Mutterschaft, 1912-13 |
Zusammen
was nimmst du mit auf die Insel deiner Träume
sind es Wünsche, sind es Fragen
ein paar Fotos in Erinnerung alter Freunde
ein Buch aus Kindertagen
läufst ein letztes Mal durch deine Straßen
hältst dich an dir fest
kannst nicht bleiben, kannst nicht lassen
stöberst nach dem Rest
willst du fort, gehst du fort
nimmst uns mit auf deine Reise
irgendwo ist ein Ort
da denk an uns in guter Weise
wir sind alles, was wir sind
hatten sie gesagt
doch jetzt geh, bleib nicht Kind
geh nur, denn es tagt
zusammen
sind wir nicht allein
werden eine Insel sein
die dich schützt und die dich hegt
sind der Boden, der dich weiter trägt
zusammen
einzeln und frei
wirst du diese Insel sein
wirst sie finden, wirst sie lieben
wirst dann ganz bei dir zu Hause sein
halt nicht fest, lass es gehn
es gibt so viele Farben
irgendwann wirst du sehn
verblassen selbst die Narben
du bist alles, was du bist
hatten sie gesagt
doch jetzt geh und vergiss
geh nur, denn es tagt
zusammen
sind wir nicht allein
werden eine Insel sein
die dich schützt und die dich hegt
sind der Boden, der dich weiter trägt
zusammen
einzeln und frei
wirst du diese Insel sein
wirst sie finden, wirst sie lieben
wirst dann ganz bei dir zu Hause sein
Klaus Hoffmann
„Ich bin ein Kind und Mama eine Königin.” Es gibt ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen Chagalls Mutter und ihrem Erstgeborenen. Er ist ihr Königskind und sie die unumschränkte Herrscherin im Land seiner Kindheit. Mit dem Bild Mutterschaft (1912/13) setzt er ihr ein Denkmal, aber nicht ihr allein. Überproportional groß steht die Mutter auf der Mittelachse des Bildes – halb Madonna, halb Babuschka, eine jener russischen Spielzeugpuppen, die schon Kinder lehren, dem ersten Augenschein zu misstrauen, weil in deren Innern immer neue Holzfiguren wie Schalen ineinander gesteckt sind. In ihrer Mitte, die ziemlich genau auch die Mitte des Bildes ist, findet sich aber keine neue Puppe, sondern ein kleiner Junge, der durch sie zur Weit kommen will.
Diese Welt beschreibt Chagall mit sparsamsten bildnerischen Mitteln. Getaucht in das alles beherrschende freundlich leuchtende Rot der Liebe, erinnert die rechte untere Bildhälfte an sein Geburtshaus. In der engen und zugigen Bretterbude hatte er Geborgenheit und Glück auf eine Weise erfahren, die er auch als erwachsener Mann nie vergaß und die ihn stets mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Über dem Haus schwebt der Kopf eines Mannes. Er dürfte an Chagalls Vater erinnern, jenen einfachen Mann, der – wie Chagall in seiner Autobiographie schreibt – nichts galt, weil er unschätzbar wertvoll war. Als Entsprechung findet sich in der linken unteren Bildhälfte ein Bauer mit einem Ochsengespann – möglicherweise Marcs Onkel Neuf, der bei dessen Großeltern etwa 50 km entfernt von Witebsk lebte. Hier verbrachte Marc einen anderen wichtigen Teil seiner Kindheit.
Chagalls Familie war bitterarm, aber sie vererbte ihm einen Reichtum, der ihn wirklich zum König seines Lebens werden lies – sie lehrte ihn die Kunst zu lieben und einfach zu leben. Das blieb Chagall immer eingeschrieben – was und wo immer er auch war, ob als hungernder junger Maler in Petrograd oder weltberühmter Künstler in Saint-Paul-de-Vence an der Côte d’Azur. Wenn der Augenblick kommt, wo einer gehen muss – was nimmt er mit? Was bleibt von dem, was einer zu besitzen meint: Fast ist es, als ob Marc Chagall uns mit den Worten seines berühmten jüdischen Glaubensbruders Martin Buber antwortet: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.” Das Einzige, was im Leben wirklich zählt, dessen A und O, Ausgangspunkt und Ziel, sind feinfühlige und liebevolle Beziehungen. Und das Wenige, was bleibt, ist ein Stück Heimat tief in unserem Herzen – jener Ort ohne Land, an dem Menschern sind, die uns lieben und die dafür Sorge tragen, dass wir werden, was wir sind, und sich unser Bestes entwickelt und entfaltet zum Wohl der Welt.
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