Sonntag, 30. Dezember 2012

Der Zirkus – eine Welt unerschöpflichen Zaubers

Die große Parade

Zirkusbilder sind zentral im Werk Marc Chagalls. Sie sind für ihn Bilder vorn Leben in seiner reinsten Form und bergen tiefe religiöse Dimensionen in sich. „Ich habe Clowns, Akrobaten und Schauspieler immer als tragische menschliche Wesen betrachtet, die für mich den Personen auf gewissen religiösen Gemälden gleichen. Selbst heute noch spüre ich beim Malen einer Kreuzigung oder eines religiösen Werkes die gleichen Gefühle, die ich empfinde, wenn ich Zirkusleute male“, notiert er. Auf dem Grunde des Lächelns schwimmt eine Träne. Um Lebensfreude zu spüren, muss man den Schmerz kennen, und um Zuversicht zu zeigen, muss unter ihrem bunten Gewand auch der Zweifel ein Zuhause haben.


Auf dem Grunde des Lächelns schwimmt eine Träne
Der Clown lehrt uns, wie wir über uns selbst lachen sollen. Und dieses unser Lachen wird aus Tränen geboren.
Freude ist wie ein Strom: sie fließt ohne Unterlass. Das ist nach meinem Glauben die Botschaft, die der Clown uns zu über­bringen versucht, dass wir teilhaben sollen am unaufhörlichen Fluss, der endlosen Bewegtheit, dass wir nicht anhalten sollen, um nachzudenken, zu vergleichen, zu zergliedern, zu besitzen, sondern fließen immerfort, ohne Ende wie Musik. Das ist der Gewinn im Verzicht, und der Clown schafft das Sinnbild dafür. An uns ist es, das Symbol in Wirklichkeit zu wandeln.
Zu keiner Zeit der menschlichen Geschichte war die Welt so voller Leiden und Angst. Hie und da treffen wir jedoch Men­schen, die unberührt und unbefleckt blieben vom allgemeinen Elend. Es sind keine herzlosen Geschöpfe, weit davon entfernt! Sie haben die Freiheit gewonnen. Die Welt erscheint ihnen anders als uns. Sie sehen mit anderen Augen. Wir sagen von ihnen, dass sie der Welt gestorben sind. Sie erleben den Augenblick in seiner vollen Größe, sie strahlen, und dieses Strahlen rund Inn sie ist ein immerwährendes Lied der Freude.
Der Zirkus öffnet eine winzige Lücke in der Arena der Verges­senheit. Für eine kurze Spanne dürfen wir uns verlieren, uns auflösen in Wunder und Seligkeit, vom Geheimnis verwandelt. Wir tauchen wieder empor zur Verwirrung, betrübt und entsetzt vom Alltagsanblick der Welt. Aber diese alltägliche Welt, die wir allzu gut zu kennen meinen, es ist dieselbe, die einzige Welt, eine Welt voll Magie, voll unausschöpflichen Zaubers. Wie der Clown führen wir unsere Bewegungen aus, täuschen wir vor, bemühen wir uns, das große Ereignis hinauszuschieben. Wir sterben in den Wehen unserer Geburt. Wir sind niemals gewesen, wir sind auch jetzt nicht. Wir sind immerzu im Werden …

Henry Miller




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