Montag, 2. März 2015

Politik ohne Volk

Das Verhältnis vieler Bürger zur Politik ist gestört: Die einen verachten die Regierenden, die anderen haben längst mit ihnen abgeschlossen. Die Cicero-März-Ausgabe geht diesem Phänomen auf die Spur

Edward Clare, britischer Premierminister in Sue Townsends Politposse „Number Ten“, kommt nach einer Befragung im Parlament von Westminster zu einer erschütternden Erkenntnis: Er habe den Kontakt mit dem wahren Leben der Leute verloren, klagt er dem Bobby, der seit ewigen Zeiten den Eingang seines Amtssitzes bewacht. „Ich bin seit Jahren nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und habe genauso lange keinen Liter Milch mehr gekauft oder auf eine Behandlung im staatlichen Krankenhaus gewartet.“ Ob ihn seine Berater nicht in Kontakt mit der Wirklichkeit hielten, fragt der Bobby. Darauf Clare, dem Vorbild Tony Blair nicht nur phonetisch ähnlich: „Die leben doch in der gleichen Blase wie ich, Jack!“

Abgehoben, entkoppelt, weit weg von der Wirklichkeit und ihren Problemen: Diesen Eindruck haben viele Menschen vom Politikbetrieb. Das Raumschiff Berlin zieht seine Kreise in einem eigenen Orbit. Die Besatzung aus Politikern und Hauptstadtjournalisten wird als kungelnde Einheit wahrgenommen, als politisch-publizistischer Komplex. Presse und Politik? Alles eine Bagage! Ein grober Vorwurf, der uns aber nachdenklich machen sollte.

Was läuft schief? Für die Titelgeschichte dieser Ausgabe ist ein Reporterteam von Cicero ausgeschwärmt in die zwei Welten, die nicht recht zueinanderfinden. Von einer Hamburger Hafenkneipe übers Berliner Kanzleramt bis zu einem Milchwirt im Allgäu. Wir haben mit Wählern gesprochen, die nicht mehr wählen wollen, und Angela Merkel dabei beobachtet, wie sie neben Ukrainekrise und Griechendrama versucht, in zwei Stunden dem wirklichen Leben der Menschen auf die Spur zu kommen. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellt sich im Interview der Frage, weshalb es diese Distanz zwischen den Repräsentanten im Parlament und den Repräsentierten im Land gibt, was Politiker dagegen tun können und was das Pegida-Phänomen darüber aussagt.



mehr:
- Politik ohne Volk (Christoph Schwennicke, Cicero, 25.02.2015)

Ottfried Fischer - Höhlengleichnis [6:40]

Hochgeladen am 02.06.2009
Ottfried Fischer am Aschermittwoch der Kabarettisten 2009

In der Medizin oder der Psychologie bedeutet, so sagt uns Wikipedia, eine »Störung« eine erhebliche Abweichung im Erleben oder Verhalten (Störung, Wikipedia)
In der Physik wird der Begriff »Störung« verwendet, um einen Einfluß von außerhalb des Systems zu beschreiben  (Störung, Wikipedia)
Bleiben wir bei der Psychologie: Stavros Mentzos hat eines der wenigen Lehrbücher der Psychotherapie geschrieben, welches ich ganz gelesen habe: »Lehrbuch der Psychodynamik«, Untertitel: »Die Funktionalität der Dysfunktionalität psychischer Störungen« (Googlebooks). Hier wird es allmählich wärmer: Das scheinbar »Gestörte« funktioniert nach Mechanismen, die uns nicht so leicht zugänglich sind. Es scheint Einflüsse auf das Geschehen zu geben die (so die physikalische Definition) von außerhalb des Systems her kommen, und – für uns – unerwartete Wirkungen zeigen. Mein Supervisor Scherf meinte immer: »Wenn ein Blitz aus heiterem Himmel kommt, stimmt was mit der Wetterbeobachtung nicht.«

Die Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 gab Beobachtern die Möglichkeit, Sterne zu photographieren, die zu diesem Zeitpunkt sehr nahe bei der Sonne standen. Auf den Aufnahmen erschienen die Sterne gegenüber ihrem »normalen« Position verschoben.
Was in diesem Fall als »Störung« interpretiert werden könnte (also eine Differenz zwischen dem Erwarteten und dem tatsächlich Beobachtbaren), war damals der Beweis für die Richtigkeit der Einsteinschen Voraussagen in der Allgemeinen Relativitätstheorie: Lichtteilchen werden aufgrund ihrer Masse von der Sonne abgelenkt. (Annus mirabilis, Wikipedia)

Einen Schritt zurück:
Die Verwendung des Begriffs »Störung« in der Physik beinhaltet das Verstehen bestimmter Abläufe als durch eine begrenzte Anzahl von Faktoren beeinflußte Zustandsveränderung.
Das Erste Newtonsche Gesetz lautet: 
»Ein Körper verharrt im Zustand seiner Bewegung, so lange keine äußere Kraft auf ihn einwirkt.« 
Wenn wir also eine Kugel auf einer idealen Oberfläche (also ohne Reibungsverlust) rollen sehen, und sie macht eine Kurve, dann kann man dies als »Störung« verstehen. Dann wirkt etwas von außerhalb des Systems auf die Kugel. Mit »System« ist in diesem Fall die Anzahl derjenigen Objekte und Kräfte gemeint, die wir – in unserem inneren Modell des Versuches - als wirkend ansehen.

Übertragen auf die Psychologie: Bei dysfunktionalem Verhalten führt das Verhalten zu anderen als den intendierten bzw. erwarteten Ergebnissen. Homosexualität ist eine Ausrichtung in Bezug auf mögliche Sexualpartner, die für »normale« Menschen unerwartet ist. Machen wir uns bewußt: in wenigen Tagen jährt sich die Streichung des sogenannten Schwulenparagraphen 175 StGB zum einundzwanzigsten Mal: der Bundestag strich ihn am 15. März 1994 (20 Jahre Abschaffung §175 – Homosexualität: Ein Paragraf verschwindet, Abendzeitung, 11.06.2014). Bevor wir in Sochi Putin die buntlackierten Fingernägel zeigen (Bunte Fingernägel unerwünscht: Sotschi, der Sport und die Politik, Politik im Spiegel, 08.02.2014), erinnern wir uns: Noch 1962 hatte der der unter Konrad Adenauer vorgelegte Regierungsentwurf eines Strafgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland[18] die Aufrechterhaltung des § 175 wie folgt gerechtfertigt:
» Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde« (Wikipedia, § 175, Entwicklung in der alten Bundesrepublik) 
Noch Ende der 80er Jahre wurden Schwule in Deutschland nicht zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen!

Zurück zur Physik: »Störung« bedeutet also, daß in unserem inneren Modell eines Versuchsablaufs nicht alle Wirkfaktoren enthalten sind. Wären sie dies, gäbe es keine Störung (also kein unerwartetes Verhalten). Die physikalische Verwendung des Begriffs »Störung« als eines Einflusses von außerhalb des Systems meint somit nicht das System da draußen in der Welt, sondern das Bild, welches wir von dem System im Kopf haben.Konkret: Wenn sich ein System anders verhält, als wir das erwarten, fehlt in unserem inneren Model des (äußeren) Systems mindestens ein Wirkfaktor.
Unsere neue Definition von »Störung« könnte also dann lauten »›Störung‹ bezeichnet die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem erwarteten Geschehen.«
Die Realität ist nie das Problem. Das Problem sind immer nur wir (bzw. unsere inneren Blder), die entweder unrealistische Erwartungen (Löwe und Zebra sitzen gemeinsam am Lagerfeuer und mampfen am Spieß gebratene Marshmellows) oder nicht alle Wirkfaktoren auf dem Schirm haben.
Kurz zur Homosexualität: in den 20er Jahren wurde die Strafbarkeit homosexueller Handlungen mit dem Schutz der Volksgesundheit begründet.
In gestörten Familien finden wir Psychotherapeuten häufig einen sogenannten »Symptomträger«. Magersüchtige z.B. können solche Symptomträger sein. Die Systemischen Therapeuten sagen: »Das Problem ist eine Lösungsstrategie.« So verstanden wäre die psychosomatische Erkrankung des Symptomträgers der Versuch, die Störung (siehe Sündenbock, Begriffsherkunft, Wikipedia) einzugrenzen und zu isolieren. Ähnlich wie bei Angstanfällen wir die unangenehme Energier im Gesamtsystem an einem bestimmten Punkt entladen, und die Aufmerksamkeit wird auf den Entladungsvorgang gerichtet (und somit von der »Krankheit« als solcher abgelenkt).

Zurück zu dem Cicero-Artikel:
Der Artikel geht davon aus, dass in der Beziehung zwischen Politikern und dem Volk etwas schief läuft, dass etwas in der Beziehung zwischen »Raumschiff Berlin« und dem Volk »gestört« ist. Anscheinend verhält sich das Volk desinteressiert. Man stelle sich zwei Fußballmannschaften vor, und eine spielt nicht mit, und man fragt sich, weshalb dies so ist. Zu unserer Vorstellung von funktionierender Demokratie gehört, dass die beiden Mannschaften miteinander (bzw. gegeneinander) spielen. Wenn die Mannschaft des Volkes das Mitspielen verweigert, gibt es in der Demokratie ein Problem.
Ich habe gerade einen Patienten in Therapie, der das Mitspielen in der Familie verweigert. Die unausgesprochene Forderung von Seiten der Familie an mich als den Therapeuten lautet: »Mach, dass er wieder funktioniert«. Für mich ist völlig klar, dass der junge Mann nicht funktionieren will. Und als Patientenversteher ist es erst einmal meine Aufgabe, den jungen Mann zu verstehen. Sein »dysfunktionales« Verhalten hat eine Funktion, über die ich mir noch nicht im Klaren bin. Aber ich bin mir sicher: das gemeinsame Unbewusste der Beteiligten sieht dies im Moment als die beste Lösung zur Stabilisierung des Systems an. Möglicherweise ist ja das Desinteresse der Bevölkerung am politischen Geschehen etwas, dass das gemeinsame Unbewusste als die beste Strategie zur Stabilisierung des Systems ansieht. Diese Stabilisierungsstrategie ist nur auf der Oberfläche etwas, das »schief« läuft. Möglicherweise ist dies sowohl für das »Raumschiff Berlin« wie auch für die freiheitlich-demokratische Bevölkerung Deutschlands das ca. zurzeit Beste, was getan werden kann und Ausdruck der unbewussten Wünsche der Beteiligten.
An diesem Punkt Sind meine psychotherapeutischen Fantasien gefragt: möglicherweise ist es für die Funktionsfähigkeit des Raumschiffes am günstigsten, wenn die Regierten desinteressiert sind. Wir desinteressiert ist, stört nicht (siehe: Stuttgart 21). Der wiederkehrende hohe Aufwand (finanziell und organisatorisch) bei den Transporten der Castor-Behälter ist für die Regierenden wahrscheinlich sehr aufwändig und frustrierend. In diesem Fall wäre es wohl tatsächlich einfacher, die Atomkraftgegner wären desinteressiert. In diesem Fall würde das Volk stören. Wenn man sich das Fußballspiel folgendermaßen vorstellt: auf der einen Seite spielt die Mannschaft »Volk«, und der Gegner wäre die Mannschaft »Flash« (also eine Mannschaft aus Spielern, die sich blitzschnell bewegen können, vielleicht auch (wie bei bei »Predator«) sich zeitweilig unsichtbar machen können, dann wäre der Grund dafür, dass die Mannschaft »Volk« nicht mitspielt, der, dass ihre Spieler aufgrund der Übermacht des Gegners und seiner übermächtigen Möglichkeiten völlig frustriert sind, weil es keine realistische Möglichkeit gibt, gegen diesen Gegner zu bestehen. Als bei den Demonstrationen damals in Stuttgart Demonstranten von Wasserwerfern blind gespritzt wurden, hatte ich sofort die Fantasie: »Jetzt herrscht so große Angst, die demonstrieren so schnell nicht wieder.« Wenn wir als Bild des Problem-Modells statt einem Fußball-ein Volleyball-Spiel nehmen und annehmen, dass der Mannschaft »Volk« der Blick auf das gegnerische Feld verwehrt ist, wäre dies ein möglicherweise noch eindrucksvolleres Modell: wie soll man sich gegen Bälle wehren, die mit großer Wucht quasi aus dem »Nichts« kommen?


siehe auch: Aus Angst vor der Mafia? Fünf Eigentore in den letzten vier Minuten!
 (Blick.ch, 31.10.2014)
Die Schlussphase beim Spiel zwischen Sleman und Pemarang in Indonesien verläuft eher unkonventionell .
Was ist denn hier los?
Noch vier Minuten sind zu spielen beim Playoff-Spiel der indonesischen First Division (dritthöchste Liga) zwischen PSS Sleman und PSIS Semarang. Es steht 0:0.
Und dann fallen plötzlich noch fünf Tore – und erst noch alles Eigentore!


Was ist denn hier los? Noch vier Minuten sind zu spielen beim Playoff-Spiel der indonesischen First Division (dritthöchste Liga) zwischen PSS Sleman und PSIS Semarang. Es steht 0:0. Und dann fallen plötzlich noch fünf Tore – und erst noch alles Eigentore!

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