Montag, 18. Mai 2009

Wir lagen vor Madagasakar

Piraten: Symptom des Kapitalismus und romantischer Mythos
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Von Gerhard Armanski


Fast täglich werden Handelsschiffe von Piraten angegriffen. Am Horn von Afrika spitzt sich die Lage zu. 79 Schiffe wurden schon im ersten Quartal dieses Jahres vor Somalias Küste überfallen. Auch im Indischen Ozean häufen sich Überfälle auf Frachtschiffe, Tanker und sogar Yachten.

Piraterie ist von jeher eine gewaltsame Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, der auf den Meeren transportiert wird. Sie nährt sich von den großen Seehandelsrouten, den Lebensadern des Kapitalismus. Das war schon bei den Piraten in der Karibik so. Zu ihrer Zeit wurden die Gold- und Perlenschätze, die den Kolonien in Südamerika abgepresst worden waren, nach Europa verschifft. Damals feierten die wilden Kerle des Kapitalismus in der Karibik Urständ. Mit zunehmendem Warenhandel blühte die Piraterie erst richtig auf. Die Zeit zwischen 1650 und 1730 galt den Piraten als goldene. Davon leben heute noch romantische oder ironische Verfilmungen, etwa mit Errol Flynn oder Johnny Depp.

Das weltbeste Piratenmuseum auf den Bahamas gibt Auskunft, wie es wirklich war. »Vaterlandslose Gesellen« schlossen mit den legendären Anführern damals regelrechte Verträge. Darin waren der Beuteanteil je nach Rang und die Entschädigung für Verwundungen genau festgelegt. Die zusammengewürfelten Mannschaften hatten kein langes Leben zu erwarten, Ärzte waren selten und sehr begehrt. Im Gegensatz zur Mär vergriffen sich die Piraten an Bord nie an »erbeuteten« Frauen; das hätte deren Wert als geldträchtige Geisel gemindert. Das Entermesser oder der Haken bildeten ihre bevorzugte Waffe. Häufig fuhr man unter falscher Fahne und ließ erst im letzten Augenblick die der Piraten steigen. Der heute bei Kinderfesten so beliebte Totenkopf war eher die Ausnahme; man bevorzugte fantasievolle Eigenprodukte um Tod und Gewalt, gekreuzte blutrote Messer oder einen Galgen, unter dem ein Schatzsack baumelte.

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Im Zeichen des aufkommenden Merkantilismus aber wollten Engländer, Franzosen und Spanier keine ungesetzlichen Übergriffe auf ihre »ordentlich« erworbenen mobilen Reichtümer mehr dulden. Sie patrouillierten in der Karibik und griffen allmählich alle Piraten auf. In wenigen Jahren waren die Seewege »gesäubert«, die Piraten endeten am Galgen oder schlugen sich mit anderen Arbeiten durch. Ihre Geschichte ist damit aber nicht zu Ende. Die Piraten wurden zu mythischen Träumen. Die historische Wirklichkeit, die meist weit weniger edel war als ihre filmischen Abziehbilder, verwandelte sich zur »großen Erzählung«. Auf Kreuzfahrtschiffen singen Passagiere zum Abschied »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord …« Das Genre spielt den wilden Mythos der Freiheit vor, wie sie der industriellen Gesellschaft verloren gegangen ist. Es mystifiziert ein soziales Außenseitertum, das Unabhängigkeit, Aggression und Sehnsucht nach grenzenloser Weite verbindet. Die andere Seite des Portlebens der Piraterie ist höchst real. Wie die Mafia wird sie zum Subsystem des Kapitalismus. Da haben wir nicht nur die aktuellen Überfälle auf Seetransporter, sondern auch die Produkt-, Internet- oder Wissenschaftspiraterie. Mit solchen Übergriffen kann das System leben, solange sie nicht überhandnehmen. Aber irgendwann hört der Spaß auf, und die »internationale Gemeinschaft« schickt sich an, in den verunsicherten Gewässern wieder Ordnung zu schaffen. ■

Gerhard Armanski, Historiker und Schriftsteller, ist häufig selbst auf den Weltmeeren unterwegs.
aus Publik-Forum, Nr. 9 • 2009

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