Mittwoch, 25. November 2015

Perversionen: Ökonomie in der Krise

Im vierten Teil unserer Serie «Ökonomie in der Krise» kommt der Freiburger Ökonom Reiner Eichenberger zu Wort – mit einem flammenden Plädoyer für die modernen Wirtschaftswissenschaften. Natürlich gibt es in der modernen Ökonomik viel widerlich abstraktes und unbrauchbares Zeug. Trotzdem zielt die gängige Ökonomiekritik grossteils daneben. Die Kritik basiert auf mindestens sieben Missverständnissen:
mehr:
- Spezialisten für perverse Anreizwirkungen (Reiner Eichenberger, Tagesanzeiger.ch, 16.04.2012)

Aber an diesem Glück stimmt was nicht. Glück ist nicht ohne weiteres simuliertes Glück und Glück der Simulation. Es muss gefragt werden was es heißt, Glück und Simulation so eng miteinander zusammen zu bringen kann diese nahezu distanzlose Annäherung beider nur deswegen gelingen, weil sich dadurch die Menschen erlöst glauben? Weil sie erlösende Entlastung von der Mühsal des Lebens dahinter wittern? Sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Kindheit, wie sie hier die eben aufgeführten Antworten auf die inbrünstigen Fragen des Lebens prätendieren? Eine Kindheit unter einem Apfelbaum, dessen Früchte zu pflücken und von ihnen zu essen der Befehl Gottes ist? Des Gottes des Profanen, der nichts mehr verwehrt? Zumal der Anblick der Nacktheit nicht wie bei Adam und Eva Schaum erzeugt, sondern genossen werden soll, wie das die Pornographie auf Glanzdruckseiten unter Beweis stellt? Ist dieser Lösung also auch – und vielleicht sogar ganz bevorzugt – eine zur Schamlosigkeit? Die Erlösung zur Schamlosigkeit der Kindheit, von der die Menschheit nach der Austreibung aus dem Paradies wohl immer träumte? Also in dieser Hinsicht die Erlösung von einem tiefen »Unbehagen«, das freut einmal das »Das Unbehagen in der Kultur« (Siegmund Freud 1930, S. 419 ff.) nannte? Steckt also hinter dem simulierten Glück bzw. dem Glück der Simulation der Wunsch, die Mühen und Folgen des Zivilisationsprozesses hinter sich zu lassen und somit die Überzeugung, nur das durch diesen Prozess doch nicht geformte Kind sei des wirklichen Glücks teilhaftig? Kind sein und Glück Reihen zu empfinden ließen ursprünglich und unlösbar ineinander? Hängen Glück und Simulation also durch die Utopie des Kindes miteinander zusammen?

Stimmt dies, dann wäre das Glück der Simulationen an eine ganz erhebliche Regression gebunden, dann wäre es – folgte man dem psychoanalytischen Verständnis – eine Perversion. Dann wären die Antworten, die das Kapital auf die einst inbrünstig vorgebrachten menschlichen Fragen gibt, so überaus erleichternd, weil sie den zivilisatorisch einst gehemmten (wenn auch nicht versperrten!) Weg zum Ausleben einer Perversion öffneten und jede Scham darob delegitimierten. Dann wäre das Kapital deswegen psychisch so überaus Wirkung mächtig, weil es mit der Macht seiner Herrschaft dem Zivilisationsprozess seine Legitimation streitig machte.

Das würde dann aber auch heißen, dass die Macht des Kapitals über die Seelen u. a. darin besteht, dass es mit der Macht der Perversion korreliert. Die Macht des Kapitals und die Macht der Perversion – beides 1. Und der Gott des profanen und zugleich profane Gott wäre der Gott der Perversionen; aber nicht nur das, sondern zugleich ein perverser Gott. Einer, der mit dem kindlichen seine Unzucht treibt und die Sehnsucht danach unbarmherzig ausnutzt.

Aber die Bedingung der Möglichkeit des Glücks der Simulation ist ja die Fügsamkeit in die Erfordernisse der Kapitalakkumulation ohne Wenn und Aber! Die conditio sine qua non dieses Glücks ist also die Bereitschaft, die eigene Arbeitskraft – wenn es denn geht – bis zur Neige auszubeuten. Die Simulation des Glücks täuscht also darüber hinweg, dass des Glückes nur teilhaftig wird, wie sich den Mühen der Arbeit mit Freude unterzieht und seiner »Knechtschaft« zustimmt, wir also bereit ist, durch und durch und nichts als »Knecht« zu sein. Ein »Knecht« allerdings, der – wie beim Arbeitskraft Kapitalisten der Fall – das Privileg besitzt, wie der »Herr« über sich frei zu bestimmen. Aber im Gegensatz zum tatsächlichen »Herren« zum Zwecke der Ausbeutung seiner Arbeitskraft. Was heißt: Die Simulation des Glücks täuscht einerseits über ihre Grundbedingungen hinweg Oma nämlich die »Knechtschaft«, und sie täuscht andererseits die »Knechte« Selbst bezüglich ihrer »Knechtschaft«. Woraus folgt: Die Simulation des Glücks ist nicht nur an eine erhebliche psychische Regression gebunden, sondern auch an die Täuschung der »Knechte«, sie wären durch die finanzgetriebene Kapitalakkumulation das Brandmal ihre »Knechtschaft« los. Dass diese Täuschung eine den Nazismus zutiefst befriedigende Selbsttäuschung ist, macht sie zu einem außerordentlich belastenden ideologischen Alb.

Der finanzgetriebene Kapitalismus erzeugte auf breiter Linie das falsche Bewusstsein (die Ideologie), durch ihn wäre die »Knechtschaft« beendet, durch ihn wäre der Kapitalismus als Ausbeutungssystem aufgehoben und durch die freie Fruchtgenuss der Finanztitel abgelöst. Durch diesen Erzeugungsmechanismus des unbeschwerten Glücks auf Erden an dem alle teilhaben könnten. Alle Menschen seien potentielle share-holder dieses Glücks und nicht mehr nur oder eigentlich gar nicht mehr zur Ausbeutung bestimmte und zu gerichteter Arbeitskräfte. Was der finanzgetriebenen Kapitalismus vorgibt, ist der Anschein, als sei es gelungen, ohne reale Bedingung der »Knechtschaft« dieselbe auf zu heben, also unter der Bedingung globalisierten und ökonomisch effektiverer »Knechtschaft« etwas anderes zu sein als eine Art desselben. Nämlich stattdessen eine Weise der Vergesellschaftung, die sich durch Selbstbestimmung auszeichnet wie keine zuvor. Eine Gesellschaft, die den Glücksverheißungen des ehemaligen Sozialismus die passende Antwort gegeben habe. Dass nämlich die Aktionen der »invisible hand« (Adam Smith) des Marktes die Selbstbestimmung der Menschen ermöglichten und nicht die politische Regulation der Produkt Produktionsverhältnisse im Namen einer in Wirklichkeit der nichts anderen als »totalitären« »Vernunft«.

(aus: Täuschung und Simulation des Glücks, in: Friedrich Voßkühler, Subjekt und Selbtbewusstsein – Ein nicht mehr unzeitgemäßes philosophisches Plädoyer für Vernunft und soziale Emanzipation, Königshausen & Neumann, 2010, S. 43 f., GoogleBooks)

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