Kommt Ihnen das bekannt vor? Deutschland braucht "Reformen", und für die europäischen Nachbarn gilt das erst recht, denn die haben ihre "Hausaufgaben" nicht gemacht. Dem "Steuerstaat" müssen wir endlich mit "Bürokratieabbau" zu Leibe rücken, um die "Eigeninitiative" zu stärken, was wiederum ganz sicher der "Wettbewerbsfähigkeit" dient – genauso wie die Senkung der "Lohnnebenkosten".
Und so weiter und so fort. So klingt es, wenn die regierenden Politiker, die Lobbyisten und manche Journalisten zu uns sprechen. Sie reden in einer Art Ikea-Sprache: jede Floskel ein vorgefertigter Bausatz. Sie gaukeln uns auf diese Art etwas vor: Wenn Politiker "Reformen" sagen, geht es meistens um Lohnverzicht und Rentenkürzung. Den "Steuerstaat" prangern sie an, wenn sie Spitzenverdiener und Vermögende vor einer angemessenen Beteiligung an der Finanzierung des Gemeinwohls schützen wollen.
"Bürokratieabbau" heißt übersetzt Abbau des Kündigungsschutzes oder Verzicht auf Kontrolle, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und -bedingungen. Die "Eigeninitiative" kommt ins Spiel, wenn die Kosten der Daseinsvorsorge, etwa für Gesundheit und künftige Renten, immer stärker auf uns Bürgerinnen und Bürger abgewälzt werden sollen. "Wettbewerbsfähigkeit" bedeutet, in klares Deutsch übersetzt, einen internationalen Wettlauf um Kostensenkungen für Unternehmen – zum Beispiel bei den "Lohnnebenkosten", deren Senkung zwangsläufig mit dem Abbau sozialer Leistungen verbunden ist.
Sollten Sie den ganzen Politsprech nicht mehr hören wollen, dann ist das verständlich, aber nicht zu empfehlen. Denn hinter der Formelsprache der Regierenden verbergen sich, sorgfältig verklausuliert, sehr konkrete Inhalte, Ideologien und Ziele. Das gilt ganz besonders in den Bereichen Wirtschaft sowie Finanz- und Sozialpolitik – von Börse bis Rente, von Arbeit bis Zins.
Was meinen die Mächtigen, ohne es zu sagen, wenn sie uns ihre "Gute-Macht-Geschichten" erzählen? Wer die Codes der Macht nicht durchschaut, wird sich auch nicht wehren können, wenn es notwendig ist. Es ist nicht immer einfach, die wirkliche Bedeutung zu erkennen, die hinter dem Wörternebel von Politikern, Interessenvertretern und ihren Gefolgsleuten in der Wissenschaft zu verschwinden droht. Und deshalb schalten viele Menschen – verständlicherweise, wie gesagt – auf Durchzug. Sie halten sich an den Soziologen Niklas Luhmann, der für diese Sprache den Begriff "Lingua Blablativa" geprägt hat, und hören einfach nicht mehr zu.
So leicht sollten wir es der herrschenden Politik allerdings nicht machen. Denn was Politiker und ihre ideologischen Stichwortgeber wirklich meinen, das kann jeden und jede von uns direkt und im Zweifel existenziell betreffen. Das tut es zum Teil bereits – siehe nur den stetigen Abbau bei der gesetzlichen Rente, die ungerechte Verteilung des Reichtums oder die einseitige Sparpolitik des Staates. Wenn wir wissen wollen, was die herrschende Politik mit uns vorhat, werden wir nicht daran vorbeikommen, ihre Formeln zu entziffern.
mehr:
- Die Floskeln der Macht (Daniel Baumann, Stephan Hebel, Telepolis, 31.03.2016)
siehe auch:
- Medien: intellektuelle Korruption in Konfliktzeiten (Post, 06.02.2016)
- Deutschlands Hypnotherapeutin Nr. 1 und das Herstellen von Alternativlosigkeit (Post, 18.01.2016)
- Unsere Welt besteht aus Geschichten (Post, 17.12.2015)- Es geht nicht um Wahrheit, es geht nicht um Moral, es geht um Zeitvorsprung (27.12.2015)
- Realität ist, was wir glauben wollen oder Hirnströme von Friseurpuppen (29.08.2013)
- Wir geben ihnen Macht 1 (14.03.2013)
- Der Ukraine-Konflikt 2 – Über unterschiedliche Meßlatten und die Verwendung von Sprache am Beispiel der Homosexuellen-Gesetzgebung in Deutschland und des israelisch-palästinensischen Konflikts (21.03.14, zuletzt aktualisiert am 03.09.2014)
- Der Ukraine-Konflikt 5 – Die Nagelprobe des Journalismus (Post, 21.04.2014, zuletzt aktualisiert am 29.10.2014)
- Ukraine 9 – Wider die veröffentlichte Meinung (11.05.2014, zuletzt aktualisiert am 31.07.2014)
- Ukraine 11 – Unsere Medien: Nicht-Berichten und Sprachverdrehung und der Krieg »Reich gegen Arm« (Post, 16.05.2014, zuletzt aktualisiert am 01.10.2014)
- Ukraine 13 – Unser westliches System und die MH 17-Berichterstattung (Post, 27.07.2014, zuletzt aktualisiert am 14.09.2014)
siehe hier das Interview mit Sabine Schiffer
- Ukraine 9 – Wider die veröffentlichte Meinung (11.05.2014, zuletzt aktualisiert am 31.07.2014)
- Ukraine 11 – Unsere Medien: Nicht-Berichten und Sprachverdrehung und der Krieg »Reich gegen Arm« (Post, 16.05.2014, zuletzt aktualisiert am 01.10.2014)
- Ukraine 13 – Unser westliches System und die MH 17-Berichterstattung (Post, 27.07.2014, zuletzt aktualisiert am 14.09.2014)
siehe hier das Interview mit Sabine Schiffer
- Tendenzöse Attributierung in deutschen Printmedien: Putin vs. Obama – eine linguistische Analyse (Mirjam Zwingli, Bachelor-Arbeit, Oktober 2012 – vor der Ukraine-Krise!!)
- Ukraine 20 – ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik (Post, 18.09.2014, zuletzt aktualisiert am 04.10.2014)
- Ukraine 20 – ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik (Post, 18.09.2014, zuletzt aktualisiert am 04.10.2014)
- Ukraine 19 – Die Ukraine, korrupter Journalismus und der Glaube der Atlantiker (Post, 29.08.2014, zuletzt aktualisiert am 19.10.2014)
- Ukraine 18 – Putin als Projektionsfläche für die deutsche Sehnsucht nach dem »Starken Mann«? (Post, 23.08.2014)
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