Sonntag, 30. März 2008

»Gottes Fuß im Dorf«



1600 Kilometer entfernt von der Industriestadt Bochum: Jucu in Siebenbürgen soll zum Hightech-Dorf werden.





Nokia schließt ein Werk in Bochum und investiert in ein rumänisches Dorf: Dort hofft man auf 3500 neue Arbeitsplätze und eine sprudelnde Einkommenssteuer


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Von Katharina Lötzsch


Bis vor einem Jahr herrschte auf dem 159 Hektar großen Acker am Nordrand der siebenbürgischen Gemeinde Jucu Stille. Jucu – das war ein verschlafenes Dorf, etwa 1600 Kilometer entfernt von der deutschen Industriestadt Bochum. Die Bauern fütterten ihre Schweine fett und hofften auf eine reiche Maisernte. Doch seit Frühjahr 2007 dröhnen die Bagger. Sie bauen ein Hightech-Dorf im Dorf: das Nokia Village.

Für rund 30 Millionen Euro haben der rumänische Staat und der Landkreis Cluj/Klausenburg dem finnischen Mobilfunkhersteller einen Industriepark maßgeschneidert. Noch kurven Baumaschinen über das eingezäunte Gelände, stapfen Arbeiter in dicken Gummistiefeln durch den schlammigen Boden. Doch die Standortvorteile sind eindeutig: Das Gelände liegt direkt an der Nationalstraße Richtung Klausenburg. Sogar Bahngleise zum Nokia-Werk wurden gelegt, der Klausenburger Flughafen soll für 95 Millionen Euro ausgebaut werden, und von der im Bau befindlichen transsilvanischen Autobahn wird ein Zubringer direkt zu Nokia führen.

Der Handyhersteller selbst will laut Aufsichtsratsvorsitzendem Veli Sundbäck 200 Millionen Euro investieren – Peanuts für ein Unternehmen, das im vergangenen Geschäftsjahr 7,2 Milliarden Euro Gewinn eingefahren hat. 60 Millionen fließen allein in die neue Werkhalle: Ein grauer Klotz ohne Fenster, aber mit vielen Rolltoren, den das Bielefelder Bauunternehmen Goldbeck errichtet hat. Vor zwei Wochen liefen dort bereits die ersten Handys »Made in Romania« vom Band, zum 11. Februar will Nokia von Testbetrieb auf Serienproduktion umstellen. Die Geräte sind für den Verkauf in Rumänien bestimmt oder sollen nach Asien und Afrika exportiert werden.

»Die Ansiedlung ist kein Beispiel für Rumänien als verlängerte Werkbank«, sagt Marko Walde, Geschäftsführer der deutsch-rumänischen Außenhandelskammer in Bukarest. Eine Reihe von Faktoren wie die Größe des einheimischen Marktes, das Investitionsklima und das gut ausgebildete Personal in der Region böten Nokia eben die günstigsten Bedingungen in ganz Europa. Zu den ehrgeizigen Plänen der Finnen gehört beispielsweise auch ein Forschungszentrum. Schon kurz nach der Gründung des Standortes wurden die ersten Ingenieure angestellt. Die Universität Klausenburg gilt in Rumänien als Kompetenzzentrum in der IT-Ausbildung.

Nokia hat sich bisher allerdings einen Maulkorb verordnet. Pressesprecherin Monica Alb wiegelt konsequent ab. Dabei gab sich Manager John Guerry der für Nokia die Fertigungsanlage in Jucu aufbaut, noch im vergangenen Jahr auskunftsfreudiger: »Unsere Intention war, ein Werk in Osteuropa zu eröffnen, das einen wachsenden Markt bietet«, sagte der 36-jährige Texaner, der die neue Fabrik künftig leiten soll, der rumänischen Presse.

Bisher wurden etwa 100 Mitarbeiter rekrutiert, teilte Daniel Don, Direktor des Arbeitsamtes Klausenburg, mit. Bis Jahresende soll die Belegschaft auf 1000 Arbeitnehmer anwachsen, doppelt so viele wie bisher geplant. 8500 Bewerbungen auf diese Stellen habe das Arbeitsamt bereits erhalten – die wenigsten allerdings aus Jucu. Für die Bauern des Dorfes fallen nur unqualifizierte Jobs ab. »Etwa 30 Leute arbeiten derzeit für private Subunternehmer: Sie putzen, reparieren und montieren im neuen Werk«, erzählt Bürgermeister Joan Dorel Pojar. Direkt bei Nokia in der Handyproduktion angestellt zu werden, das könnten sich nur die Jungen, die 18- bis 30-Jährigen vorstellen. Die Älteren machen kein großes Tamtam um den neuen Industriegiganten, sie sprechen beim Bier kurz darüber – um danach zu diskutieren, was im Frühjahr auf den Feldern ausgesät werden muss.

Wenn das Werk 2009 seine volle Kapazität erreicht, werden 3500 Menschen in Jucu für Nokia arbeiten. Hinzu kommen mehrere Tausend Arbeitsplätze hei den Zulieferfirmen. »Nokias große Pläne waren seit Monaten bekannt, nur die Verlagerung der Kapazitäten aus Bochum kam überraschend«, sagt Marko Walde von der Außenhandelskammer. Die Entscheidung finde er aber keineswegs verwerflich. Sie sei lediglich Ausdruck von Chancengleichheit und Wettbewerb in Europa.

Dass Rumänien Nokia aus Deutschland weggelockt habe, will sich auch in Juni niemand vorwerfen lassen. »Wenn das Werk auf höchster Kapazität gefahren wird, kassiert der rumänische Staat von Nokia etwa 100 Millionen Euro Steuern pro Jahr«, sagt Landrat Mario Nicoara. Ebenso habe Deutschland von den Steuern profitiert, die Nokia seit Bestehen des Bochumer Werks gezahlt habe. In Jucu sollen allein die Einkommenssteuern der Angestellten pro Jahr mehr als 100 000 Euro bringen – eine riesige Summe für das Dörfchen. »Dass sich Nokia für uns entschieden hat«, sagt Bürgermeister Pojar, »ist so, als hätten wir Gottes Fuß zu fassen bekommen.« Von dem Geld will der 51-Jährige die Straßen im Dorf asphaltieren lassen und die Kanalisation erneuern.

Natürlich tue es ihm um die Nokia-Angestellten leid. Aber warum kommen Deutsche nicht zu uns arbeiten, so wie drei Millionen Rumanen im europäischen Ausland arbeiten, fragt er. Der Durchschnittslohn in Rumänien liegt derzeit bei rund 320 Euro, in der Provinz eher noch darunter.

Und nein, sagt Ioan Plan, man habe Nokia nicht mit europäischen Fördergeldern ködern können, wie oft fälschlich erwähnt. Das Geld für den Ausbau des Industrieparks »Tetarom 3«, in dem das Nokia Village rund 90 Hektar einnimmt, stamme ausschließlich aus den Kassen von Kreis und Staat. Das Gelände wird jedoch häufig mit dem Klausenburger Gewerbeareal »Tetarom 1« verwechselt, das mit mehr als drei Millionen Euro aus den Töpfen des europäischen Subventionsprogramms Phare gefördert wurde. EU-Geld war in den Bau des Autobahnzubringers geflossen – jedoch kein Cent in die Nokia-Produktionsverlagerung von Deutschland nach Rumänien.

Bürgermeister und Landrat sind derweil voll damit beschäftigt, den Boom von Jucu zu verarbeiten. Ioan Pojar zeigt stolz auf seine drei Nokia-Handys, die ganze Familie telefoniere seit jeher mit Nokia. Dann muss er sich verabschieden, es gibt Wichtiges zu diskutieren: Die Grundstückspreise in dem 4000 Einwohner zählenden Dorf sind explodiert. Mehr als 40 Euro wollen die Besitzer nun pro Quadratmeter Bauland, der vor zwei Jahren noch drei Euro kostete. Aber die neuen Nokia-Mitarbeiter müssen ja schließlich irgendwo wohnen. •


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Kniefall vor Nokia

Die gespielte Entrüstung der Politik und die Lehren aus Bochum. Ein Zwischenruf

Die Empörung aller Parteien über den drohenden Verlust von 2300 Arbeitsplätzen bei Nokia und nochmals 2000 Jobs bei den Zulieferfirmen darf nicht darüber hinwegtäuschen: Hier ist viel Heuchelei im Spiel. Schließlich trägt die Politik vor Ort, im Bund und vor allem auf der Ebene der EU für das gnadenlose Subventionsnomadentum der Konzerne – in diesem Fall Nokia – eine riesige Mitschuld. Da die unbehinderte, grenzüberschreitende Liberalisierung der Standortwahl im Rahmen des EU-Binnenmarktes gewollt ist, muss man sich nicht wundern, wenn Konzerne an den Standort wandern, der für die kommenden Jahre hohe Renditen abwirft.

»Wir haben sehr sorgfältige Analysen der Kosten und der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Bochumer Werks durchgeführt. Die Entscheidung zur Schließung ist genau durchdacht.« Aus der bornierten Sicht dieses Konzerns ist die Produktionsverlagerung in den Landkreis Cluj in Siebenbürgen zweifellos rational. Dabei geht es nicht nur um die Ausnutzung niedriger Löhne, denn deren Anteil am Produktionswert der Nokia-Handys ist mit unter fünf Prozent sehr gering. Vielmehr realisiert Nokia ein neues Produktionskonzept. Aufgebaut wird ein »Nokia-Dorf«, in dem auch die Zulieferfirmen ihre Produktionsstandorte ansiedeln. Modernste Infrastruktur auch mit Qualifizierungs- und Forschungseinrichtungen gehört dazu. Dieses »Nokia-Cluster« bietet für die nächsten Jahre hohe Renditen im Handygeschäft.

Die Fehler der Politik beginnen mit zeitlich befristeten Subventionen für einen Großkonzern. Die Landesregierung hätte die Subvention in eine Kapitalbeteiligung umwandeln sollen. Dann wäre die Politik bei der Entscheidung über den Standort Bochum im Aufsichtsrat dabei gewesen. Im Kniefall vor Nokia hat es die Politik versäumt, die öffentliche Förderung einer kleinteiligen, risiko-diversifizierten und wissensorientierten Wirtschaftsstruktur zu wagen.


»Bei der Empörung der Politik ist viel Heuchelei im Spiel«
Rudolf Hickel



Den Subventionsskandal komplettiert dann noch die EU. Aus dem Topf für den Aufbau der Infrastruktur ist der nagelneue Industriepark unterstützt worden. Um es klarzustellen: Der Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur zum Aufbau von Unternehmen ist gerade auch in Rumänien dringend erforderlich. Nicht akzeptabel ist jedoch, dass renditestarke Unternehmen wie Nokia einen zuvor subventionierten Standort schließen, um diesen jetzt an anderer Stelle mit Zuschüssen aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt zu eröffnen. Am Ende ist Nokia mit steigendem Profit der Sieger, während die Krisenkosten in Bochum vergesellschaftet werden.

So sind aus dem Fall Nokia wichtige Lehren zu ziehen. Dazu zählt der Boykott als Protestform der Konsumenten. Politisch muss es Mindeststandards für die Subventions- und Steuerpolitik sowie auch für die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Europäischen Union geben. Die Konkurrenz um die Standorte in der EU braucht gemeinsame Spielregeln. • Rudolf Hickel

Professor Rudolf Hickel ist Direktor des «Instituts Arbeit und Wirtschaft« in Bremen.
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aus Publik-Forum Nr. 3•2008


Extrapolieren wir das Ganze doch in die Zukunft: Irgendwo hinterm Mond werden dann von Wirtschaft und Staat zusammen Elite-Universitäten gebaut, die Studenten aus aller Herren Länder ausbilden, die nach ihrem Abschluß in der Fabrik nebenan dann Arbeit finden. Nach 20 Jahren ist die umgebende Infrastruktur soweit verbessert, die Preise für alles mögliche soweit gestiegen, daß der Troß dann weiterzieht. Wie sagte Bruno Jonas im Scheibenwischer vor einigen Wochen (sinngemäß zitiert): »Wenn die alle immer weiter nach Osten ziehen, dann brauchen wir nur einen langen Atem …«

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