Mittwoch, 18. Juni 2014

Man kann’s ja mal probieren…

Da habe ich einen Patienten, dem wurde gekündigt. Nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit und 20 Jahre im Betriebsrat. Begründung des Arbeitgebers: Die Arbeitsplätze fallen weg. Mit 83 anderen wanderte er in eine Auffanggesellschaft, in der die Leute für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden sollten. Diese Maßnahme wurde mit öffentlichen Geldern – u.a. EU-Geldern – bezuschußt. Während des Jahres in der Auffanggesellschaft wurden die Leute an Word und Excel fit gemacht, und in Rollenspielen wurden sie fit für Bewerbungsgespräche gemacht. Wenn ich das richtig im Kopf behalten habe, gab es unter den 84 Leuten ein halbes Dutzend Herzinfarkte, ein halbes Dutzend Scheidungen und zwei Suizidversuche. Während die 84 in der Auffanggesellschaft fit gemacht wurden, warb der Arbeitgeber – der sich keinesfalls in einer finanziell prekären Situation befindet –, in Anzeigen um Zeitarbeitskräfte. In den Verhandlungen vor Überwechseln in die Auffanggesellschaft gab die Trainingsfirma ihre Vermittlungsquote mit 80 Prozent an. Von den 84 machte sich einer selbständig, ein anderer fand Arbeit.
Vor etwa zwei Monaten erklärte der Arbeitsrichter die Kündigung für rechtens. Ein ziemlich hohes Tier in dieser Institution erklärte die Gekündigten zu Querulanten. Kurz vor Pfingsten entdeckten einige der 84 – sie begleiteten eine Kollegin zu einem Termin beim Arbeitsgericht – einige Müllsäcke mit nicht geschreddertem Inhalt: die Prozessunterlagen der 84… 
Am Abend, als die Müllsäcke immer noch da standen, holte einer der 84 nach Rücksprache mit dem sie vertretenden Rechtsanwalt die Müllsäcke ab und stellte sie sicher. Jetzt wirft ihnen das hohe Tier in der Justiz vor, ständig vor dem Gericht herum zu lungern, und sie hätten die eigenen Unterlagen aus dem Gebäude entwendet…

Von einer Krankenkasse kam dieser Tage eine Anfrage. Wohlgemerkt: nicht vom Medizinischen Dienst, wo speziell geschulte Ärzte sitzen, sondern von irgendeinem Mitarbeiter der Krankenkasse. Auf der ersten Seite wird mir mein Ansprechpartner genannt, unterschrieben ist das Schreiben von jemand anderem, von dem ich noch nicht mal weiß, wer das ist. Noch nicht einmal eine Schweigepflichtsentbindung ist beigefügt.
Auf der zweiten Seite soll ich dann angeben, wieviele Stunden ich mit dem Patienten bisher abgehalten haben, wie oft er kommt und wie ich den Therapieverlauf einschätze. Wenn ich das Formular ausgefüllt zurückschicken würde, erhielte irgend ein Nichtmediziner – wahrscheinlich also eine Bürokraft der Krankenversicherung – intime Informationen über den Patienten…
Abgesehen von der Beleidigung meiner Intelligenz und meiner Integrität wäre damit das informationelle Selbstbestimmungsrecht meines Patienten in allerhöchstem Maße verletzt, und ich behaupte, noch vor 20 Jahren hätte keine Krankenkasse gewagt, eine solche Anfrage an einen Arzt – geschweige denn an einen Psychotherapeuten – zu richten. Aber man kann’s ja mal probieren, die Zeiten ändern sich…

Ich frage mich ernsthaft, wie die Menschen da noch Vertrauen in unsere Institutionen haben sollen!

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