Sonntag, 26. Oktober 2014

Aufklärung in Ägypten

Was ist Aufklärung? Die Philosophin Susan Neiman reist nach Ägypten und trifft dort auf lauter Menschen, die in Ehren halten, was der Westen schon fast vergessen hat. Der jüngste Gewaltausbruch zwischen Christen und Muslimen ist für das Land nicht charakteristisch.

Im April brach ich auf, um in Ägypten zu erkunden, was Aufklärung ist. Als Philosophin, die sich seit Langem mit der Aufklärung beschäftigt, wollte ich wissen: Wie sieht sie aus in Kairos staubigen Straßen? Oder, von heute aus gefragt: Sind die jüngsten Nachrichten aus Kairo über die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen der charakteristische Ausdruck für ein Land im Umbruch? Ich glaube eher nicht.

Was ist Aufklärung? Die Philosophin Susan Neiman reist nach Ägypten und trifft dort auf lauter Menschen, die in Ehren halten, was der Westen schon fast vergessen hat. Der jüngste Gewaltausbruch zwischen Christen und Muslimen ist für das Land nicht charakteristisch.

»Kant hat mein Leben verändert«, sagt Amr Bargisi, Programmleiter der »Ägyptischen Union der liberalen Jugend«. Als ältester Sohn, dem es oblag, den wirtschaftlichen Status der Familie zu festigen, hatte er Ingenieurwissenschaften studiert, doch seine Kant-Lektüre überzeugte ihn davon, dass er sein Leben nicht auf instrumentelle Erwägungen gründen wollte. Er verlegte sich auf ein Studium der Politischen Philosophie an der Ain-Shams-Universität in Kairo, um anschließend mit einem Doktorandenstipendium an die Universität von Chicago zu gehen. Amr glaubt, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis Ägypten die Art von gebildeter Öffentlichkeit hervorgebracht hat, die eine liberale Demokratie ermöglicht. »Nehmen wir einmal an, ich wäre Alexander Hamilton«, sagt Amr. »Ich würde immer noch meinen Thomas Jefferson brauchen, meinen James Madison, meinen Benjamin Franklin und sogar meinen Elbridge Gerry.« Kleinlaut räume ich ein, dass ich nicht weiß, wer Elbridge Gerry war. »Niemand weiß das«, erwidert Amr, der sich taktvoll jeden Anflugs von Selbstgefälligkeit enthält. »Er war es, der die Verfassung nicht unterzeichnete, weil sie keinen Grundrechtekatalog enthielt.«

mehr:
- Philosophin Susan Neiman – "Kant hat mein Leben verändert" (Susan Neiman, ZEIT, 12.05.2011)

Mein Kommentar:
Susan Neiman ist Direktorin des 1993 gegründeten Einstein-Forums in Potsdam.
Ich bin verblüfft, wie positiv und zuverischtlich die US-Amerikaner immer sind. (Seit Jahren kann ich mich nicht entscheiden, ob sie dafür beneiden oder mir das Angst machen soll…) Wenn man aber herausfinden würde, was seit 2011 nicht funktioniert hat da unten in Ägypten, könnt man wohl einige wichtigen Dinge verstehen… Was im arabischen Frühling nicht funktioniert hat (bzw. funktioniert hat, je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtet), könnte sich möglicherweise in der Ukraine wiederholen…

einige Ausschnitte aus Lettre-Artikeln, die sich direkt oder indirekt mit dem Arabischen Frühling befassen:

Was geschah in Libyen? (Hugh Roberts, LI 95, Winter 2011)
Das arabische Erwachen und die Militärintervention der Schutzmächte
- Und nach den Tyrannen? (John Bornemann, LI 98, Herbst 2012)
Macht, Verwandtschaft und Gemeinschaft in der Arabellion
- Der Geist der Empörung (Heinz-Norbert Jocks, LI 100, Frühjahr 2013)
Ein Gespräch mit Stéphane Hessel wenige Monate vor seinem Tod
- Bühnenmütter (Elif Batuman, LI 100, Frühjahr 2013)
Frauen gründen ein Theater und ziehen mit Shakespeare durch Anatolien
- Ägypten ohne Revolution (Hugh Roberts, LI 102, Herbst 2013)
Das Militär erobert das Zentrum der politischen Macht zurück
1989 als Weltereignis (Jacques Rupnik, LI 104, Frühjahr 2014)
Die große Transformation in Europa und die Globalisierung
- Buch des Brokats (Siham Bouhlal, LI 105, Sommer 2014)
Raffinement und Eleganz in der frühen arabischen Kultur
Rätsel des Buches (Suleiman Mourad, Perry Anderson, LI 106, Herbst 2014)
Zur Geschichte des Korans und der historischen Dynamik des Islams



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