Mittwoch, 14. September 2005

Interview: Der amerikanische Traum ist ausgeträumt


05. August 2004 · Europa hat Amerika in vielerlei Hinsicht längst übertroffen - nur hat es das noch gar nicht gemerkt. Ein Gespräch mit Jeremy Rifkin über sein neues Buch „Der Europäische Traum”.


In Ihrem neuen Buch sagen Sie Europa eine vielversprechende Zukunft voraus, während Sie Amerika im Niedergang sehen. Was paßt Ihnen am amerikanischen Traum nicht mehr? Warum soll nun ein europäischer Traum an der Reihe sein?

Bis in die späten sechziger Jahre kamen sich Mythos und Realität des amerikanische Traums ziemlich nah. Kein Land war sozial durchlässiger als Amerika. Das hat sich radikal verändert. In bezug auf Einkommensgleichheit rangieren wir jetzt an vierundzwanzigster Stelle unter den Industriestaaten. Vor dreißig Jahren hätte noch jeder Amerikaner gesagt, er glaube an den amerikanischen Traum. Heute sagt ein Drittel von ihnen, sie hätten den Glauben daran verloren. Das ist erschreckend, denn der Traum war unser sozialer Kitt, der das Land zusammenhielt, und dieser Traum ist dabei zu verblassen. Zudem stellen viele seinen Kern, den materiellen, individuellen Erfolg, in Frage.

Aber warum schauen dann europäische Unternehmer so neidisch aufs amerikanische Modell?

Sie machen da einen Fehler. Die Europäische Union ist das erste transnationale Bündnis in der Geschichte, mit einem größeren Bruttoinlandsprodukt als Amerika. Um das wahre Ausmaß des Wandels zu begreifen, müssen wir die deutsche Wirtschaft mit der kalifornischen vergleichen, die britische mit der des Bundesstaats New York, die französische mit der texanischen. In jedem angeführten Fall sind die europäischen Staaten den amerikanischen überlegen. Wenn Sie die Sache so betrachten, erkennen Sie das ungeheure Potential dessen, was in Europa geschieht.

Europa sieht aber weniger eine blühende als eine unbezahlbare Zukunft und versucht sich in seiner Not eben auch an Amerika oder zumindest an dessen funktionierenden Teilen zu orientieren.

Falsch, falsch, alles falsch. Amerikaner prahlen gern, Europäer verzweifeln gern. Wenn Sie sich aber an die Wirklichkeit halten, müssen Sie feststellen, daß Europa Amerika in so bedeutsamen Bereichen wie Lebensqualität, Erziehung und Gesundheitsfürsorge schon übertroffen hat. Die Europäer müssen sich fragen: Nach welchen Werten wollen wir unser Leben führen? Wenn es nur, ungeachtet aller Risiken für die Lebensqualität, um höheres Gehalt und uneingeschränktes Wirtschaftswachstum gehen soll, kann Amerika Vorbild sein, aber nur streckenweise. Aber wir in Amerika glauben aufgrund unserer protestantischen Geschichte, daß jeder für sein Leben selbst verantwortlich ist. Wir halten uns für das auserwählte Volk. Wer unsere religiöse Inbrunst nicht versteht, kann uns nicht verstehen. Daraus beziehen wir unseren Optimismus: Was soll schon passieren, wenn wir Gott an unserer Seite haben? Ich frage mich, ob säkulare Europäer genug Hoffnung und Optimismus aufbringen, um ihren eigenen Traum, der allmählich Gestalt annimmt, zu verwirklichen.

Nun müssen Sie den Europäern erst einmal erzählen, was sie zu träumen haben.

In Europa kommen heute all die richtigen Elemente für einen radikal neuen Traum zusammen, einen Traum, der für die gesamte Welt viel attraktiver ist als der unzeitgemäße amerikanische Traum. Die Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Werten sind fundamental. So definieren Europäer Freiheit und Sicherheit völlig anders als Amerikaner, die Freiheit mit Autonomie, mit individueller Unabhängigkeit und Mobilität assoziieren und dies mit Geld zu erreichen versuchen. Für Europäer ist Freiheit nicht Autonomie, sondern Einbettung, menschlicher Beziehungsreichtum. Das ist mit der europäischen Bevölkerungsdichte, aber auch mit paternalistischen und kommunalistischen Traditionen zu erklären, Traditionen, die wir in Amerika nicht haben. Unser Traum stützt sich auf uneingeschränktes Wirtschaftswachstum, materiellen Reichtum und individuellen Fortschritt, der europäische Traum aber auf Lebensqualität, nachhaltige Entwicklung und eine nährende Gemeinschaft.

Wissen die Europäer das schon?

Nein, sie kennen zwar alle den amerikanischen Traum, haben aber keine Ahnung, wie ihr eigener aussieht. Ich habe jedoch auf meinen Reisen durch Europa eine junge Generation kennengelernt, die einen keimenden Traum hat. Er zielt ab auf Inklusivität oder dem Versprechen, niemanden zurückzulassen; auf Lebensqualität, denn Leben ist mehr als die Gehaltsabrechnung; auf kulturelle Vielfalt, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Zusammenarbeit der Völker, um global den Frieden zu sichern.

Einmal angenommen, das sei nicht nur die Projektion eines Europa wohlgesinnten Amerikaners: Wie wäre dieser Traum zu bezahlen? Für die europäische Lebensqualität fehlen doch heute schon die finanziellen Mittel.

Europa muß sich um zwei Entwicklungen Sorgen machen. Um 2020 könnten massive demographische Probleme einsetzen, weil Europäer nicht genügend Kinder zeugen. Die Geburtenrate muß darum steigen, was nicht unmöglich ist, wie Frankreich bereits ansatzweise demonstriert, und die Tore Europas müssen für einen enormen Einwandererstrom geöffnet werden. Deutschland muß als Wirtschaftslokomotive dabei die Leitung übernehmen. Es hat bewiesen, daß es die ökonomische Macht, die es hat, auch zu teilen bereit ist, und darf jetzt nicht nur Lippenbekenntnisse ablegen, sondern muß für die Einwanderung Mechanismen entwickeln. Damit keine Festung Europa entsteht, damit Kulturen nicht getrennt nebeneinander herleben und derart ein Land ins Desaster stürzen, müssen Einwanderer sozial, kulturell und politisch miteinbezogen werden. Das amerikanische Modell kann da nicht allein maßgeblich sein. Europa muß erkennen, daß es Amerika überrundet hat, weil es in der Lage war, die Marktwirtschaft, diese ungeheure Kraft unternehmerischer Kreativität und Innovation, mit Verantwortung für das soziale Wohlergehen der Gemeinschaft zu durchsetzen.

Und Amerika soll der Welt gar nichts mehr zu bieten haben?

Ich will keinesfalls den Eindruck hervorrufen, Europa sei unser neues Utopia. Europa hat Riesenprobleme, es gibt Diskriminierung, Machtgerangel unter den einzelnen Ländern, Verärgerung über die Bürokratie in Brüssel, aber der europäische Traum hat Zukunft. In einer globalisierten Welt kann kein Traum mehr Gültigkeit haben, der nur auf individuelle Lebensverbesserung abzielt. Wenn die ganze Welt an den amerikanischen Traum glaubte, würde sie sich selbst zerstören.

Das Gespräch führte und übersetzte Jordan Mejias. Jeremy Rifkins neues Buch "Der Europäische Traum" erscheint am 12. August im Frankfurter Campus Verlag.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.08.2004, Nr. 180 / Seite 33

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