Donnerstag, 24. März 2016

Der Mars greift an

Zum Neoliberalismus gehört der Krieg. Über die NATO-Aggression 1999 gegen Jugoslawien und ­darüber, dass »Deutsche wieder töten, aber nicht ­sterben dürfen«

Am heutigen Mittwoch feiert der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug seinen 80. Geburtstag. Der Emeritus der Freien Universität Berlin ist Mitbegründer und Herausgeber der seit 1959 erscheinenden Zeitschrift Das Argument und zudem Mitherausgeber der kritischen Gesamtausgabe der »Gefängnishefte« von Antonio Gramsci sowie des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus«. Wir gratulieren Haug und veröffentlichen aus seinem jüngst erschienenen»Werkstatt-Journal 1990–2000«an dieser Stelle Auszüge, in denen er sich kritisch mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien auseinandersetzt, der am Donnerstag vor 17 Jahren begann. (jW)

28. März 1999
Krieg gegen Jugoslawien. – Die FAZ radikalisiert, wie die Alldeutschen im Ersten Weltkrieg, die Ziele des Krieges. Autonomie des Kosovo genügt ihnen nicht mehr. Nun soll es herausgelöst werden aus dem Staatsverband. Derweil erscheint im Feuilleton die radikalste Kritik an diesem Krieg (Robert Menasse). Die Aufnahmefähigkeit dieser Zeitung kennt kaum Grenzen – im Feuilleton. Klugheit, gemischt mit Verachtung. (…)

Wenige Tage vor dem Angriff auf Jugoslawien erklärte der deutsche NATO-General Naumann: »Wir werden nicht dulden, dass es in Europa Krieg gibt.« Das war die Kriegserklärung, die erste in Europa seit 1945. Ähnliche Heuchel-Paradoxe sammelte Robert Menasse (»Serbische Lektionen«, FAZ, 27.3.): Der Expazifist Fischer legitimiert die Aggression mit dem Satz: »Aggression darf sich nicht lohnen.« Verantwortlich für Bomben auf Belgrad zum Schutz von Separatisten ist ein Bündnis von Ländern, die seit Jahren Separatisten bei sich als Terroristen bekämpfen: Spanien (die Basken), England (die Iren), Türkei (die Kurden) – und eines Landes, der Bundesrepublik, das es für selbstverständlich ansah, dass eine Separation mit Wiedervereinigung zu Bedingungen des Stärkeren enden muss. »Bombenflugzeuge zum Schutz der Albaner starten von den Flughäfen jenes Landes (Italien), von dessen Häfen die Schiffe mit Albanern wieder ins offene Meer geschickt werden.« Österreich lässt seit einem halben Jahrhundert den staatsvertraglich zugesicherten Anspruch der slowenischen Minderheit auf eigne Ortstafeln und slowenisch erteilten Schulunterricht unerfüllt. Im Namen der Nichtwiederholung des Weltkriegs wird der dritte herbeigeredet. Die UNO ist bereits so ausgeschaltet wie seinerzeit der Völkerbund.

Dass der Informationskreis geschlossen ist, verrät das Fernsehen, wenn es »live« in sogenannte Krisengebiete schaltet und der dortige Korrespondent auf die Frage, welche Kenntnisse er habe, sagt, »dieselben wie Sie zu Hause! Wir schauen die ganze Zeit CNN!« – Die Feuilleton-Redaktion, erschrocken ob ihrer eigenen Kühnheit, diese Äußerung abgedruckt zu haben, eskortiert sie mit einer Kritik an Handke, der den Krieg zuvor kritisiert hatte, Kritik freilich vorgeblich nicht an seiner Kriegskritik, sondern an der dabei gebrauchten Metaphorik. Handke hatte geschrieben: »Der Mars greift an, und seit dem 24. März sind Serbien, Montenegro, die Republika Srbska und Jugoslawien das Vaterland für alle, die keine Marsianer und grüne Schlächter geworden sind.«

29. März 1999
Krieg gegen Jugoslawien. – Der russische Premierminister befand sich auf dem Flug nach Washington, als ihn die Nachricht von der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO unter amerikanischer Führung erreichte. Er ließ das Flugzeug umdrehen. Der Petersburger Schriftsteller Viktor Kriwulin (»Der neue Kalte Krieg«, FAZ, 27.3.) interpretiert dies als Kehrtwende der russischen Politik und als »ebenso symbolischen Akt wie der Schuss von 1914«, der den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Primakows Befehl, die Maschine umdrehen zu lassen, ein defensiver und reaktiver Akt, erscheint nun im Organ der hiesigen Kriegstreiber (denn als solche betätigen sich die politischen Redakteure der FAZ seit Jahren) als »Erklärung eines neuen ›Kalten Krieges‹«. Kriwulins Artikel ist interessant, weil er die Dynamik der möglichen Entgrenzung des Krieges gegen Jugoslawien zeigt.

mehr:
- Der Mars greift an (in: Wolfgang Fritz Haug: Jahrhundertwende – Werkstatt-Journal 1990–2000. Argument Verlag, Hamburg 2016, 877 Seiten, 38 Euro (auch im jW-Shop erhältlich) bezahlfrei noch auf Haugs Internet-Präsenz)

siehe auch:

- Frieden muss gestiftet werden – Europas Sündenfall: der Kosovo-Krieg (Post, 24.11.2014)
- Die ehemaligen Satellitenstaaten (in: Manfred Peter, Russlands Platz in Europa [Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 94], Duncker & Humblot, Berlin, 2001, GoogleBooks, S. 117ff.)
- Selbstzerstörung als Drohung – Zur Modellierung des Kosovo-Kriegs (Bernhard Prosch, Sören Petermann in: Behnke, Plümper, Burth (Hrsg.), Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Bd. 3, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2004, GoogleBooks, S. 95f.)
- Konträre moralische Intuitionen (in: Lothar Fritze, Die Tötung Unschuldiger – Ein Dogma auf dem Prüfstand, de Gruyter, Berlin, 2004, GoogleBooks, S. 18ff.)
- Zum Erfolg verdammt, zum Scheitern verurteilt? – Zur pragmatischen Komplexität humanitärer Interventionen (Karsten Malowitz in: Münckler, Malovitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention – Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbeareitung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, GoogleBooks, S. 143)


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