Schule für kleine Staatsbürger
ÉCOLE MATERNELLE Nirgendwo in Europa werden so viele Kinder geboren wie in unserem Nachbarland. Das liegt auch an der staatlichen Betreuung.
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Von Birgitta Mogge-Stubbe, Lyon
… Die École Maternelle ist – anders als ein deutscher Kindergarten oder Kinderhort – eine reguläre Einrichtung des französischen Bildungssystems für zwei- bis sechsjährige Kinder. Sie verfolgt ein eigenes pädagogisches Konzept, hat einen verbindlichen Lehrplan und festgelegte Lernziele, die an Alter und Entwicklungsstand der Kleinen ausgerichtet sind. Zwar besteht keine Schulpflicht – die beginnt erst mit sechs Jahren –, aber gut 35 Prozent der Zwei- und fast 100 Prozent der Dreijährigen besuchen eine Vorschule. Grundsätzlich handelt es sich um Ganztagseinrichtungen mit Öffnungszeiten oft bis in den frühen Abend, mit Mittagessen und (für die Kleineren) Mittagsschlaf. Die Eltern können Sohn oder Tochter auch zu Hause verköstigen, doch die wenigsten machen Gebrauch davon.
Auch die Krippe (crèche) für Kinder von zwei Monaten bis zu drei Jahren wird ganztags angeboten; mancherorts stehen Erzieherinnen gut zwölf Stunden zur Verfügung. Entgegen landläufiger Meinung ist nur ein Drittel der Minis in einer Crèche, die meisten werden von einer Tagesmutter gehütet.
Staat und Kommunen lassen sich die Kinderbetreuung einiges kosten. Der Staat gibt großzügige Zuschüsse zu den Kosten für Krippen und Tagesmutter. Er zahlt für die ersten beiden Kinder monatlich mindestens 119 Euro (maximal 165), fürs dritte Kind 271, für jedes weitere kommen gut 150 Euro hinzu. Seit drei Jähren gewährt er Erziehungsurlaub schon ab dem ersten Kind und eine Geburtsprämie, die je nach Einkommen bis zu 826 Euro betragen kann. Alles in allem kann sich die Steuerlast für kinderreiche Haushalte so ermäßigen, dass sie nichts abführen. Ebenfalls attraktiv: die flächendeckende Einrichtung der kostenfreien Écoles Maternelles.
Junge Familien danken die Fürsorge mit Zeugungsfleiß. Im vergangenen Jahr meldete Frankreich einen Rekord: die höchste Geburtenrate der EU. Obwohl Frankreich rund 20 Millionen weniger Einwohner hat als Deutschland, kamen hier 831.000 Babys zur Welt, in Deutschland waren es 675.000. Damit liegt die Geburtenziffer pro Frau jetzt bei durchschnittlich 2,07 Kindern (in Deutschland 1,4).
Die demografische Entwicklung könnte, so das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, langfristig dazu führen, dass Frankreich die stärkste Wirtschaftsmacht in der EU wird: Viele Kinder erarbeiten mehr Wohlstand. Thomas Straubhaar, der Chef des Weltwirtschaftsinstituts in Hamburg, formuliert vorsichtiger: Die hohe Geburtenrate sei „ein psychologisches Zeichen für den Zukunftsoptimismus einer Gesellschaft“.
In der Tat ist es für französische Frauen selbstverständlich, beides zu haben: Familie und Karriere. 80 Prozent der Mütter mit zwei Kindern sind berufstätig; sie schätzen die gesellschaftliche Anerkennung, die sie durch den Beruf erfahren. Laut Cathérine Marry vom Centre Nationale de la Recherche Scientifique (CNRS), einer der deutschen Max-Planck-Gesellschaft vergleichbaren Forschungsorganisation, „schätzt man in Frankreich eine Mutter, die arbeitet, auch wenn sie ein kleines Kind hat. Man verbindet damit positive Wertvorstellungen.“
Viele junge Frauen verbringen nur den gesetzlichen Mutterschutz zu Hause – zwölf Wochen bei den ersten beiden Kindern, 16 ab dem dritten Kind –, dann geben sie das Baby zur Tagesmutter oder in die Krippe. Sandrine Lamer, Mutter eines 20 Monate alten Jungen, die jetzt ihr zweites Kind erwartet, denkt nicht einmal daran, ihre Stelle im Pariser Goethe-Institut aufzugeben. Halbtags zu arbeiten wäre eine Option, wenn dann das Geld noch reichte. Aber dass eine Frau ganz aussteige, sei höchst selten: „Wir Franzosen haben ein anderes kulturelles Verständnis von Mutter und Beruf als die Deutschen.“ Da Krippen und Vorschulen früh öffnen, Büros und Geschäfte aber selten vor neun Uhr, teilen sich viele Eltern den Kinderbringedienst; fürs Abholen kann man eine Tagesmutter auch stundenweise beschäftigen. „Alles ist organisierbar“, sagt Sandrine Lamer.
Sie selbst hatte ihr Kind schon während der Schwangerschaft für einen Krippenplatz angemeldet. Ein halbes Jahr überbrückte sie mit einer Tagesmutter, bevor der Platz frei wurde. Der Kleine geht gern in die Crèche. Dort hat er Freunde und einen festen Rhythmus: Spielen, Lernen, Essen, Schlafen – alles vollzieht sich nach klaren Regeln, „ohne dass der biologische Rhythmus der Kleinen gestört würde“, erklärt Lamer. Besonders wichtig: „Im Umgang mit anderen Kindern und anderen Bezugspersonen lernt mein Sohn soziales Verhalten.“ Später, in der Maternelle, kommt er in der großen Gruppe und mit den hohen Anforderungen an Lernen und Disziplin leichter zurecht.
Die École Maternelle ist als Einrichtung beinahe unantastbar. Dagegen spricht nicht, dass eine gewisse intellektuelle Lust an reformpädagogischen Ansätzen (weniger Drill) zu beobachten ist. Der Staat bezahlt die Lehrkräfte (gut 90 Prozent sind Frauen), die zum Lehrerexamen eine Zusatzausbildung in frühkindlicher, Pädagogik nachweisen müssen. Die Kommune stellt die Gebäude und finanziert den für jede Klasse verpflichtend vorgeschriebenen Assistenten, meist Frauen. Diese Hilfskraft ermöglicht es der Lehrerin, sich ganz auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie ist auch nötig, weil es zu den Grundregeln der Vorschule gehört, ein Kind nie auch nur einen Augenblick unbeaufsichtigt zu lassen.
Sicherheit hat absoluten Vorrang, auch beim Herumtoben auf dem Hof, auch beim Gang zur Toilette. Die im Klassenraum der Lyoner École Maternelle Joseph Cornier angepinnte Regel „Je vais aux toilettes seul(e) en demandand la permission“ kann nur meinen, dass das Kind auf dem Örtchen keine fremde Hilfe braucht. Dass sich ein, zwei oder mehr Kinder allein in einem Raum aufhielten – undenkbar.
Für spontane Ideen und „zielloses“ Spielen bleibt da wenig Zeit. Sie sind im Grunde auch nicht vorgesehen. Die Vorschule will Kinder nicht hüten, sondem die künftigen Staatsbürger heranbilden („former les futurs citoyens“), und das gelingt nun mal am besten über Sprachbildung, kulturelle Bildung und Persönlichkeitsbildung. Wo das nicht angemessen gelingt, etwa in sozialen Brennpunkten, verstärkt Vater Staat jetzt seine Fürsorge: Dort sollen möglichst alle Zweijährigen in die Ècole Maternelle gehen, damit sie die richtigen Dinge lernen.
Literatur: Simone Wahl: Bildung von Anfang an/Les Premier pas. Ein deutsch-französischer Vergleich. Dohrmann Verlag, Berlin 2006. 296 Seiten, 18,90 Euro.
ÉCOLE MATERNELLE Nirgendwo in Europa werden so viele Kinder geboren wie in unserem Nachbarland. Das liegt auch an der staatlichen Betreuung.
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Von Birgitta Mogge-Stubbe, Lyon
… Die École Maternelle ist – anders als ein deutscher Kindergarten oder Kinderhort – eine reguläre Einrichtung des französischen Bildungssystems für zwei- bis sechsjährige Kinder. Sie verfolgt ein eigenes pädagogisches Konzept, hat einen verbindlichen Lehrplan und festgelegte Lernziele, die an Alter und Entwicklungsstand der Kleinen ausgerichtet sind. Zwar besteht keine Schulpflicht – die beginnt erst mit sechs Jahren –, aber gut 35 Prozent der Zwei- und fast 100 Prozent der Dreijährigen besuchen eine Vorschule. Grundsätzlich handelt es sich um Ganztagseinrichtungen mit Öffnungszeiten oft bis in den frühen Abend, mit Mittagessen und (für die Kleineren) Mittagsschlaf. Die Eltern können Sohn oder Tochter auch zu Hause verköstigen, doch die wenigsten machen Gebrauch davon.
Auch die Krippe (crèche) für Kinder von zwei Monaten bis zu drei Jahren wird ganztags angeboten; mancherorts stehen Erzieherinnen gut zwölf Stunden zur Verfügung. Entgegen landläufiger Meinung ist nur ein Drittel der Minis in einer Crèche, die meisten werden von einer Tagesmutter gehütet.
Staat und Kommunen lassen sich die Kinderbetreuung einiges kosten. Der Staat gibt großzügige Zuschüsse zu den Kosten für Krippen und Tagesmutter. Er zahlt für die ersten beiden Kinder monatlich mindestens 119 Euro (maximal 165), fürs dritte Kind 271, für jedes weitere kommen gut 150 Euro hinzu. Seit drei Jähren gewährt er Erziehungsurlaub schon ab dem ersten Kind und eine Geburtsprämie, die je nach Einkommen bis zu 826 Euro betragen kann. Alles in allem kann sich die Steuerlast für kinderreiche Haushalte so ermäßigen, dass sie nichts abführen. Ebenfalls attraktiv: die flächendeckende Einrichtung der kostenfreien Écoles Maternelles.
Junge Familien danken die Fürsorge mit Zeugungsfleiß. Im vergangenen Jahr meldete Frankreich einen Rekord: die höchste Geburtenrate der EU. Obwohl Frankreich rund 20 Millionen weniger Einwohner hat als Deutschland, kamen hier 831.000 Babys zur Welt, in Deutschland waren es 675.000. Damit liegt die Geburtenziffer pro Frau jetzt bei durchschnittlich 2,07 Kindern (in Deutschland 1,4).
Die demografische Entwicklung könnte, so das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, langfristig dazu führen, dass Frankreich die stärkste Wirtschaftsmacht in der EU wird: Viele Kinder erarbeiten mehr Wohlstand. Thomas Straubhaar, der Chef des Weltwirtschaftsinstituts in Hamburg, formuliert vorsichtiger: Die hohe Geburtenrate sei „ein psychologisches Zeichen für den Zukunftsoptimismus einer Gesellschaft“.
In der Tat ist es für französische Frauen selbstverständlich, beides zu haben: Familie und Karriere. 80 Prozent der Mütter mit zwei Kindern sind berufstätig; sie schätzen die gesellschaftliche Anerkennung, die sie durch den Beruf erfahren. Laut Cathérine Marry vom Centre Nationale de la Recherche Scientifique (CNRS), einer der deutschen Max-Planck-Gesellschaft vergleichbaren Forschungsorganisation, „schätzt man in Frankreich eine Mutter, die arbeitet, auch wenn sie ein kleines Kind hat. Man verbindet damit positive Wertvorstellungen.“
Viele junge Frauen verbringen nur den gesetzlichen Mutterschutz zu Hause – zwölf Wochen bei den ersten beiden Kindern, 16 ab dem dritten Kind –, dann geben sie das Baby zur Tagesmutter oder in die Krippe. Sandrine Lamer, Mutter eines 20 Monate alten Jungen, die jetzt ihr zweites Kind erwartet, denkt nicht einmal daran, ihre Stelle im Pariser Goethe-Institut aufzugeben. Halbtags zu arbeiten wäre eine Option, wenn dann das Geld noch reichte. Aber dass eine Frau ganz aussteige, sei höchst selten: „Wir Franzosen haben ein anderes kulturelles Verständnis von Mutter und Beruf als die Deutschen.“ Da Krippen und Vorschulen früh öffnen, Büros und Geschäfte aber selten vor neun Uhr, teilen sich viele Eltern den Kinderbringedienst; fürs Abholen kann man eine Tagesmutter auch stundenweise beschäftigen. „Alles ist organisierbar“, sagt Sandrine Lamer.
Sie selbst hatte ihr Kind schon während der Schwangerschaft für einen Krippenplatz angemeldet. Ein halbes Jahr überbrückte sie mit einer Tagesmutter, bevor der Platz frei wurde. Der Kleine geht gern in die Crèche. Dort hat er Freunde und einen festen Rhythmus: Spielen, Lernen, Essen, Schlafen – alles vollzieht sich nach klaren Regeln, „ohne dass der biologische Rhythmus der Kleinen gestört würde“, erklärt Lamer. Besonders wichtig: „Im Umgang mit anderen Kindern und anderen Bezugspersonen lernt mein Sohn soziales Verhalten.“ Später, in der Maternelle, kommt er in der großen Gruppe und mit den hohen Anforderungen an Lernen und Disziplin leichter zurecht.
Die École Maternelle ist als Einrichtung beinahe unantastbar. Dagegen spricht nicht, dass eine gewisse intellektuelle Lust an reformpädagogischen Ansätzen (weniger Drill) zu beobachten ist. Der Staat bezahlt die Lehrkräfte (gut 90 Prozent sind Frauen), die zum Lehrerexamen eine Zusatzausbildung in frühkindlicher, Pädagogik nachweisen müssen. Die Kommune stellt die Gebäude und finanziert den für jede Klasse verpflichtend vorgeschriebenen Assistenten, meist Frauen. Diese Hilfskraft ermöglicht es der Lehrerin, sich ganz auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie ist auch nötig, weil es zu den Grundregeln der Vorschule gehört, ein Kind nie auch nur einen Augenblick unbeaufsichtigt zu lassen.
Sicherheit hat absoluten Vorrang, auch beim Herumtoben auf dem Hof, auch beim Gang zur Toilette. Die im Klassenraum der Lyoner École Maternelle Joseph Cornier angepinnte Regel „Je vais aux toilettes seul(e) en demandand la permission“ kann nur meinen, dass das Kind auf dem Örtchen keine fremde Hilfe braucht. Dass sich ein, zwei oder mehr Kinder allein in einem Raum aufhielten – undenkbar.
Für spontane Ideen und „zielloses“ Spielen bleibt da wenig Zeit. Sie sind im Grunde auch nicht vorgesehen. Die Vorschule will Kinder nicht hüten, sondem die künftigen Staatsbürger heranbilden („former les futurs citoyens“), und das gelingt nun mal am besten über Sprachbildung, kulturelle Bildung und Persönlichkeitsbildung. Wo das nicht angemessen gelingt, etwa in sozialen Brennpunkten, verstärkt Vater Staat jetzt seine Fürsorge: Dort sollen möglichst alle Zweijährigen in die Ècole Maternelle gehen, damit sie die richtigen Dinge lernen.
Literatur: Simone Wahl: Bildung von Anfang an/Les Premier pas. Ein deutsch-französischer Vergleich. Dohrmann Verlag, Berlin 2006. 296 Seiten, 18,90 Euro.
aus dem Rheinischen Merkur Nr. 16/2007
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