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Der Jongleur, 1943 |
Sie machen Zeit
Ich habe sie gesehen: die
Makonde-Schnitzer unter dem Strohdach in der tansanischen Steppe;
singend, dösend, wartend:
und
auch die Bananenverkäufer am Rande der Straße nach Moshi,
schweigend, plappernd,
sitzend;.
auch
die Sisalarbeiter auf der abgebrannten Erde des Dorfes, schwitzend, hockend, gähnend;
die
alten und die jungen Leute unter den Feuerbäumen, liegend, horchend, beobachtend.
Es
umgab mich in diesem Lande die verführerische Faszination der Ruhe.
Aber ich reagierte
europäisch und fragte meinen schwarzen Freund:
„Was machen alle diese Leute da? Sie sitzen und dösen und plappern und
warten. So könnt ihr niemals den Anschluss an
den Fortschritt gewinnen.”
„Du hast den Eindruck,
unsere Leute sind faul, nicht wahr?” fragte der
kurz dagegen. Ich verhehlte nicht, dass meine Gedanken zumindest in
diese Richtung gingen.
„Was ich jetzt sage”, fuhr er fort, „wirst du kaum verstehen: Diese
Leute sitzen da und machen Zeit. Das alte Afrika kennt auch in seinen Sprachen keine
Form der Zukunft. Wir haben keine Zeit,
also können wir auch nicht über sie verfügen, können nicht planen und uns nicht festlegen. Alle Zeit
ist ein Geschenk. Sie muss erst entstehen, wir
können sie nur erwarten.”
„Und wodurch entsteht
Zeit?”
fragte ich.
„Durch Regen”, sagte er, „oder durch die Geburt eines Kindes, durch Krankheit, durch Hochzeit, durch eine
Begegnung, durch einen Tanz, durch ein Gespräch oder ein Fest. Dann ist
die Zeit geboren, und wir können in ihr leben. Dann rechnen wir auch nicht wie ihr Europäer die Zeit nach Tagen und
Jahren, sondern nach Erlebnissen und
Ereignissen, mehr noch: Wir rechnen nicht, sondern erfahren. Dadurch
bekommt unser Leben seinen Sinn und seine Hoffnung.”
„Ich will darüber
nachdenken”,
warf ich ein.
„Das
ist schon der erste Fehler”, meinte mein Freund. „Du
musst dich öffnen für das, was
auf dich zukommt.”
Mir
fiel damals auf, dass sie alle keine Armbanduhren hatten. Ich fuhr nach Haus mit dem Gedanken, wie schön es wäre, wenn …
Aber dazu ist es wohl zu
spät.
Peter Spangenberg
Irgendwo zwischen Nacht und Morgen. Eine Momentaufnahme aus einem kleinen Zirkus. Die Uhr hält inne. Die gewohnte Welt steht scheinbar still. Schwebezustand. Ganz so, wie in jener eigentümlich zeitlosen Zeit „zwischen den Jahren”. Aber ebenso wie in dieser Zeit, ist auch bei Chagall der scheinbare Stillstand zugleich der Beginn einer kraftvollen Bewegung. Es ist die Stunde der Künstler. Die Uhr gibt nicht länger den Takt vor. Ein alter Geiger spielt auf. Der Tanz beginnt. Ein engelähnliches Fabelwesen – das selber verschiedene Welten in sich vereint – schwebt und steht und dreht sich auf einem Bein, bewegt wohl durch den sanften Schlag seiner Flügel.
Der Jongleur, so bezeichnet Chagall dieses Bild von 1943, hat Macht über die Zeit. Er spielt mit ihr und stellt sie buchstäblich auf den Kopf. Pirouettendrehend geht von ihm eine Bewegung aus, die sich einer Spirale gleich von der Mitte der Manege nach rechts, also gegen den Uhrzeigersinn, öffnet. Auch dies eine – gemessen am normalen Rhythmus unseres Lebens – verkehrte Welt. Die in himmelblaue Farbtöne getauchte Spiralbewegung umfasst die Zuschauer und verschmilzt sie mit dem Geschehenen.
Wird hier etwas richtig gestellt? Das Maß der Zeit bestimmt nicht die Uhr, sondern die Magie des Erlebens. Die Manege – für Chagall grundiert vom liebevollen rotgolden glühenden Land seiner Kindheit – wird zur Mitte und zum Zauberkreis einer Welt der Wunder, die Gaukler, Akrobaten, Trapezkünstler, Musikanten und Kunstreiterinnen bevölkern. Hereinspaziert. Willkommen im Zirkus amn Rande der Zeit. Hier gehen die Uhren anders. Vielleicht, um mich daran zu erinnern, dass die Zeit eigentlich nicht vergeht, sondern entsteht.