschland 15 Millionen sein, die zu dieser Gruppe zu zählen sind. Sie entziehen sich soweit möglich dem Druck der selbstausbeuterischen Wohlstandsoptimierung, schalten einen Gang zurück, konsumieren bewusst, schaffen vielleicht den Fernseher ab und achten auf Lebensqualität. Meistens sind es Besserbetuchte, die es sich auch leisten können, so zu leben. Eine auch politisch nennenswerte Bewegung für ein »Weniger ist mehr« – wie seinerzeit die Aussteiger oder die Alternativen – ist derzeit allerdings nicht zu beobachten.
Eher sind zahlreiche Symptome für ein Unwohlsein an der herrschenden Überfluss- und Konsumgesellschaft auszumachen. Etwa die Zeitschrift »Landlust«. Sie ist derzeit Deutschlands Magazin mit der rasantesten Auflagensteigerung: 2006 mit 100 000, 2007 schon mit mehr als 250 000 Käufern. Das Blatt bietet im Hochglanzformat »die schönen Seiten des Landlebens«. Einfaches Naturerleben (»Mit Stock und Stöckchen – Kinder basteln mit Ästen aus dem Wald«), schlichte Küche (»Weißkohl – Der Dinosaurier unter den Gemüsen«), ländliches Wohnen (»Gemütliche Kaminöfen«) bedienen die Sehnsucht nach dem einfachen, dem ursprünglicheren Leben.
Diese Suche nach dem einfacheren Leben, nach dem »Weniger ist mehr« berührt die zentralen Lebensfragen: Warum lebe ich so, wie ich lebe? Gefällt mir das wirklich? Oder wie Iris Radisch formuliert: »Kommt es im Leben auf viel Liebe, viel Urlaub oder auf eine möglichst große Briefmarkensammlung an?« Die Zeit-Autorin plädiert für einen »Verzicht aus Hedonismus«. Glück entsteht nur, wenn die Balance stimmt, wenn Be- und Entlastung im Gleichgewicht sind, wenn Yin und Yang harmonisch ineinandergreifen. Das Einfache schätzen und mit allen Sinnen lebendig verkosten können, sich nicht im Vielerlei verlieren und nicht mit Unwesentlichem zumüllen, diese Lebenskunst muss heute offenbar wieder erlernt werden. Der Minimalismus der Lebenskunst, wie ihn die Alten in italienischen Bergdörfern noch virtuos beherrschen, will wieder geübt sein, oder so, wie ihn der Schriftsteller Milan Kundera beschrieb: Gelassen auf einer Bank in der Sonne sitzen und »dem lieben Gott ins Fenster schauen«. •
aus Publik-Forum Nr. 14•2008
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