Der SPIEGEL betitelt seinen Artikel über die gelungene WM-Verteidigung Vitali Klitschkos in der Schwergewichtsklasse mit »600 Euro, 169 Sekunden und viel Zorn«. »Das ist doch total die Verarsche. Ich habe 75 Euro für meine Karte bezahlt und konnte noch nicht einmal mein Bier austrinken, so schnell war alles vorbei.« , wird ein ärgerlicher Zuschauer zitiert.
Vielleicht hat es in den 60er Jahren auch Zuschauer gegeben, die sich nach einem schnellen K.O. ärgerten. Kann man ja auch verstehen. Nur: eine solche Meldung hätte es in den 60ern nicht gegeben, auch nicht in den 70ern. Damals hätten sich alle über die Verteidigung des WM-Gürtels gefreut und wären stolz gewesen. Heute sitzen die Leute vorm Fernseher oder am Ring und erwarten einen Sieg Vitali Klitschkos. Von vorneherein. Vor wenigen Monaten hatte Klitschko den Fans einen K.O.-Sieg versprochen gegen Ich-weiß-nicht-mehr. Ab der achten Runde wurden Publikum und Kommentator zunehmend unruhig, und es ging nur noch um die Frage, ob »Doktor Eisenfaust« sein Versprechen wahrzumachen imstande sein würde. Der Rest der Partie war eklig. Muß man die niederen Bedürfnisse der Menschen wirklich in dem Maße bedienen? Klitschko hätte den Kampf auf jeden Fall gewonnen. Ist es notwendig, die Gesundheit des Gegners aufs Spiel zu setzen, nur um vor seinen Fans gut dazustehen? Klitschko schien nur noch zu überlegen, wo er hinhauen muß, damit sein Gegner zu Boden geht. Es wirkte wie eine versuchte Hinrichtung.
Es geht mir nicht ums Boxen. Es geht mir um die Ansprüchlichkeit, die zugrunde liegende primitive Maßlosigkeit und deren hemmungslose Bedienung. Ich war immer – bis in die 90er Jahre – stolz auf die relativ zurückhaltende Wortwahl deutscher Fernsehberichterstatter bei sportlichen Großereignissen und konnte über die chauvinistische Berichterstattung des französischen Fernsehens nur den Kopf schütteln. Seit der deutschen Wiedervereinigung und der Einführung des Privatfernsehens hat der Wind auch bei uns aufgefrischt. Schade! Ich glaube, wir tun uns damit keinen Dienst. Ich glaube, die Größe eine Nation bemißt sich auch nach ihrer Zurückhaltung, und da werden uns die Privatsender in ihrer erzieherischen Funktion nichts zu bieten haben.
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