Politik reißt niemanden vom Hocker: Schüler auf der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages schon gar nicht
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Von Wolfgang Kessler
Publik-Forum: Die Deutschen scheinen politikmüder denn je – oder trügt der Schein?
Micha Hilgers: Enttäuschung ist etwas anderes als Müdigkeit. Mit Beginn von Rot-Grün herrschten Hoffnung und Aufbruchstimmung. Roman Herzogs Wort vom Ruck, der durch das Land gehen müsse, schien Realität zu werden. Doch unter Schröder war das Gegenteil der Fall: kein Ruck, sondern soziales Rollback. Familienpolitik als Gedöns, das Eigenheim als Pfand für eine eventuelle Arbeitslosigkeit oder pflegebedürftige Angehörige, Hartz IV. Dazu gigantische Steuerentlastungen für das Großkapital. Müdigkeit? Eher Erschöpfung, Enttäuschung über zerbrochene Hoffnungen und die Folgen massenhafter Verarmung durch sinkende Reallöhne.
Publik-Forum: Das müsste die Leute doch eher dazu motivieren, endlich etwas zu ändern?
Hilgers: Ach, kommen Sie, wie soll denn die Arithmetik einer anderen Politikkonstellation nach der Bundestagswahl aussehen! Die SPD hat sich selbst jede Chance verbaut, eine soziale Politik zu realisieren, indem sie ein Bündnis mit den Linken auf Bundesebene ausschloss. Mit Westerwelles FDP und den Grünen in einem Jamaika-Bündnis ist der Mindestlohn ausgeschlossen, eine neue Energiepolitik auch, ganz zu schweigen von der Bildung und der Förderung von Minderheiten, die weitgehend Ländersache ist. Was bleibt, ist eine schwarz-gelbe oder eine schwarzrote Koalition. Soll das etwa als erotisierender Wachmacher wirken?
Publik-Forum: Das Netzwerk attac und andere Organisationen beklagen das Fehlen der Dreißig- bis Fünfzigjährigen. Wo sind die?
Hilgers: Zu Hause, im Job und auf der Autobahn zwischen beiden. Seit Jahren lesen wir in den Shell-Jugendstudien, dass junge Erwachsene Karriere im Beruf mit Familie in Einklang bringen wollen. Das ist allerdings bei der verheerenden Situation in der Kinderbetreuung und ständigem berufsbedingten Ortswechsel nicht einfach.
Micha Hilgers
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ist Psychoanalytiker und Publizist in Aachen. Er berät regelmäßig poltische Organisationen.
Publik-Forum: Also haben die mit der Politik jetzt abgeschlossen?
Hilgers: Mitnichten. Es ist nur gegenwärtig keine Konstellation im Bund denkbar, die für innovative Politik stünde. Verständlich mag sein, dass viele Leute die Machtspiele der Politik satt haben. Die Basisbewegungen hängen auch durch.
Publik-Forum: Warum?
Hilgers: Eine Lehre der außerparlamentarischen Opposition war, dass man Verbündete in den Institutionen braucht. Minderheiten bleiben relativ erfolglos, wenn sie nicht durch diese Verknüpfung auch auf Mehrheiten einwirken können. Es fehlt diese Allianz, für die die Grünen nicht mehr stehen – spätestens nach ihren Todsünden unter Schröder.
Publik-Forum: Ist es denn wirklich so, dass man politisch nichts ändern kann?
Hilgers: Ich nenne das erlernte Hilflosigkeit: ein Abwehrmechanismus gegen Enttäuschungen, Misserfolge und Ohnmachtserfahrungen. Wenn man angeblich weiß, dass Engagement nichts bringt, steht man psychologisch sozusagen auf der Seite der Mächtigen und Gewinner; es kann einem scheinbar nichts Negatives zustoßen. Der sozialpsychologische Hintergrund. Immer mehr Menschen sind mit schlichtem Überleben bis zum Monatsultimo beschäftigt. Weder sind sie bereits so verarmt, dass sie nichts mehr zu verlieren haben, noch gibt es eine Aufbruchstimmung mit einem gemeinsamen, verbindenden und erreichbar erscheinenden attraktiven politischen Ziel.
Publik-Forum: Was können Bewegungen tun, um die Menschen zu mobilisieren?
Hilgers: Charismatische, überzeugende Persönlichkeiten müssen möglichst konkrete Ziele formulieren. Wir benötigen Entwürfe für die Zukunft, die keine politische Partei mehr bietet: Wie wollen wir leben? Was gibt es zu gewinnen, persönlich und kollektiv an Lebensqualität und Sinnhaftigkeit? Was müssen wir dafür leisten? Die Antworten der etablierten Parteien auf diese Fragen sind ebenso banal wie unterschiedslos.
Publik-Forum: Fußballspiele und Papstbesuche bringen Zehntausende auf die Straße. Können nur große Events Leute bewegen?
Hilgers: Mit Fußballvereinen können sich mehr Leute über alle Differenzen hinweg identifizieren als mit Münte, Angie oder Bütikofer. Es fehlen charismatische Politiker, die nicht für das Ego, sondern für Überzeugungen und Gerechtigkeit stehen. Lafontaine ist charismatisch, hat Erfolg, die richtigen Fragen, aber keine Antworten. Der Papst ist ein fundamentalistischer Charismatiker, der die Sehnsucht nach Harmonie bedient – unter Ausblendung aller Widersprüche, die jeder Einzelne zu Positionen der Kirche empfinden mag. Der Wunsch nach Identifikation und politischer Vereinigung ist vorhanden – fragt sich nur, wer ihn bedient. Wehe, wenn die NPD solche Persönlichkeiten findet. ■
aus Publik-Forum Nr. 18•2008
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