Montag, 5. Mai 2008

Wir sind alle chinesische Tibeter …

Im Mai 1968 gab es ein Plakat, welches den roten Danny zeigte (heute ist er ja grün):

(Das ist nicht das ursprüngliche Plakat, der ursprüngliche Text lautete: »NOUS SOMMES TOUS DES JUIFS ALLEMANDS«, Daniel Cohn-Bendit ist nämlich Jude und Deutscher.)
Auch Alice (»Living next Door…«) hat davon berichtet.
Eine Arte-Sendung hat mich auf den Slogan aufmerksam gemacht. Elsa Clairon erzählt darin, wie sie als 14-Jährige die Mai-Tumulte in Paris erlebt hat. (Nicht schlecht, dieses arte, bei Barbara Salesch lernen wir nicht, was DIN A-4 ist.) Um es kurz zu machen: nirgendwo im Internet hat mir jemand erklärt, was mit dem Plakat gemeint ist. (Auch im Artikel von Karl Grobe wird es nicht klar.) Man muß sich halt selbst seine Gedanken machen (meinte übrigens schon Kant). So bin ich auf die Überschrift gekommen.

Inzwischen sieht man des öfteren »Free Tibet«-Aufkleber an Autos. Bin ich froh, daß ich mir kein Plakat gekauft und ans Praxis-Fenster geklebt habe! Es wirkt inzwischen so abgeschmackt. Von der Gesellschaft für Menschenrechte erhalte ich täglich Meldungen über neue Greueltaten (wahrscheinlich wird das nach der Neuen Deutschen Rechtschreibung mit »a« geschrieben, weil es angeblich von grau kommt). In den Nachrichten sehe ich entweder Chinesen, die auf die Straße gehen, weil sie – erfolgreich von der eigenen Propaganda vollgepumpt – sich von den westlichen Medien einer Hetzkampagne ausgesetzt fühlen, Chinesen, die unter Hausarrest stehen, drangsaliert werden oder ins Gefängnis gehen, weil sie Meinungsfreiheit fordern (Daniel Cohn-Bendit wurde übrigens 1968 aus Frankreich ausgewiesen, und ich erinnere an die Äußerung Sigmund Freuds anläßlich der Verbrennung seiner Bücher durch die Nazis: »Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heute begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen.«) oder welche, die keine Meinung haben oder sie nicht kundtun. Ist es nicht unglaublich billig, in unserem fetten und sicheren Wohlfahrtsstaat, der schon am Hindukusch verteidigt wird, »Free Tibet« rauszuschreien oder entsprechende Aufkleber bürgerlich anständig ans Auto- oder Wohnungsfenster zu kleben? Ach, was sind wir doch alle gut, und wir hätten damals Hitler nie im Leben gewählt!

Vor einigen Wochen erzählte ein Schauspieler einer Talk-Masterin vor der Sendung, er habe erst vor zwei Jahren erfahren, daß sein Vater bei der Stasi war. Ganz begierig sprach sie ihn daraufhin während der Sendung darauf an: Was er denn jetzt seinem Vater gegenüber empfinde. Aus der Satellitenschüssel stank es nach journalistischer Gier: komm schon, Du hast Dich doch bestimmt geschämt, und jetzt verachtest Du Deinen Alten. Wo ist das Richtige, wo das Falsche, wo die Heuchelei, wo das Billige, wo der Gruppendruck, wo bin ich in dem Ganzen? (Das Landgericht Köln hat im Februar übrigens dpa verboten, bestimmte Äußerungen über Eva Hermann zu machen. Auch das ZDF ist nach einer einer entsprechenden Abmahnung eingeknickt. Quelle: Seite von Eva Hermann) Was soll ich als Sportler jetzt sagen, wenn mich der nächste Wegelagerer fragt, wie ich meine politische Meinung während der Olympischen Spiele zum Ausdruck bringen will? Wollen jetzt alle der Eröffnungfeier fernbleiben? Oder gehen jetzt alle brav hin, weil die Sportfunktionäre damit drohen, Abweichler, die den Olympischen Frieden stören, aus der Mannschaft zu schmeißen?

1968, das war was!

Der Stadtwanderer schreibt:

»doch dann kam der schock: gemeinsam mit john carlos, dem dritten im olypmischen 200 m final, erhob tommie smith die schwarz bandagierte faust zur us-amerikanischen nationalhymne. noch heute läuft es mir kalt den rücken hinunter, wenn ich mich an den 17. oktober 1968 zurück erinnere.
dann ging alles schnell: noch während der siegeszeremonie wurden die beiden us-sprinter aus der amerikanischen mannschaft ausgeschlossen! mein held, von bekloppten ami-sportfunktionären in die wüste geschickt! wie konnte man nur!, musste ich wissen.
aber ich bekam keine antwort. sicher hat mein amerika-bild damals schweren schaden genommen; sicher bin ich seither schlecht zu sprechen, wenn ich nur schon das wort "funktionär" höre.
aber ich weiss, dass ich in sekundenschnelle begriff, was soziale ungerechtigkeit ist, und wie nationalstolz und sozialer zorn zusammen hängen. denn diese siegerehrung hat mich politisiert. mit sympathien für benachteiligte gruppen. und der ausschluss hat mich schockiert, mit antipathie für sturheit, überlegenheit und rassismus. dass tommie smith am letzten tag der spiele - heute vor 38 jahren - auch noch auf lebzeiten für olympische spiele gesperrt wurde, gab mit den rest.«


Die Stuttgarter Zeitung hat John Carlos vor kurzem interviewt.

Immer, wenn wir in den 80ern über die RAF diskutierten, mußte man bei jeder staatskritischen Äußerung den Satz vorausschicken: »Natürlich stehe ich auf dem Boden des Grundgesetzes.« Wo ist hier die Demokratie, und wo fängt der Terrorismus an? Also kehre doch jeder vor seiner eigenen Tür! Wie sagte Osho sinngemäß so schön: »Der chinesische Staat mag eine neue Tradition sein, er ist aber immer noch eine Tradition. Die einzig wahre Rebellion ist die gegen dich selbst.« Also: Wir sind alle Chinesen und alle Tibeter…

Das Einzigartige in den 68ern war die Verknüpfung gesellschaftlicher mit innerer Realität. Das, was in mir ist, hat mit dem, was außerhalb von mir ist, etwas zu tun. Und das war eine Erkenntnis nicht weniger Intellektueller sondern breiter Bevölkerungsschichten. Diese Verknüpfung stellt das Plakat her. Es benutzt die Außenwelt als Spiegel des Inneren.

Wenn John Carlos und Tommie Smith bei der Siegerehrung die behandschuhte Faus heben und damit für die Black-Panther-Bewegung demonstrieren (von lat. demonstrare, hinweisen, verdeutlichen), lösen sie, wie Stadtwanderers Bericht eindrucksvoll schildert, etwas aus. Als Fritz Teufel auf den Hinweis, er solle aufstehen, wenn der Vorsitzende Richter den Saal betrete, antwortete: »Na, wenn’s der Wahrheitsfindung dient«, war das damals ein Brüller. Gottfried Oy führt in einem lesenswerten Artikel der Zeit aus: »Von nun an nutzte er alle Verhandlungen zur Karikierung der Machtrituale.« Was tun wir, wenn wir Plakate an die Fenster hängen »Free Tibet!«? Wer wird aufgerüttelt, bei wem fällt der Groschen? Welches gesellschaftliche Bewußtsein wird hier verändert?

Es ist nicht so, daß mir die Tibeter egal sind. Der Dalai Lama ist uns so sympathisch, daß uns die Tibeter automatisch sympathisch ist. Deswegen ist uns ja der Dalai Lama so sympathisch, damit uns seine Tibeter sympathisch sind. Natürlich tritt er keinem auf die Füße, so wie Osho. Er strengt sich an, lieb und nett und freundlich rüberzukommen. Über das Zölibat oder die Gleichberechtigung der Frauen machen wir uns nur in Bezug auf die katholische Kirche Gedanken, der tibetische Buddhismus bleibt da außen vor.

Was wollen wir also für die Tibeter? Einen eigenen Staat, kulturelle Autonomie, Religionsfreiheit? Meine Bodenschätze gehören mir? Wie kann man die Chinesen erreichen? Was wollen wir in ihren Köpfen erreichen? Was hätte man während der Olympischen Spiele in Los Angeles tun können, um auf die weiter bestehende Unterdrückung der Indianer aufmerksam zu machen? Kopfschmuck tragen? Was hätte das bewirkt? (siehe auch »Fernseh- und Filmtips« vom 21.4., Stichwort »Halbblut«)

Wenn man sich ansieht, daß jeder Schreiberling, wenn er über Eva Hermann was zu Papier bringt erwähnt, daß sie wegen ihrer umstrittenen Äußerungen zur Nazizeit in der Kritik steht, ist das genau das, was uns, wenn wir im Fernsehen die Demonstrationen von Chinesen gegen die westliche Berichterstattung sehen, ungläubig schauen läßt: Wie kann das sein? Einer schreibt vom anderen ab und alle glauben es. Wir glauben, daß Eva Hermann die NS-Familienpolitik gut fand, und die Chinesen glauben, daß die Tibeter Dalai-Lama-gesteuerte Terroristen sind. Die andere Massendummheit hat halt Schlitzaugen. Aber ist schlitzäugige Volksverdummung schlechter? Wir sollten uns an unsere eigene Nase fassen: Wir hätten bei unserer Medienvielfalt viel bessere Möglichkeiten, uns zu informieren. Wie hat denn die amerikanische Berichterstattung von Anti-Irakkrieg-Demonstrationen funktioniert? Es ist peinlich, so furchtbar peinlich!

Also: Bevor wir den Chinesen vorschreiben, wie sie mit den Tibetern umzugehen haben, sollten wir uns überlegen, wie viele Demonstrationen stattgefunden haben und wie viele Leute auf die Straße gegangen sind, ja, ob es überhaupt eine Zeitungsmeldung wert war, daß die USA Raketen in Polen und Tschechien stationieren wollen und damit die gleiche Ausgangslage schaffen, die 1963 zur Kuba-Krise führte. Also: Wie erreichen wir China und was wollen wir erreichen? Bestimmt nicht in Bild-Zeitungs-Manier. Und bestimmt nicht durch Finger-Zeigen. Im Film »Reine Nervensache«, in welchem der von Robert De Niro gespielte Mafia-Boß einen Psychoanalytiker zwingt, ihn wegen Angstanfällen zu behandeln, erklärt der Analytiker den Ödipus-Komplex, nachdem der kleine Junge seine Mutter sexuell begehrt. »Scheiß-Griechen«, reagiert der Mafiosi und fährt fort: »Haben Sie mal meine Mutter gesehen?« und später: »Seitdem ich das mit Freud gehört habe, habe ich Angst, meine Mutter auch nur anzurufen.« Die Systemiker sagen: »Der Empfänger bestimmt die Botschaft.« Mit Fingerzeigen werden wir die Chinesen nur in die Defensive drängen. Wenn wir für Tibet etwas tun wollen, brauchen wir offene Ohren, zumindest so offen, daß wenigstens ein gewisser Prozentsatz durchdringt. Einfach nur draufhauen bringt nichts. Gutmenschentum ist hier fehl am Platz. Ich fordere also zu einem Denkprozeß auf. Wenn wir alle Chinesen sind, dann sollten wir uns überlegen, wie wir selbst mit Kritik umgehen bzw. umzugehen in der Lage sind, wie wir selbst mit unserem Tun andere dazu bringen, uns eben nicht zuzuhören sondern sich einfach nur angegriffen zu fühlen. Das dient nun wirklich nicht der Wahrheitsfindung! Also: Wir sind alle Chinesen, ob mit oder ohne Schlitzaugen…


2 Kommentare:

  1. noch was zu DIN A 4:
    Das Verhältnis 1 zu 2 wird in der nach ihrem "Erfinder" benannten Fibonacci - Reihe wie folgt verfeinert: Die letzte Zahl (2) bildet nun die Breite und die Summe der beiden Zahlen die Höhe (1 plus 2) woraus dann das Verhältnis 2 zu 3 entsteht. Das lässt sich endlos fortsetzen (3:5 - 5:8 - 8:13 - 13:21 - 21:34 - 34:55 usw) Damit nähert man sich immer mehr dem "Goldenen Schnitt". Diese Verhältnis von prportionen lässt sich in vielen Bereichen der Natur beobachten. Wie wir das nun auf unsere gesellschaftlichen Probleme übertragen können, ist eine Aufgabe für fortgeschrittene Glasperlenspieler.

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