Donnerstag, 6. Dezember 2012

Ein aufgeweckter Träumer

Kuhstall, 1917, Sprengel-Museum, Hannover

Marc Chagall war zeitlebens ein aufgeweckter Träumer. Wie selbstverständlich öffnet sein Werk die mir vertraute kleine Welt, die mich ebenso geborgen wie gefangen hält, für eine ungleich reichere Wirklichkeit. In kraftvoll visionären Bildern greift Chagall weit in die Ferne – und kommt dabei ganz nah an das Geheimnis des Lebens. Dieses Geheimnis scheint größer und bunter zu sein als das Haus des Lebens, in dem ich mich eingerichtet habe.
Chagalls Bild Der Stall aus dem Jahr 1917 illustriert dies in einer höchst eingängigen Sprache. Der übermächtige Kopf einer Kuh mit großen sanften Augen und einem ebenso sehnsuchts- wie vertrauensvollen Blick durchbricht in leuchtendem Sonnengelb die schwarzblaue Nacht. Wie befreit stößt sie aus der Dunkelheit und Enge durch das Dach ihres Stalls, der offenbar zu klein geworden ist und das Tier nicht mehr fassen kann. Die Kuh ist ein Sinnbild für alles, was lebt. Schon früh erfährt sie der kleine Marc als seine Ernährerin und als diejenige, die dem Pflug ihre Kraft leiht. Im Bild Der Stall werden die Kreatur und der Künstler eins. „Das alte Haus, das niedrige Dach. Es ist dunkel. Die kleinen Fenster sind verriegelt. Ich habe als erster die Tür geöffnet“, schreibt Chagall in einem seiner Gedichte über sein geliebtes Elternhaus. „Und bin hinausgegangen und habe die Hand in die Ferne gestreckt.“
Es gibt kein Bleiben. Leben ist Werden, Wachstum und Entwicklung: Die eigenen Grenzen überschreiten, das Andere suchen, um ganz zu sich zu kommen; das Dunkel durchdringen, um die Farben des Lebens zu finden – das ist die Botschaft eines aufgeweckten Träumers, der mich aufrüttelt aus der Apathie meines Alltags und der Banalität meiner Betriebsamkeit.


Zum Träumen erwachen 

Wer sagt denn, dass die Wachen 
aufgeweckter seien als die Schlafenden? 
Es gibt eine Wachheit, 
die die Kunst zu träumen nicht verlernt hat. 
Wenn wir das noch könnten: 
zum Träumen erwachen – 
 nicht, um das Leben zu träumen, 
sondern, um den Traum zu leben.






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen