Dienstag, 18. März 2014

«SIE VERSTEHN MISCH NISCH? KRASS!»



Die Korrektur von Klausuren, Klassenarbeiten und Tests an einer Sekundarschule kann zu Depressionen führen, wenn man sich als Lehrer einreden lässt, für die Ergebnisse mitverantwortlich zu sein. Im Gegenzug wird man natürlich auch immer wieder mit interessanten Überraschungen belohnt, denn gerade die schwachen Schüler gehen oft sehr kreativ mit ihrem Nichtwissen um. Grob lassen sich falsche Antworten in drei Gruppen einteilen: a) Antworten von Schülern, die wissen, dass sie die Lösungen nicht kennen; b) Antworten von Schülern, die glauben, dass sie die Lösungen wissen; und c) Antworten von Schülern, welche die Antworten möglicherweise kennen, aber den Arbeitsauftrag aus sprachlichen Gründen nicht verstehen beziehungsweise bewältigen können.


Eine Aufgabe wie Erkläre bitte, warum Städte früher häufig bei Brücken gegründet wurden! lässt sich folglich auf ganz verschiedene Arten bewältigen. Etwa richtig: Flüsse konnten nur an wenigen Stellen überquert werden, daher trafen an Brücken viele Menschen aufeinander. Händler und Kaufleute konnten hier ihre Geschäfte tätigen, die Dienste von Handwerkern wurden bald gebraucht. So entstanden häufig ganze Städte




Die Schüler der Gruppe a), die die Lösung nicht wissen, weil sie nicht gelernt haben, würden die Aufgabe einfach überspringen.
Ein typisches Angebot aus Gruppe b) würde lauten: An der Brücke ist es schön.
Diejenigen, die zur Gruppe c) gehören, könnten folgende Erklärungen abgeben: Alle trafen sich hier. Hier war Heirat möglich. Auch Haus mit vielen Sachen. Musstu wissen, weißdu! Gehst du Brücke, nich nass.
Die originellsten Lösungsvorschläge kommen aber meistens aus der Gruppe b):

 
1.  Erkläre anhand der amerikanischen Verfassung, was mit Gewaltenteilung gemeint ist.
    Antwort: Gewalt ist nicht gut.
2.  Erkläre, warum die Besiedlung des amerikanischen Kontinents für die Indianer ein Unglück darstellte.
    Antwort: Weil sie keine Sachen anhatten. Da sind sie erfroren.
3.  Nenne eine Gruppe von weißen Siedlern, die von der Ostküste an die Westküste Amerikas zogen.
    Antwort: Die Indianer.
4.  Ordne die Aussage «Mehr als Gold haben Lettern aus Blei die Welt verändert» einem konkreten geschichtlichen Ereignis zu, das diese Aussage erklärt!
    Antwort: Mittelalter.

Wenn diese Schüler ahnen, dass sie zwar einen Teil der Antwort kennen, aber nicht die ganze, greifen sie zu phantasievollen und lustigen Tricks, um vielleicht doch noch die volle Ausbeute an Punkten einzuheimsen:

1.  Nenne drei Personengruppen, die durch den sozialen Arbeitsschutz besonders abgesichert werden. Richtig wäre: Mütter, Jugendliche, Behinderte. Für jede Nennung gäbe es einen Punkt. Einmal schrieb einer meiner Schüler: Mütter, Väter, Eltern. Ein anderer: Blinde, Rollstuhlfahrer und Behinderte.

2.  Nenne die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Eine Schülerin versuchte es damit: Die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sind Deutschland, England, Frankreich, Polen, Italien, Schweden, Schweiz, Holland, Spanien, Portugal, USA, China, Russland und Dänemark. Welche Länder es genau sind, weiß ich aber nicht. Bitte kreuzen Sie die richtigen für mich an, Herr Serin!

Regelmäßig projiziere ich, um die Schüler für die richtigen Lösungen zu sensibilisieren, ihre falschen an die Wand. Anschließend bitte ich sie, zu diesen die entsprechenden Arbeitsaufträge zu fomulieren. Der Erfolg stellt sich nicht sofort ein. Lange Zeit kämpfe ich vor allem mit Niederlagen:
«Wie könnte die Frage zu folgender Antwort lauten: Weil sie keine Sachen anhatten. Da sind sie erfroren. Ja, Kenneth?»
«Wer ist erfroren?»
«Nein! … Angelina?»
«Warum sind sie erfroren?»
«Nein. Auch nicht. Die Aufgabe lautet: Erkläre, warum die Besiedlung des amerikanischen Kontinents für die Indianer ein Unglück darstellte! Ich hoffe, ihr begreift, warum diese Antwort falsch ist.»
Die meisten Schüler sind oft nicht der Meinung, die Antworten sein falsch, sondern argumentieren, die Arbeitsaufträge seien falsch gestellt.
Ein weiterer Fall: «Die Indianer. Auf welche Aufgabe könnte das eurer Meinung nach die Antwort sein? Ja … Roy.»
«Welche Weißen zogen in Amerika von Ost nach West?»
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Roys eigene Antwort gewesen war und dass er sich die dazugehörige Frage gemerkt hatte.
Alternativ dazu verlange ich von meinen Klassen, vor der Lösung einer Aufgabe diese in eigenen Worten zu erklären. Hat man die Aufgabenstellung verstanden, kann man immer noch falsch antworten. Ein Mindestmaß an sprachlicher Kompetenz ist für das inhaltliche Erfassen von Arbeitsaufträgen allerdings unabdingbar. Gerade an der Kevin-Prince-Boateng-Sekundarschule haperte es diesbezüglich bei vielen Jugendlichen mit nichtdeutscher Muttersprache:
«Nuri. Hier steht: Beurteile, ob die Herrschaft Ludwigs XIV. aus der Sicht eines Bauern gerecht war! Gib die Aufgabe bitte in eigenen Worten wieder. Sag, was du jetzt zu tun hast!»
«Weiß nisch. Was habisch zu tun?»
«Du sollst dir die Aufgabe durchlesen und mir dann erklären, was du machen sollst.»
«Die Aufgabe durschlesen.»
«Und?»
«Hab durschgelesen.»
«Und, was sollst du machen?»
«Aufgabe durschlesen.»
«Und was steht drin in der Aufgabe?»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwig … aus den Bauern gerecht war!»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwigs XIV. aus der Sicht eines Bauern gerecht war.»
« … aus der Sicht eines Bauern.»
«Und jetzt mal in eigenen Worten. Was steht dadrin?»
«Beurteile, ob die Herrschaft Ludwig aus der Sicht … »
«In eigenen Worten sollst du es sagen.»
«Sag isch doch.»
«Du liest nur vor.»
«Kann nisch anders sagen.»
«Los, versuch es! Versuch in eigenen Worten zu sagen, was in der Aufgabe steht. Mensch, Nuri! Das ist doch nicht so schwer.»
«Urteilen die Herrschaften. Sehen die Bauern Ludwisch gerescht.»
«Nuri! Was meinst du? Ich versteh nich.»
«Escht!? Herr Serin. Sie verstehen nisch? Krass. Ich dachte, Sie Lehrer. Isch dachte, nur wir verstehen nisch. Sie verstehn misch nisch.»
Mir war klar, dass ich vermutlich dem Siebtklässler Nuri zunächst die Fünf-Schritt- Lesetechnik, die eigentlich zur Erschließung längerer und komplizierter Texte diente, beibringen müsste, damit er sie auf den Einzelsatz anwenden konnte:

1.  Lies dir den Satz Beurteile, ob die Herrschaft Ludwigs XIV. aus der Sicht eines Bauern gerecht war! bitte zunächst einmal zügig durch, um dir einen Überblick zu verschaffen. Zunächst sollst du dir eine grobe Vorstellung vom Inhalt und Aufbau des Satzes machen.
2.  Überlege, welche Fragen in diesem Satz zum Ausdruck kommen. Zur Übung kannst du die Fragen auf einen Zettel schreiben.
3.  Lies den Satz jetzt gründlich durch. Denke dabei an die Fragen, auf die dir der Satz Antwort geben soll. Mache kleine Pausen, damit sich das Gelesene festigen kann.
4.  Teile den Satz in Sinnabschnitte und fasse jeden Sinnabschnitt in eigenen Worten zusammen. Finde für die einzelnen Sinnabschnitte des Satzes Überschriften.
5.  Fasse nun zusammen, worum es in dem Satz insgesamt geht.

Aber wie soll man das bei zwei Stunden in der Woche schaffen, ohne die besseren Schüler zu vernachlässigen? Wahrscheinlich hätte Nuri schon die einzelnen Schritte der Fünf-Schritt-Lesetechnik nicht verstanden. Aber es war mir nicht möglich, für jeden Schüler, der kaum Deutsch konnte, einen Dolmetscher mit in den Unterricht zu bringen. Und für welche Sprache überhaupt, wenn manche Jugendliche nicht einmal ihre Muttersprache beherrschten? Dennoch: Bei aller Verzweiflung über den oftmals ausbleibenden Lernfortschritt finde ich es manchmal sogar besser, wenn Jugendliche falsch antworten. Da weiß ich wenigstens nicht vorher, was mich erwartet. Es gibt nichts Langweiligeres, als wenn alle Schüler die Lösungen kennen. Dann liest man nämlich bei der Korrektur von Tests und Klassenarbeiten über zwanzigmal immer wieder das Gleiche.


November 2010, Kevin-Prince-Boateng-Sekundarschule, Wedding, Geschichte, 10. Klasse

Ich: Mensch, du könntest wirklich besser sein!
Nadeshda: Ist aber langweilig.
Ich: Ja und. Meinste, mit der Einstellung wirst du später jemanden überzeugen, dich einzustellen?
Nadeshda: Ich will nicht arbeiten. Ich nehm mir 'nen reichen Mann.
Ich: So gut siehst du aber auch wieder nicht aus.


aus Stephan Serin, Musstu wissen, weiss’ du, rororo 2012


siehe auch:
- Föhn mich nicht zu (Post, 05.09.2010)

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