Sonntag, 28. April 2013

»Auch du, Uli?«

Nach Peter Graf, Klaus Zumwinkel, Boris Becker, Paul Schockemöhle, Freddy Quinn, Ludwig-Holger Pfahls wird nun auch Uli Hoeneß als Steuerhinterzieher geoutet. Die bundesdeutsche Empörungsmaschinerie läuft natürlich an…

Anstatt die moralische Keule zu schwingen, könnten wir unsere moralische Empörung – oder auch unseren Neid – ein wenig zurückdrängen und ein wenig über die Hintergründe herauszufinden versuchen. Dabei ist eine psychologische Betrachtungsweise von Nutzen. Die obengenannten Personen repräsentieren in der Tendenz nämlich eher eine überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft und werden erst einmal nicht als »böse« oder »schlecht« gefühlt.

Dem Satz der systemischen Therapie »Das Problem ist eine Lösungsstrategie.« bietet einen Verstehens-Ansatz: Wir haben es hier mit dem Phänomen der Entsolidarisierung zu tun: diese Menschen fühlen sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, nicht mehr solidarisch – zumindest im Hinblick auf ihre Steuerbelastung. Wir können fragen: Woher kommt diese Entsolidarisierung?

Der Satz »Aus Opfern werden Täter« eröffnet eine weitere Frage: Inwiefern haben sich diese Menschen als Opfer gefühlt, so daß sie sich das Überschreiten einer gesetzlichen Grenze erlauben durften?

Der Schauspieler Gerard Depardieu urinierte im August 2011 auf den Flugzeuggang, weil ihm die Stewardess während der Startphase den Gang zu Toilette untersagt hatte. Januar 2013 erhielt Depardieu auf Antrag die russische Staatsbürgerschaft. Zuvor hatte die französische Regierung unter François Hollande die Einführung einer 75%igen Reichensteuer beschlossen. Die Rückgabe seines französischen Passes kommentierte der Premierminister Jean-Marc Ayrault, dies habe schon etwas Armseliges. Depardieu selbst: »Ich habe einen russischen Pass, aber ich bin Franzose.« (alle Infos aus Wikipedia)
In der Betrachtung von Extremen wird häufig das Normale verstehbarer.
Depardieu mag sich nicht sagen lassen, was er zu tun hat. Und er fühlt sich weiterhin als Franzose. Seine Entsolidarisierung bezieht sich also nicht auf seine Mitbürger sondern auf den französischen Staat.

Vor wenigen Wochen las ich, Depardieu habe dem Staat bisher 145 Millionen Steuern gezahlt. Und in seinem Pariser Viertel habe er keineswegs als Egoist gegolten: Er habe Gewerbetreibenden aus der Pleite geholften und Kneipen und ein Fischgeschäft gekauft, damit der Stadtteil weiterleben kann. (Osho-Times, März 2013)
Auch Uli Hoeneß ist sozial engagiert, und er scheut keine Auseinandersetzungen.

Ich finde es interessant, sich in diese Menschen hineinzuversetzen und mir vorzustellen, wie sie sich fühlen.

Wenn die »Welt« schreibt, »die Moral, die Hoeneß predigte, wird nun als Doppelmoral entlarvt« oder Sylvia Schenk (Sportbeauftragte bei Transparency International) meint: »Uli Hoeneß schmeißt mit Felsbrocken in einem Glashaus« oder der »Tagesspiegel« fragt: »Auch du, Uli?« und von einer »menschlichen Enttäuschung« redet, hilft die moralische Keule beim Verstehensprozeß nicht.

Genüßlich zitiert der »Stern« Hoeneß:
»Natürlich will ich Erfolg, aber nicht um jeden Preis. Wenn es um Geld geht, muß man auch mal zufrieden sein.«  (2011 in »Brand Eins«)
»In den vergangenen 20 Jahren sind in der Finanzwelt Menschen am Werk gewesen die einen katastrophalen Job gemacht haben. Uns wurde vorgegaukelt, daß viele Finanzprodukte so unglaublich wichtig seien. Dabei hatten diese nur ein Ziel: die Taschen gewisser Leute voll zu machen.« (2012 in der »Welt«)
»Die Finanzwelt zeigt keine Bereitschaft, zur Volkswirtschaft beizutragen. Eine Krankenschwester trägt mehr zur Volkswirtschaft bei als ein Spekulant. Wenn ich sehe, daß Optionsscheine für Reis steigen, sage ich zu meienr Frau: ›Das bedeutet, daß Menschen hungern müssen, weil sie sich keinen Reis mehr kaufen können.‹« (2011 in »Brand Eins«)
»Es ist doch unklug, solche Dinge zu machen, denn irgendwann kommt doch immer alles heraus. Und es kann doch nicht der Sin der Sache sein ins Gefängnis zu wandern, nur um ein paar Mark Steuern zu sparen.« (2012 in der »Welt«).
»Mir ist inzwischen egal, ob ich 20, 5 oder 100 Prozent Steuern zahle. Mir geht es um die kleinen Leute.« (2002 in der »Abendzeitung«)

Erst einmal scheinbar Widersprüche, mit Sicherheit aus dem Zusammenhang gerissen, aber ich meine, da etwas durchschimmern zu sehen: eine große Unzufriedenheit.

Und vielleicht auch so etwas wie eine doppelte Buchführung.
Aber vielleicht ist nicht nur Hoeneß unzufrieden und macht eine doppelte Buchführung, vielleicht tun wir das auch. Und vielleicht beneiden wir Hoeneß nicht nur um seine Millionen sondern auch um die Gelegenheiten, sein Geld am Fiskus vorbeizuschleusen. Und wenn Angela Merkel aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aussteigt: Müssen wir dann von einer multiplen Buchführen, einer chaotischen oder überhaupt keiner reden? Und wenn George Bush Präsident wird, obwohl ihm weniger Menschen ihre Stimme gegeben haben als Al Gore, und wenn die USA(, deren Präsident seine Wehrzeit statt in Vietnam an der Heimatfront abgedient hatte,) mal kurz die gesamte UNO hinters Licht führen und mit dem Argument »Massenvernichtungswaffen« einen Krieg anzetteln, an dem sich dann die Öl-Mafia goldene Nasen en masse verdient: Was ist das für eine Buchführung?

Es läßt sich darüber spekulieren, ob die Entsolidarisierung einzelner (oder vieler) Wohlhabender und ihre doppelte Buchführung nicht ein Spiegelbild der sich entsolidarisierenden politischen Klasse und ihrer doppelten Buchführung ist. Gier ist wahrhaftig eine der wichtigsten Kräfte des (entfesselten) Kapitalismus. Und ich sehe Gier, Egoismus, doppelte Buchführung und Entsolidarisierung oben wie unten.

Professor Kernberg, einer der bekanntesten Psychoanalytiker der Gegenwart, rief in einer Rede vor einigen Jahren in Deutschland dazu auf, nach dem Hitler in uns zu suchen. Er bekam kaum Beifall. Das kann ich verstehen.

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