Dienstag, 30. Dezember 2014

Die Kraft des Tai Chi wohnt hier nicht mehr. Eine Erweckungsgeschichte

Tai Chi ist gut für die Harmonie. Und für die innere Ruhe. Vorausgesetzt, man weiß was das ist. So sprach vor langer Zeit zu mir eine Tai-Chi-Begeisterte, der ich ganz frisch in Liebe zugetan war. Damals lebte ich in einer Hinterhofwohnung in Berlin-Friedrichshain, wo es sich anfühlte, als lebte ich auf dem Flughafen. Der Hinterhof hinter der Hinterhofwohnung war riesig und beherbergte ein Plexiglas-Sägewerk, eine Autowerkstatt und eine Sammelstelle für Altglascontainer. Dass die vor dem Haus haltende Straßenbahn bimmelte, fiel nur auf, wenn es dunkel wurde und im Hinterhof Ruhe einkehrte (bis sechs Uhr morgens).

Und so saß ich mit meiner neuen Freundin bei einem schlechten Inder um die Ecke und lauschte ihrem Lob des Schattenboxens. »Da wird man total ruhig und tankt auch noch viel Kraft«, sagte sie mit würdevoller Stimme, während mir das brüchige Papadam aus dem offenen Mund rieselte. Welche Kraft es denn da zu tanken gebe, fragte ich vorsichtig. »Na, Energie. Das kannst du spüren.« Wie denn das? wollte ich wissen. Sie schaute mich mit großen Augen an, als wäre ich frisch entlaufen. »Wenn man die Hände aneinander reibt. Wir massieren uns auch gegenseitig die Füße – wunderbar. Und wir machen Qigong und formen einen unsichtbaren Ball aus purer Energie! Damit wir warm werden.« Ich glaubte, hier pfeift das Vögelchen. Doch sie dachte das auch von mir und blitzte mich an: »Was, du bist nicht ein bisschen spirituell? Du armer Mann!«

mehr:
- Du armer Mann! – Die Kraft des Tai Chi wohnt hier nicht mehr. Eine Erweckungsgeschichte (Jackson Müller, junge Welt, 29.12.2014)
Eine Postkarte, die mir mal jemand geschickt hat

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen