Dienstag, 11. Dezember 2012

Beflügelt von den Farben des Lebens


Der Engel mit der Palette, 1927-36
Ich weiß nicht,
woher Chagall diese Bilder nimmt.
Er muß einen Engel
im Kopf haben.
Pablo Picasso


Der Maier mit dem Engel im Herzen (oder im Kopf) – treffender kann man Chagall kaum bezeichnen. Von frühester Kindheit an ist Chagali mit den himmlischen Boten vertraut. Mit der Feier eines jeden Sabbats hatte die Familie Gott darum gebeten, er möge die Engel des Himmels eintreten lassen, die Frieden brachten und tiefe Seelenruhe nach den Anstrengungen und dem Kraftverschleiß des Alltags. Woche für Woche erlebte der kleine Marc diese Verwandlung der Welt im Kreis seiner Familie, Freunde und Nachbarn. Das waren keine frommen Illusionen. Die Ordnung des Sabbats trug wohl sehr zu seinem aufgeräumten Wesen bei. Chagall erlebte gewissermaßen handgreiflich, sinnenhaft und darum buchstäblich begreifbar, wie die Welt immer neu aufgebrochen wurde für die Wirklichkeit Gottes, die einen Frieden und eine Freude brachten, die sich die Welt selber nicht geben konnte. Deshalb komponiert er immer wieder Engel in seine Bildbotschaften hinein. Damit wird er am Ende sogar selber zum Engel mit Palette, der die Welt als beseelt erkennt und das Unsichtbare für alle auf der Leinwand sichtbar macht. Seine Farben empfängt er dabei aus der jenseitigen Welt – hier verkörpert in den bunten Flügeln des Engels. Seine Palette aber ist nicht leer, sondern weiß, sie trägt den Ton des Lichts, die Summe aller Farben.


Der Engel mit der Palette

Unter allen Engeln Gottes, die von Ewigkeit an das Lob des Höchsten singen, gab es einen, den eines Tages eine tiefe Traurigkeit erfüllte. Er hatte eine glockenreine Stimme, war musikalisch wie kaum einer im großen Engelschor und man liebte seine Lieder in den unendlichen Weiten des Himmels wie am ersten Tag. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Der Engel hatte das Gefühl, dass die Menschen auf der Erde die Kunst verlernt hatten, die Engel singen zu hören. Zwar versuchten sie, das Leben zu genießen wie nie zuvor. Aber die Dinge waren leer geworden, seelenlos, seit die Stimmen des Himmels scheinbar verstummt waren. Die Menschen waren darüber spürbar unzufrieden und rastlos geworden. Es schien dem Engel, als ob sie die Übereinstimmung mit ihrem Leben verloren hätten. Wie sollten sie aber in ihrer endlichen Welt noch leben können ohne Kontakt mit dem Unendlichen? Wie sollten sie ihr Leben verstehen, ohne die Lieder der Engel zu vernehmen, die von der Liebe sangen, dem letzten großen Geheimnis des Lebens? Was sollte ihrem Dasein Licht und Wärme geben, wenn sie den Funken der göttlichen Gegenwart nicht mehr erkannten, der jedem von ihnen innewohnt? Lange schon bewegte der Engel diese traurigen Gedanken in seinem Herzen, als ihm unvermutet ein Einfall kam. Wenn sie schon nicht mehr die Aufmerksamkeit aufbringen können, uns zu hören, so dachte er, vielleicht gelingt es, ihnen Bilder in die Seele zu senken, die sie daran erinnern, dass ihr Leben mehr ist, als sie vermuten. Vielleicht konnten die Menschen in ihren Träumen wieder zu den Malern und Künstlern ihres eigenen Lebens werden? Vielleicht beseelten sie diese Bilder wieder? Ja, vielleicht gelang es sogar, sie auf diese Weise wieder daran zu erinnern, dass Gott selbst in ihren großen und guten Gedanken wohnte und er selbst in ihnen träumte. So geschah es, dass unser Engel ab diesem Tag nicht mehr zum Chorgesang erschien. Und als der himmlische Chorleiter nach ihm suchen ließ, fand man ihn, wie er auf einer Palette die Farben des Lebens mischte und traumbunte Bilder malte. Seit jenen Tagen ist der Engel mit der Palette Stunde uns Stunde unterwegs, um die heilenden Bilder und Botschaften des Himmels in die Herzen achtsamer Menschen zu senken.




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