Der Geiger, 1912/13 |
Zahllos sind die Geiger, die in Chagalls Bildern musizieren. Dieses Bild stammt aus den Jahren 1912-13, dem ersten Parisaufenthalt des Künstlers. Erinnern die Geiger in Chagalls Werk an alle die jüdischen Geiger, die auf keiner Hochzeit und bei keinem Begräbnis fehlen? Klingen die Melodien der Kindheit nach oder sind die Geiger Sinnbild für das Leben und die Arbeit des Künstlers schlechthin? Von Chagall erhalten wir keine klare Antwort, er lässt die Dinge bewusst im Ungefähren und Mehrdeutigen.
Der Geiger schwebt überdimensional groß, in einen langen Mantel gekleidet, auf der Mittelachse im Zentrum des Bildes. Geometrische Formen, überwiegend Dreiecke, gliedern in schwarz-braunen und grau-weißen Flächen den kühlen Hintergrund. Diese ungemütlich kalte, schwarz-weiße kleine Welt ist wohlgeordnet und hat eine fast mathematisch abstrakte Struktur. Der erdigen Farbwelt von beinahe bedrückender Atmosphäre gehört auch der Mantel an, der den Körper des Geigers umfängt. Aber dann scheinen unvermutet Farben auf in der winterlichen Welt. Die Geige leuchtet in warmen goldenen und gelben Tönen. Das Instrument berührt das Gesicht des Geigers, dessen grüne und blaue Töne vorn Instrument entzündet zu sein scheinen. Gesicht und Bart des Geigers nehmen im Grün die Farbe der Hoffnung an und mit dem Blau den Ton, der Himmel und Erde miteinander verbindet. Der Hut schimmert in zartem Rot und Rosa, und über dem Kopf des Künstlers bricht sanftes Blau das alles beherrschende Dunkel der Nacht auf. Selbst der schmutzige Schnee am Fuß des Bildes empfängt einen sanften Widerschein der goldglimmenden Geige.
Nimmt man den Geiger aus dem Bild, so verliert diese Welt auf der Stelle wieder ihre Farben und erstarrt. Es bleibt nur der Stumpfsinn wohlgeordneter, aber lebloser Strukturen – Tod und Stille. Einzig der Geiger belebt das Bild – durch seinen Körper strömt die bewegende Welle der Musik, sein Fuß klopft sanft den Rhythmus auf dem Dach eines Hauses. Sein Spiel macht ihn leichter als die Erdenschwere. Er verliert indes nicht den Kontakt zu ihr. Vor allem bleibt er vom Leben gezeichnet. Die Nase scheint gebrochen zu sein. Aber auch dieses Gebrochene und Verwundete seines Lebens wird mit seiner Musik in ein neues Licht getaucht. Die Töne seines Instruments schließlich bringen buchstäblich einen neuen Ton und mit ihm neue Farbtöne in die Welt. Unter seiner Musik wächst ein Zauberbäumchen heran, in dem die Vögel des Himmels nisten. Die Gesichter dreier Menschen, die seinem Spiel lauschen, werden von seiner Musik erleuchtet. Die übrige Welt wird zum Hintergrund für das große Wunder, das hier geschieht, und das buchstäblich abfärbt auf die gespenstisch abstrakte, leere und leblose Umgebung, die sich so unerwartet als neuer Lebensraum erschließt.
Für mich ist der Geiger ein Sinnbild für den Künstler schlechthin, in einem weiter gefassten Sinn wohl auch für den Lebenskünstler. Denn wo immer der Mensch zum Schöpfer wird, gleich ob als Maler, Musiker, Dichter oder als einer, der mit Liebe, Kreativität und Phantasie seine Lebenszeit gestaltet, kommt er in Berührung und Ver-bindung mit einer geheimnisvollen Kraft, die auch das dunkelste Fleckchen der Welt verwandelt. Es ist die Kraft Gottes, des ganz großen Lebenskünstlers, den uns die Bibel als denjenigen vorstellt, der aus Liebe und in unerschöpflichem Einfallsreichtum das Leben der Welt schuf – das größte Kunstwerk, das sich denken lässt. Als Liebhaber des Lebens vollbrachte er überdies das Kunststück, dieses Leben in leidenschaftlichem Engagement durch die dunklen Mächte des Todes hindurch zu bewahren und zu behüten. Wer mit ihm in Verbindung steht, kann gar nicht anders als selbst zum Lebenskünstler zu werden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen