Auf wenig sind deutsche Politiker so stolz wie auf das Grundgesetz. Es gilt als der Goldstandard schlechthin, als Basis deutscher Staatskunst und Bollwerk der Freiheit und des Rechtsstaats. Rund um das Grundgesetz hat sich über die Jahrzehnte eine Art Kult entwickelt, ein fester Glaube, wonach aus dieser Regelung die endgültig beste aller denkbaren Welten hervorgehe. Die sagenumwobenen "Väter des Grundgesetzes" erscheinen manchem als Heilige aus grauer Vorzeit, deren Weisheit und Unbestechlichkeit bis heute - und womöglich für alle Zeit - unerreicht bleibt.
Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist das Grundgesetz ohne Frage ein freiheitlicher und rechtsstaatlicher Höhepunkt. Dennoch enthält es gravierende demokratische Defizite, die mit den heiklen, oft ausgeblendeten Umständen seiner Entstehung zu tun haben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland militärisch von fremden Mächten besetzt und in keiner Weise souverän, sondern Spielball der großen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den USA. Die entscheidende Frage dieser Zeit war die deutsche Teilung: Hatte sie Bestand, war sie unvermeidlich, oder sollte die deutsche Politik eine vereinte Nation anstreben?
Die Westmächte mit den Amerikanern an der Spitze hatten das größte und wertvollste Stück von Deutschland unter ihrer Kontrolle und daher wenig Interesse an einem neutralen Gesamtstaat, für dessen Schaffung man der Sowjetunion Zugeständnisse hätte machen müssen. 1948, als die Beratungen für das Grundgesetz begannen, standen die Zeichen klar auf Trennung. Ein eigener westdeutscher Staat würde geschaffen werden - so wollten es die westlichen Siegermächte. In Deutschland war dieses Ziel unpopulär. Das Volk wünschte eine Vereinigung. In der sowjetisch besetzten Zone wurde dafür offiziell geworben.
Vor diesem Hintergrund fiel im Westen die Entscheidung, bundesweite Volksabstimmungen generell auszuschließen. Im instabilen Gleichgewicht der Großmächte und dem Bemühen deutscher Politiker, zwischen Besatzern, alten und neuen Eliten ihren Platz zu finden, schienen Referenden ein Risiko, insbesondere wenn die Stimmung im Volk erkennbar von den Plänen an der Spitze abwich - was so direkt natürlich nicht offen zugegeben wurde. Die in späteren Jahren beliebte Erklärung, ominöse "Weimarer Erfahrungen" seien der Grund für diese Entscheidung gewesen, (so jüngst auch wieder Bundespräsident Steinmeier) ist wenig schlüssig und erscheint vorgeschoben.
mehr:
- Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht (Paul Schreyer, Telepolis, 18.06.2018)
Schon seit Jahrzehnten bin ich ein ziemlich strikter Anhänger der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Ich habe […] immer Vorbehalte gegenüber Volksentscheiden und Volksbegehren gehabt. Der Grund dafür ist, dass viele Fragen viel zu kompliziert sind, um sie nach Gefühl und Wellenschlag mit Ja oder Nein beantworten zu können.
[Fragen an den Altkanzler: Volksbefragung, Helmut Schmidt, interviewt von Giovanni di Lorenzo, 04.11.2010]x
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