»Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.
Dialektik der Aufklärung
Was für ein kometenhafter Aufstieg für ein erst kürzlich erfundenes Adjektiv! Vor wenigen Jahren war das Retortenwort "postfaktisch" de facto unbekannt. Der deutschen Öffentlichkeit wurde es erst im Herbst dieses Jahres von Kanzlerin Angel Merkel nahe gebracht, als sie in Reaktion auf die Wahlen in Berlin von "postfaktischen Zeiten" sprach, wie die FAZ erläuterte.
Kurz darauf wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) "postfaktisch" zum Wort des Jahres 2016. Damit schlossen sich die deutschen Sprachforscher der Entscheidung ihrer englischsprachigen Kollegen von den Oxford Dictionaries an, die kurz zuvor die englische Entsprechung "post truth" zum Word of the Year 2016 wählten. Entstanden ist das Wort erst im März 2016, als sich die Harvard-Historikerin Jill Lepore Gedanken machte über den aktuellen Aufstieg des Rechtspopulismus, dessen Anhängerschaft bekanntlich ein eher lockeres Verhältnis zu Fakten pflegt.
Das Adjektiv, das sich in den sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer verbreitete, scheint tatsächlich den Nerv der Zeit zu treffen. Die GfdS wolle damit auf einen "tiefgreifenden politischen Wandel" aufmerksam machen, der dazu führe, dass bei öffentlichen Diskussionen inzwischen Emotionen die Fakten verdrängten. "Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen 'die da oben' bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren", hieß es in der Begründung der GfdS.
Das Wort des Jahres 2016 markiert somit auch eine ideologische Frontstellung: Hier die ewigen, unumstößlichen Fakten von Aufklärung und Demokratie, die oftmals – in Gestalt der Sachzwänge – unangenehm seien, da die Irrationalität und die Lügen der Rechtspopulisten und ihres emotionsgeladenen Hassschwarms im Internet. Seiner Genese im akademischen Überbau gemäß, assoziiert der Begriff die ewigen, harten Fakten mit "denen da Oben", also mit den kapitalistischen Funktionseliten in Politik, Wissenschaft, Medien und Wirtschaft, während die Irrationalität dem ungebildeten Fußvolk zugeschrieben wird.
mehr:
- Sprache der Verdinglichung (Tomasz Konicz, Telepolis, 25.12.2016)
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