Dienstag, 6. Dezember 2016

Ein Gerichtsgutachter am Pranger

Ein renommierter Gerichtsgutachter soll klären, warum ein Baby starb – und steht am Ende selbst am Pranger. 

Hans Christoph Ludwig erinnert sich genau an den Anruf. Am Telefon war der äußerst freundliche Vorsitzende Richter einer Schwurgerichtskammer. Ob Ludwig für das Gericht ein Gutachten anfertigen könne? Es gehe um eine Frau, die angeklagt sei, ihr Baby zu Tode geschüttelt zu haben. Es klang nach einer einfachen Sache. Allerdings hatte der Anrufer es ein wenig eilig, in drei, vier Wochen schon sollte das Gutachten fertig sein. 

An der Uni-Klinik Göttingen ist Hans Christoph Ludwig, 62, Professor für Kinder-Neurochirurgie. Er operiert Kinder, die Hirntumoren haben oder einen Wasserkopf. Immer wieder behandelt er auch Babys, die von einem überforderten Vater, einer genervten Mutter geschüttelt wurden und dabei zum Teil schlimmste Gehirnverletzungen erlitten. Das sogenannte Schütteltrauma ist ihm also vertraut. Auch mit dem Verfassen von Gutachten hat er Erfahrung. Im Büro stapeln sich Gerichtsakten. Meist wird er bei Privatklagen wegen möglicher Behandlungsfehler hinzugezogen, dann soll er vor einem Zivilgericht klären, ob ein Arztkollege etwas falsch gemacht hat oder nicht. Diesmal also ein Strafverfahren. Diesmal geht es nicht um Schmerzensgeld, sondern um die Frage, ob eine Frau im Juni 2010 ihren Säugling getötet hat und ob sie, inzwischen Mutter eines weiteren Kindes, für Jahre ins Gefängnis muss (siehe auch das Dossier Wie starb Baby Nils?, ZEIT  Nr. 42/15). Ludwig überlegt kurz am Telefon, dann sagt er zu. Ein paar Tage später kommen die Unterlagen. Ein Stapel Papier, nicht sonderlich dick. Das kann man bewältigen. Die Abgabefrist – kein Problem. 


Erst viel später geht Ludwig auf, dass diese Unterlagen ein Bruchteil dessen sind, was sich im Fall des toten Babys an Akten angesammelt hat. Denn was der freundliche Richter nicht gesagt hat: Um den Fall Nils tobt bereits ein heftiger Streit unter Experten. Die Hauptverhandlung gegen die Mutter läuft seit neun Monaten. Und Ludwig, der davon ausgeht, er solle helfen, die Frage zu beantworten, ob eine Angeklagte schuldig ist oder nicht, sieht die Falle nicht. Erst als es zu spät ist, wird er verstehen. Er wird sich in einem Verfahren wiederfinden, in dem es auch um ihn selbst geht, um seine Reputation – und um den Vorwurf, ein Lügner zu sein.

mehr:
- Gerichtsgutachten: Unerwünschte Wahrheit (Tanja Stelzer, ZON, 01.12.2016)

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