Zaurbek Talchigow vermittelte bei einem tschetschenischen Terrorakt. Dafür saß er über acht Jahre im Gefängnis
Sein größter Wunsch an seine Mutter, die ihn am Gefängnistor abholte, war ein weißes Hemd. »Nie durfte ich in der Haft weiß tragen, ich bin der Farbe weiß ganz entwöhnt«, erklärte Zaurbek Talchigow diese Bitte. Der 34-jährige Arzt war achteinhalb Jahre in Haft. Für seine Tat hätte er anderswo vielleicht einen Friedenspreis erhalten. Russlands Justiz jedoch sperrte ihn nach einem Verfahren hinter verschlossenen Türen ins Gefängnis.
Dass er erst achteinhalb Jahre später wieder zurückkehren würde, hatte Talchigow nicht gedacht, als er sich am Abend des 23. Oktober 2002 auf den Weg in das Moskauer Dubrowka-Theater machte. Tschetschenische Terroristen hatten das Theater überfallen und 850 Menschen in Geiselhaft genommen. Und der tschetschenische Duma-Abgeordnete Aslanbek Aslachanow hatte die Idee, dass Tschetschenen die tschetschenischen Terroristen zur Aufgabe bringen sollten. Über das russische Fernsehen rief er alle in Moskau lebenden Tschetschenen auf, die Terroristen mit einer Menschenkette um das Theater zur Aufgabe zu zwingen.
Zaurbek Talchigow machte sich sofort auf den Weg. Doch nur wenige waren am Theater. Talchigow blieb, ließ sich von Aslachanow drängen, die Terroristen in direkten Gesprächen von der Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu überzeugen. Auch ein niederländischer Geschäftsmann, der russischstämmige Oleg Schirow, dessen Frau und Kind unter den Entführten waren, bat Talchigow, mit denTerroristen zu sprechen.
Per Mobiltelefon trat Talchigow mit Wissen und Billigung der anwesenden FSB-Offiziere in Verhandlungen mit dem Anführer der Terroristen, Movsar Barajew. Und er schien Erfolg zu haben. Gemeinsam mit dem ukrainischen Abgeordneten Oleg Bespalow konnte er am 25. Oktober den Terroristen die Zusage abringen, alle ukrainischen Geiseln freizulassen.
Doch Talchigow konnte seine Vermittlertätigkeit nicht zu Ende führen. Noch am 25. Oktober kam der FSB zu der Auffassung, Talchigow würde mit den Terroristen zusammenarbeiten. Man mischte ihm ein Schlafmittel in ein Getränk – und als er aufwachte, war er im Gefängnis. Im Juni 2003 verureilte ein Moskauer Stadtgericht den damals 25-jährigen wegen »Beihilfe zu Terrorismus und Geiselnahme« zu achteinhalb Jahren Haft. Wenige Monate später wurde das Urteil vom Obersten Gericht Russlands bestätigt.
Auch in der Haft kämpfte Talchigow weiter, klagte beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. In der Folge erhielt er Haftverschärfung, wurde misshandelt. Mehrfach erkrankte er so schwer, dass Menschenrechtler um sein Leben fürchteten. Als die Journalistin Anna Politkowskaja 2005 Talchigow interviewen wollte, verlangte die Gefängnisleitung von ihm, das abzulehnen. Doch er dachte gar nicht daran. Schließlich verbot die Gefängnisleitung das Interview.
Nun ist er frei. Neben seiner Mutter freut sich auch Swetlana Gannuschkina von der Menschenrechtsorganisation Memorial über die Haftentlassung. Sie und der Niederländer Oleg Schirow haben Talchigow die ganzen Jahre seiner Haft unterstützt. Vielleicht wäre Schurows Frau noch am Leben, wenn der FSB die Mission von Zaumbek Talchigow am 25. Oktober 2002 nicht mit einem Saft voller Schlafmittel beendet hätte. • Bernhard Clasen
aus Publik-Forum 10•2011
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